Gottes Herrlichkeit und Gottes Verherrlichung

Predigt über Psalm 113 zum 11. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein König verfiel am Ende seines Lebens in Schwermut. Zwar hatte er vieles erreicht, aber er war traurig, weil er Gott nicht sehen konnte. Er beauftragte die Weisen seines Volkes damit, ihm Gott zu zeigen, aber die waren ratlos. Da meldete sich ein einfacher Hirte bei ihm und führte ihn ins Freie. Dann forderte er den König auf, in die Sonne zu blicken. Der König fuhr ihn an: „Willst du, dass ich mein Augenlicht verliere?“ Der Hirte erwiderte: „Aber mein König, das ist doch nur ein Ding der Schöpfung, ein kleiner Abglanz der Größe Gottes, eine kleines Fünkchen seines strahlenden Feuers. Wie willst du denn mit deinen schwachen, tränenden Augen Gott schauen?“ Diese kleine Geschichte von Leo Tolstoi gibt uns eine Ahnung, wie un­ermess­lich strahlend Gottes Herrlich­keit ist. Ent­sprechend heißt es im 113. Psalm: „Der Herr ist hoch über alle Völker; seine Herrlich­keit reicht, so weit der Himmel ist. Wer ist wie der Herr, unser Gott, im Himmel und auf Erden?“

Schau dir die Herrlich­keiten der Menschen an, ihre Dome und Kathe­dralen, ihre Kunst­schätze und Paläste, ihre Staudämme und Fernseh­türme – was sind solche stummen Zeugen mensch­licher Herrlich­keit gegen Gottes Herrlich­keit? „Der Herr ist hoch über alle Völker; seine Herrlich­keit reicht, so weit der Himmel ist. Wer ist wie der Herr, unser Gott, im Himmel und auf Erden?“ Oder steige an einem schönen Tag auf den Gipfel eines hohen Berges, atme die kristall­klare Luft, bewundere das Felsmassiv und das Tal, das spielzeug­gleich vor dir aus­gebreitet liegt, und bedenke, dass jeder Wald und jede Wiese aus Millionen kleiner Blätter und Halme besteht, jedes einzelne ein Wunderwerk des Schöpfers. Aber was ist die Herrlich­keit dieses Panoramas, dieses winzigen Ausschnitts von Gottes großer Schöpfung, gegen die Herrlich­keit des Schöpfers selbst? „Der Herr ist hoch über alle Völker; seine Herrlich­keit reicht, so weit der Himmel ist. Wer ist wie der Herr, unser Gott, im Himmel und auf Erden?“ Oder blicke in einer sternklaren Nacht in die Höhe und sieh auf das unzählbare Heer der Sterne. Bedenke dabei, dass all diese Sterne Sonnen sind, teilweise tausendfach größer oder heller als unsere Sonne, verstreut in einem un­vorstell­bar großen Raum. Was aber ist die un­ermess­liche Weite des Kosmos gegen die Herrlich­keit des Herrn dieses Kosmos? „Der Herr ist hoch über alle Völker; seine Herrlich­keit reicht, so weit der Himmel ist. Wer ist wie der Herr, unser Gott, im Himmel und auf Erden?“

Hören wir weiter, was der Psalm über diesen herrlichen Herrn zu singen weiß: „Er thront oben in der Höhe, er schaut hernieder in die Tiefe.“ Und was sieht er da, wenn er in die Tiefe schaut, wenn er auf unsere Welt herab­schaut? Staub sieht er. Und Schmutz. Und Geringe. und Arme. Beim Wort „Schmutz“ konnte dem jüdischen Beter der Aschehaufen einfallen, der im Süden Jerusalems am Misttor lag. Dort lebten die sogenannten Unreinen, die die Stadt nicht betreten durften. In kalten Nächten konnten sie sich an frischer Asche noch ein wenig wärmen. Tagsüber bettelten sie Leute an, die durch das Tor gingen. Das waren die Armen und Geringen, das waren die Asozialen und Penner Jerusalems. Heute würden sie auf Parkbänken oder unter Brücken leben. Ja, zerlumpte Gesellen sieht Gott, wenn er auf unsere Welt herab­schaut. Obwohl wir doch, die wir uns hier zum Gottes­dienst versammelt haben, saubere Kleider tragen und Bankkonten besitzen. Obwohl hier bei uns ein Hauch von Parfüm in der Luft liegt und komfortable Autos vor der Tür stehen. Denn Gott schaut „hernieder in die Tiefe“, er sieht den Dingen also auf den Grund. Er weiß, dass auch jeder Wohlstands­bürger letztlich auf einem Aschehaufen sitzt: auf dem Asche­haufen zer­schlage­ner Träume und Hoffnungen, auf dem Aschehaufen schmer­zender Leiber und Seelen, auf dem Aschehaufen zerrütteter Ehen und Familien, auf dem Aschehaufen persön­licher und inter­nationaler Konflikte. Ja, wir alle sitzen auf dem Aschehaufen dieser hungernden, kriegs­geplagten, aus­gebeuteten und verwahr­losten Welt, zu der wir den Planeten Erde gemacht haben. Jawohl, wir selbst mit unserer Sünde, denn Gott hatte die Welt einst sehr gut erschaffen. Und wenn Gott „hernieder­schaut in die Tiefe“, dann schaut er letztlich in aller Menschen Herz, auch in mein Herz und in deins, von wo die Sünde ausgeht, die Welt zu vergiften. Wenn wir das erkennen, dann sehen wir die Welt wahrhaft realis­tisch, nämlich mit den Augen Gottes: Wir sind Arme und Geringe, die in Staub und Schmutz liegen. Viele weise Leute haben das erkannt, die meisten freilich erst nach einem langen Leben. Da ist zum Beispiel die Erkenntnis des greisen Salomos: „Es war alles eitel und Haschen nach Wind“ (Pred. 1,14). Oder da sind Luthers letzte Worte: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Wie die traurigen Rand­gestalten unserer Gesell­schaft sind im Grunde wir alle – keineswegs schuldlos! – in eine beklagens­werte Situation geraten, aus der wir mit eigener Kraft nicht wieder heraus­finden.

Gott sieht auf das alles herab nicht wie ein außen­stehender Zuschauer, der sich vielleicht im Stillen sogar noch an dem Elend der Menschen ergötzt und an ihrer Dummheit, mit der sie immer wieder dieselben Fehler machen. Nein, Gott sieht uns Bettler auf dem Aschehaufen voll Mitgefühl und Barmherzig­keit an. Und er sieht nicht nur herab, sondern – o Wunder! – er steigt auch herab aus seiner Höhe der Herrlich­keit, wird Fleisch und wohnt mit uns auf dem Asche­haufen. Alle Leiden und Ent­behrungen des mensch­lichen Daseins nimmt er auf sich als armer und geringer Jesus von Nazareth. Es mag sein, dass es dir im Leben besonders schlecht geht. Es mag sein, dass dir Schmerzen zu schaffen machen, von denen ich keine Ahnung habe. Es mag sein, dass deine Seele eine Wunde hat, die ich nicht nach­empfinden kann. Aber einer kennt deine Schmerzen und kann deine Wunden nach­empfinden, wenigstens einer: Jesus, der das alles selbst durch­gemacht hat, und noch viel mehr. Es tut gut zu wissen, dass er auch in den tiefsten Tiefen des Lebens mitgeht und sagt: Ich weiß, wie dir zumute ist; ich möchte dich begleiten.

Wenn Jesus uns beisteht, dann ist das freilich kein hilfloses Beistehen, so wie es unter Menschen oft der Fall ist. Jesus steht uns in unserer Not nicht nur bei, sondern er lindert den Schmerz und hilft heraus. Jesu eigenes Leiden und Sterben war nicht nur ein Mitleiden und nicht nur eine Geste der Soli­darität, sondern er packte damit unser Arm‑ und Geringsein bei der Wurzel. Die Wurzel allen Übels aber ist die Sünde, die aus unseren Herzen kommt. Diese giftige Wurzel hat Jesus mit seinem Leiden und Sterben aus­gerottet. Tatkräftig. Wirksam. Mit ungeheuren Folgen. Die Folge ist nämlich eine völliges Umkrempeln unseres Herzens und unseres Lebens, gewisser­maßen eine Revolution. Alles wird neu, alles wird besser. Auch von dieser Revolution singt der 113. Psalm: „Er richtet den Geringen auf aus dem Staube und erhöht den Armen aus dem Schmutz, dass er ihn setze neben die Fürsten, neben die Fürsten seines Volkes; der die Un­fruchtbare im Hause zu Ehren bringt, dass sie eine fröhliche Kinder­mutter wird.“ Ganz deutlich erkennen wir diese Revolution an der Auf­erstehung Jesu von den Toten: Durch das tiefste Leiden und den Tod hindurch kommt er zu neuem Leben und wird ein Herrscher über alles – der Herr aller Herr, der Fürst aller Fürsten.

Wir aber sind durch den Glauben ganz eng mit ihm verbunden. Er ist das Haupt, wir sind seine Glieder. Durch ihn sind wir mit dem himmlischen Vater verbunden. Zu keinem König und zu keinem Präsidenten der Welt können wir ohne Vor­anmeldung ins Büro kommen und ihm alles sagen, was wir auf dem Herzen haben, aber zu Gott dürfen wir im Gebet mit allem kommen, zu jeder Tages‑ und Nachtzeit. Dabei ist er doch viel höher als alle Könige und Präsidenten mit­einander. Kein König und kein Präsident der Welt käme wohl auf die Idee, uns zu einem Fest einzuladen, aber Gott lädt uns mit jedem Gottes­dienst zu seinem Fest ein – einem wahrhaft himmlischen Fest. Zwischen uns und Gott liegt keine Hierarchie und kein Dienstweg, wir gehören alle in gleicher Weise zu ihm, hängen wir doch alle ganz unmittelbar an Christus und durch Christus am Vater. Weder Abraham noch Mose noch Paulus noch Petrus noch Luther noch unser Bischof stehen vor Gott besser da als du und ich, weil Jesus allen alles vergeben hat. Ja, uns Geringe richtet er aus dem Staub auf und erhöht uns Arme aus dem Schmutz, dass er uns setze neben Fürsten. Wir sind Kinder dieser göttlichen Revolution, und darum folgen wir Jesus auch in die Auf­erstehung nach und sind ihm sogar schon dahin nach­gefolgt. Denn als wir mit der Taufe den Glauben geschenkt bekamen, hat Gott uns zu neuem geistlichen Leben erweckt und unsere Augen geöffnet. Nun sehen wir Gottes Herrlich­keit in Gottes Wort, das unsers Fußes Leuchte ist. Im Licht von Gottes Wort sehen wir auch die Welt anders – ebenso wie eine Landschaft im strahlenden Sonnen­schein anders erscheint als an einem trüben November­tag. Obwohl wir noch auf dem Aschehaufen leben, bekümmert uns das nicht mehr. Obwohl wir die Sünde und ihre Folgen noch um uns herum und in uns spüren, wissen wir, dass Christus ihre Wurzel schon ausgerottet hat. Obwohl wir sehen, dass es den Menschen immer schlechter geht, wissen wir doch, dass Gottes Volk zu neuem Leben auferstehen wird – dann nicht nur geistlich, sondern auch leiblich. Dann werden Staub und Schmutz und Armut und Niedrigkeit vergessen sein. Dann wird Gottes Gegenwart alles mit ihrer un­vorstell­baren Herrlich­keit vergolden. Dann dürfen wir selbst ein Stück seiner Herrlich­keit sein, dürfen neben Engeln und Erzvätern, neben Propheten und Aposteln Fürsten im Himmel sein, erhoben zu Fürsten von Gottes Volk. Und dann werden wir ihn in Ewigkeit loben.

Mit Psalm 113 haben wir einen Blick darauf geworfen, wie herrlich Gott ist und wie herrlich er an uns Menschen handet. Als neu­zeitliche Mittel­europäer können wir es uns nun allerdings kaum verkneifen, ein bisschen misstrauisch zu sein. Kritisch suchen wir nach einem Haken an der Sache oder einem Haar in der Suppe. Wir trauen dem Frieden nicht recht, denn wir wissen von der Werbung: Wo etwas angeblich Perfektes angeboten wird, da wird oft ein wesent­licher Nachteil ver­schwiegen. Wir denken heimlich: Ach, wenn es doch bloß wirklich so wäre… Wir kommen mit philo­sophischen Fragen, warum Gott dies gerade so und nicht anders tut oder jenes zulässt. Wir sind angesichts der Botschaft von Gottes Herrlich­keit irgendwie befangen. Ach, dass wir umkehrten und würden wie die Kinder! Die können sich nämlich ohne Hinter­gedanken spontan freuen und sagen: Prima, Gott, dass du da bist! Prima, Gott, dass du so herrlich bist! Prima Gott, dass du uns aus der Klemme hilfst! Wie so ein fröhliches und be­geistertes Kind äußert sich auch der Psalm­dichter. Er sagt zwar nicht: Prima, Gott!, aber er sagt: Halleluja!, und das bedeutet praktisch dasselbe. Die ganze Be­schreibung von Gottes Herrlich­keit und Gottes Namen, die wir eben betrachtet haben, ist eingerahmt vom Gotteslob. Ja, so ist es richtig und gut, halleluja! Gottes Wort und die Ver­kündigung seiner Herrlich­keit sind ja nicht irgendeine Infor­mation, die man nur sachlich zur Kenntnis nimmt, sondern Gottes Wort reißt uns vom Stuhl und bringt uns zum Loben – oder es verfehlt seine Wirkung. „Halleluja! Lobet, ihr Knechte des Herrn, lobet den Namen des Herrn! Gelobt sei der Name des Herrn von nun an bis in Ewigkeit! Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn!“ Ja, amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1982.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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