Das Danklied der Erlösten

Predigt über Jesaja 12,1‑6 zum Sonntag Kantate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wer Mark Twains Roman Tom Sawyer kennt, wird sich gewiss an die Schilderung des Trauer­gottes­dienstes für Tom und seine beiden tot geglaubten Freunde erinnern. Auf einmal tauchen die drei Jungen, die für ein paar Wochen auf einer Mississippi-Insel Piraten gespielt haben, in der Dorfkirche auf. Und wie reagiert die Gemeinde? Nach einem Moment der Stille stimmt der Pastor „Lobe den Herren“ an, und die ganze Gemeinde fällt ein – so mächtig und so freuden­voll, wie dort selten gesungen worden ist.

Das ist eine wahrhaft biblische Reaktion auf die plötzliche Rettung aus Trauer und Trost­losig­keit. Nachdem das Volk Israel durch das Schilfmeer hindurch vor der ägyptischen Armee gerettet worden war, da stimmte Mose ein Lob‑ und Danklied an, und die ganze Gemeinde fiel ein. Und nachdem Gott durch die Richter Debora und Barak das Volk Israel von der Bedrückung durch einen kanaanä­ischen König erlöst hatte, sangen sie dankbar und jubelnd ein Siegeslied. Und nachdem Hanna, die Mutter Samuels, nach langer ver­zweifelter Un­fruchtbar­keit endlich einen Sohn bekam, stimmte sie ebenfalls ein Lob‑ und Danklied an. Und als Zacharias nach der Geburt seines Sohnes Johannes wieder reden konnte, lobte und dankte er Gott mit einem Lied, das die Christen­heit noch heute in der Matutin singt.

So ist es nicht ver­wunder­lich, wenn Jesaja hier prophezeit, dass die Erlösten nacn Gottes zweiter großer Erlösungs­tat ein Danklied singen werden. Gottes erste Erlösungs­tat begründete den alten Bund; das war die Befreiung aus der ägyptischen Knecht­schaft, die Rettung durch die Fluten des Schilfmeers hindurch, die Führung und Hilfe in der Wüste sowie der Einzug und der Segen im Land Kanaan. Die zweite Erlösungs­tat ist die des neuen Bundes: die Befreiung aus der Knecht­schaft von Sünde, Tod und Teufel, die Errettung durch die Fluten der Taufe hindurch, Gottes Führung und Hilfe für das neue Bundesvolk in einer alten Welt und schließlich der Einzug der Erlösten in das himmlische Kanaan. Wenn das kein Grund zum Singen und Loben ist!

Mit dem Wort, das dieser Predigt zugrunde liegt, gibt Jesaja das Danklied für Gottes zweite und endgültige Erlösungstat wieder. Dieses Lied steht zwar nicht in den bei uns gebräuch­lichen Gesang­büchern, aber wenn es im Himmel Gesang­bücher geben sollte, dann wird dieses Lied bestimmt drin stehen – zusammen mit manchen anderen himmlischen Liedern, die uns jetzt schon durch die Offenbarung des Johannes bekannt sind.

Jesaja spricht zum Volk der Erlösten: „Zu der Zeit wirst du sagen (ja eigentlich singen, denn was folgt, das ist ein Loblied, ein Psalm): Ich danke dir, HERR, dass du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest. Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil.“ Was für ein wunderbares Lied! „Gott ist mein Psalm“, heißt es da, also: Gott ist Thema meines Liedes; für Gott singe ich; Gott singt in mir. „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heils­brunnen.“ So ermuntern sich die Erlösten, die auf dem Weg nach Kanaan sind. Sie wissen: Es ist ein köstliches und un­beschreib­lich schönes Gefühl, nach langer Wüsten­wanderung endlich an der Oase anzukommen und an ihren Wassern den Durst zu löschen. Wieviel schöner ist es an den Oasen mit Heils­brunnen – also dort, wo Jesus Christus uns mit dem lebendigen Wasser unserer Erlösung tränkt – mit Wasser, das den Durst in Ewigkeit stillt! Dann schreibt Jesaja die zweite Strophe auf, in der der Jubel vollends durch­bricht: „Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun; ver­kündiget, dass sein Name so hoch ist!“ Alle Völker sind eingeladen, aus dem Heils­brunnen zu trinken, denn die zweite Erlösung gilt nicht nur dem Volk Israel, sondern aller Welt. Und der Lärm und der Jubel der Erlösten kann in der Welt nicht ungehört bleiben. „Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! Jauchze und rühme, du Tochter Zion, denn der Heilige Israels ist groß bei dir!“

Ja, so singen die Erlösten, wie Jesaja es angekündigt hat. So singen alle, denen Gott das neue Lied ins Herz geschrieben hat, nämlich das Lied vor der Erlösung in Jesus Christus, das einst von den himmlischen Heerscharen vor den Hirten auf den Feldern Bethlehems angestimmt wurde. So singt die ganze Christen­heit durch Jahr­hunderte und Jahr­tausende hindurch, und so wird einst die große Volksmenge singen, die, gereinigt durch das Blut des Lammes, um den Thron des Herrn stehen wird. Dieses Lied ist nämlich nicht irgendein Lob‑ und Danklied, sondern es ist das Danklied der Erlösten. Fachleute des Alten Testaments haben sich über die Form dieses Liedes gewundert und dann fest­gestellt, dass es ein ziemlicher Mischmasch aus Psalmformen ist. Wenn man diese Beobachtung ins Musi­kalische übersetzt, könnte man sagen, dieses Lied ist litur­gischer Gesang, Sinfonie, Choral, Motette und Spiritual in einem. Was damit zum Ausdruck kommen soll, ist klar: Dieses Lied ist der Superpsalm, der alle Psalmen vereint. Die Erlösung des neuen Bundes stellt alles Vorherige in den Schatten; sie umfasst alle Völker, Sprachen und Rassen; sie ist endgültig; in ihr gipfelt das Heils­handeln Gottes. Und so vereinen sich auch die Loblieder aller Kultur­epochen, aller Sprachen und aller musi­kalischen Richtungen zu dem einen Danklied der Erlösten vor Gottes Thron. Das ist das „neue Lied“, das zu singen viele Psalmen uns auffordern und das mit vielen neuen und älteren Texten sowie Melodien gesungen werden kann.

Jetzt aber genug der Theorie; kommen wir zum praktischen Teil dieser Kantate-Predigt!

Da möchte ich euch ermuntern, das Danklied der Erlösten immer wieder im Munde und im Herzen zu haben. Wem das Herz voll ist von Lob und Dank, dem wird es zu wenig sein, einmal pro Woche am Sonntag­vormittag den Herrn seinen Psalm sein zu lassen. Ich empfehle deshalb unseren Singkreis, wo wir Gott mehrstimmig in Gemein­schaft loben und uns bemühen, ihm so schön wie möglich musikalisch zu danken. Aber auch an den übrigen Tagen der Woche haben wir immer wieder Gelegen­heit, Lob‑ und Danklieder zu singen. Glücklich die Familie, in der Morgen‑ und Abendlieder gesungen werden und wo geistliche Hausmusik ihren Platz hat! Glücklich der Mensch und die Familie, die zu diesem Zweck den Abschalt­knopf am Fernseher und an der Musikanlage findet!

Eine wunderbare Gelegenheit für geistliche Lieder ist auch eintönige Arbeit. Wieviel leichter geht sie von der Hand, wenn wir, statt zu seufzen oder uns durch fremde Musik berieseln zu lassen, bekannte Choräle singen, und wieviel besser steht uns das als Erlösten des Herrn an! Wenn man die Choräle nicht auswendig kennt, kann man das ganz schnell ändern. Ich selbst mache es so: Wenn bei mir der Wohnungs­putz fällig ist, dann schlage ich mir manchmal das Gesangbuch auf und lege es in eine Ecke. Dann lese ich die erste Strophe, singe sie bei der Arbeit, lese sie wieder und singe sie erneut. Das mache ich mit jeder Strophe so lange, bis ich das ganze Lied kann. Und schon habe ich dann wieder ein neues Lied gelernt, mit dem ich Gott auch ohne Textvorlage zu jeder Zeit loben kann.

Noch etwas sollten wir für unser geistliches Singen bedenken. Wilhelm Busch reimte einmal: Musik wird störend oft empfunden, / weil sie stets mit Geräusch verbunden.“ Aber gerade darin liegt die große Chance der geistlichen Musik: Unsere Lob‑ und Danklieder werden von anderen gehört; und das muss sie keineswegs stören. Im Gegenteil, wenn es schöne und fröhliche Musik ist, dann wird sie die anderen erfreuen, und sie werden sich vielleicht sagen: Was sind das doch für frohe Menschen, die Christen; was sie wohl so froh macht? Dann geschieht genau das, was auch Jesajas Lied enthält: „Machet kund unter den Völkern sein Tun! … Solches sei kund in allen Landen!“ Ja, die anderen sollen hören, dass wir Grund zum Loben und Danken haben – die Nachbarn, die Menschen in den Straßen der Stadt und auf den Wanderwegen in der freien Natur. Vielleicht können wir einige von ihnen anstecken mit unserem Danklied. Schön finde ich es zum Beispiel, wenn zu Geburts­tagen und Familien­festen viel gesungen wird: Choräle, Kanons und geistliche Volks­lieder. So kann vielleicht mancher, der Gottes Erlösung noch nicht gefunden hat, mit seinen großen Taten bekannt gemacht werden. Lieder können das oft besser als lange Dis­kussionen. Und mancher, der es verlernt hat, Gott zu loben und zu danken, kann es zu solchen Gelegen­heiten wieder neu lernen.

Was aber tun die, die nicht singen können? Sollen sie den Sonntag Kantate ausfallen lassen? Gibt es für sie kein Danklied? Doch, denn auch sie können „in ihrem Herzen“ singen, wie wir es in der Epistel­lesung gehört haben (Kol. 3,16). Sie und wir alle, die wir Gott gern noch schöner singen würden, als wir es vermögen, haben auch den Trost, der so fein in der Choral­strophe ausgedrückt ist: „Ach nimm das arme Lob auf Erden, / mein Gott, in allen Gnaden hin. / Im Himmel soll es besser werden, / wenn ich bei deinen Engeln bin. / Da sing ich dir im höhern Chor / viel tausend Halleluja vor.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1983.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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