Gott hat uns neues Leben geschenkt

Predigt über Kolosser 2,12‑15 zum Sonntag Quasimodogeniti

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Die Dame im Linienbus fragt den Fahrer: „Ach, können Sie mir bitte mal sagen, wo ich aussteigen muss, wenn ich zum Botanischen Garten will?“ Der Busfahrer schnauzt: „Können Sie nicht lesen? Hier steht: Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!“ Die Dame erwidert: „Tragen Sie denn Müllers Fein­strumpf­hosen?“ Der Fahrer: „Wieso? Natürlich nicht!“ Darauf die Dame: „Hier steht nämlich auf einem anderen Schild: Tragen Sie Müllers Fein­strumpf­hosen!“

Schlag­fertig ist sie, diese Dame. Darüber hinaus hat sie eine charakte­ristische Erscheinung unserer Zeit bloß­gestellt: Wir leben in einem Meer von schrift­lichen Auf­forderun­gen, Angeboten, Hinweisen, Ge- und Verboten. Man kann im Straßen­verkehr, in der Werbung und in anderen offen­sichtlichen Zusammen­hängen leicht erkennen, wie verbindlich oder un­verbindlich sie sind. Anders ist das bei tiefer gehenden Fragen, zum Beispiel: Wie werde ich glücklich; was soll ich aus meinem Leben machen; was ist der Sinn des Lebens? Da werden viele Menschen durch das breite Angebot an Ideologien, Religionen und Sekten hoffnungs­los verwirrt. Werde ich glücklich, wenn ich für mein Recht kämpfe? Oder wenn ich 8192 mal täglich „Hare Krishna“ singe? Oder wenn ich mein Leben Jesus übergebe? Der Lehrer sagt etwas anderes als die Eltern. Die Eltern sagen etwas anderes als der Pfarrer. Der Pfarrer sagt etwas anderes als der Sekten­prediger. Wem kann man trauen? Wie kann man die Wahrheit finden? Gibt es sie überhaupt, die Wahrheit, oder ist das Leben nur ein sinnloses Narren­spiel?

Ich frage jetzt euch, liebe Brüder und Schwestern: Seid ihr ganz sicher, dass ihr hier richtig seid – also dass euch gerade hier, in dieser kleinen Kirche, die richtigen Antworten auf eure Lebensfrage gegeben werden? Pflegen wir hier wirklich die einzig wahre Ideologie? Ihr zögert? Solche Unsicher­heit ist vielen Gene­rationen vor uns erspart geblieben. Der Glaube der Kirche war lange Zeit etwas Selbst­veständ­liches und bstimmte das gesamte öffentliche Wertsystem. Diese Zeit ist nun vorbei. Wenn jemand nur deshalb zur Kirche käme, um vor der bösen und verwirrten Welt die Augen zu ver­schließen und sich bei ein paar alt­ehrwürdigen Traditionen die gute alte Zeit herbei­zuträumen, dann würde er hier das Falsche suchen und eigentlich kaum etwas anderes tun, als wenn sich ein Jugend­licher mit Drogen in eine Traumwelt kata­pultiert.

Nein, vielmehr sind wir Christen aufgerufen, in dem Stimmen­gewirr der Ideologien hier und heute Stellung zu nehmen. Damit sind wir direkt beim Wort des Apostels Paulus, das wir hier betrachten wollen. Seine Zeilen wenden sich an Christen, die vor dem antiken Markt der Meinungs­möglich­keiten standen und ebenfalls verwirrt waren, weil sie nicht genau wussten: Was ist denn nun die Wahrheit und was nicht? Und was lässt sich mit der christ­lichen Wahrheit in Einklang bringen und was nicht? Wir merken: Die Situation der alten Kirche ähnelt unserer Situation im Neu­heidentum. Deshalb ist der Kolosser­brief brand­aktuell.

Paulus schreibt: „Mit ihm (Christus) wurdet ihr begraben durch die Taufe.“ Damit zerstört er durch einen wuchtigen Hammer­schlag das Vorurteil, das Christentum sei eine Ideologie oder eine Religion – also etwas, wo man ja zu sagt oder nein, einfach ein Angebot auf dem Markt der welt­anschau­lichen Möglich­keiten, für das man sich entschieden hat, weil es einem zusagte, oder bei dem man geblieben ist, weil man keine Lust hatte, die anderen Angebote zu prüfen. Die Taufe, auf die Paulus Bezug nimmt, ist aber eigent­lichen für den Täufling etwas Passives; das Bild vom Begraben-Werden, abgeleitet von der Grablegung Jesu, macht das ganz deutlich. Aus diesem Grund ist die Praxis der Kindertaufe dem Geschehen der Taufe völlig angemessen, denn gerade am hilflosen Säugling zeigt sich: Hier handelt nicht ein autonomer Mensch, sondern hier wird an einem Menschen gehandelt.

Warum spricht Paulus aber aus­gerechnet vom Begraben? Zunächst einmal kann die praktische Durch­führung der Taufe an ein Begraben erinnern: Oft wurden und werden Täuflinge ganz im Wasser unter­getaucht. Wir begnügen uns heute mit drei Handvoll Wasser, aber ur­sprünglich war „taufen“ nicht nur sprachlich mit „tauchen“ verwandt. Zum andern gibt es den bereits an­gesproche­nen Zusammen­hang mit dem Begräbnis Jesu: Genau wie das Grab Jesu die Tatsache besiegelte, dass Jesus wirklich und wahrhaftig tot war, so besiegelt die Taufe die Tatsache, dass der Getaufte nun wirklich Gottes Kind ist. Auch das hat sehr viel mit Tod und Begrägnis zu tun: In der Taufe wird die Beerdigung des Menschen gefeiert, der im Macht­bereich des Satans gefangen war – also des Menschen, bei dem die Ver­suchungen des Teufels zum Erfolg führten, weil Sünde ohne Jesu Vergebung die Weichen in Richtung ewige Verdammnis stellt.

Die Kehrseite, die Lebens-Seite, beschreibt Paulus mit diesen Worten: „Mit ihm (Christus) seid ihr auch auf­erstanden durch den Glauben, den Gott wirkt, welcher ihn auferweckt hat von den Toten.“ Auch hier geschieht etwas mit dem Menschen, der selbst passiv bleibt: Er wird zu einem neuem Leben auferweckt, er bekommt von Gott Glauben geschenkt, er wird in den Macht­bereich Gottes gestellt. Da wird ganz deutlich: Der Glaube ist keine Ideologie, zu der man sich bekennt, und kein Verein, dem man beitritt, sondern er ist Gottes Handeln in der Seele eines Menschen durch den Heiligen Geist, der mit der Taufe in sein Leben eingreift. Paulus kann sich Taufe ohne Glaube überhaupt nicht vorstellen, denn wenn er von der Taufe redet, dann redet er auch stets vom Glauben. Paulus bezeugt: Taufe und Glaube gehören un­zertrenn­lich zusammen wie der Tod und die Auf­erstehung des Herrn Jesus Christus.

In der heutigen kirchlichen Situation stehen wir der Un­zertrennlich­keit von Taufe und Glaube allerdings etwas skeptisch gegenüber. Was ist denn mit den vielen sogenannten Namens­christen, die trotz Taufe nicht an Christus glauben und ein gottloses Leben führen? Wenn wir diese Menschen mit dem ver­gleichen, was der Heilige Geist durch den Apostel offenbart hat, dann merken wir: Das war nicht im Sinne des Erfinders! Daraus folgt: Wenn ein Getaufter den Glauben verleugnet, dann ist das so etwas wie Fahnen­flucht, denn er entzieht sich dem Zuspruch und Anspruch Gottes, sein Kind zu sein. Ja, Fahnen­flucht ist es, nicht ein Ändern der Meinung oder ein Wechsel der Ideologie. Sie beginnt gewöhnlich damit, dass Menschen sich von der Quellen fernhalten, durch die Gott den Glauben wirkt und am Leben erhält. Sie halten sich fern von der Ver­kündigung im Gottes­dienst, vom Heiligen Abendmahl und ganz allgemein von der Gemein­schaft mit anderen Christen. Paulus schreibt vom „Glauben, den Gott wirkt“. Wörtlich ist da die Rede vom Glauben als der Energie Gottes. Wir können also sagen, dass heute viele Christen in einer Glaubens-Energie­krise stecken. Das liegt bestimmt nicht daran, dass bei Gott die Energie knapp wird, sondern daran, dass viele Christen ihr Glaubens­licht mehr und mehr auf Sparflamme drosseln.

In dem folgenden Vers macht Paulus noch einmal ganz deutlich, was die Taufe als gott­gewirkter Wendepunkt für das Leben eines Menschen bedeutet: „Er hat euch mit ihm (Christus) lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in eurem un­beschnitte­nen Fleisch, und hat uns vergeben alle Sünden.“ Der Ungetaufte lebt im Macht­bereich der Sünde, des Todes und des Teufels. Wenn also Eltern meinen, sie lassen ihre Kinder lieber nicht taufen, damit sie sich später entscheiden können, dann nehmen sie diese traurige Tatsache nicht ernst, sondern verwechseln das Christentum mit einer Welt­anschauung‘ für die sich jemand aus einem neutralen Freiraum heraus entscheiden könne. In Wirklich­keit gibt es keinen solchen Freiraum, sondern der Mensch lebt letztlich immer in einem Macht­bereich. Und da es von der Natur des gefallenen Menschen her immer der Macht­bereich der Sünde ist, kann ein Mensch nur dann zu Gott kommen, wenn Gott ihn mit Taufe und Glauben in seinen Macht­bereich hinein­zieht, ihn also durch Christus zu neuem Leben erweckt. Deshalb lesen wir im Neuen Testament so oft vom „In-Christus-Sein“.

Die Taufe entspricht in dieser Hinsicht ganz der jüdischen Be­schneidung: Wie Gott einst Abraham geboten hat, so beschneiden fromme Juden ihre Knaben am achten Lebenstag. Vor dem Kommen Jesu wurden die Kinder Israels auf diese Weise zum alt­testament­lichen Gottesvolk hinzu­gefügt. Wenn Paulus nun in Bezug auf die Sünde von „un­beschnitte­nem Fleisch“ spricht, dann zeigt er damit denselben Zusammen­hang auf: Wer nicht getauft ist, lebt als Heide und damit im Macht­bereich der Sünde und des Teufels. Wer getauft, also mit dem Zeichen des neuen Bundes geistlich „be­schnitten“ ist, der lebt im Macht­bereich Gottes und seiner Vergebung; er lebt im neuen Gottesvolk.

Manche Menschen befremdet es, dass bei Paulus und überhaupt in der Kirche immer wieder von der Sünden­vergebung die Rede ist. Gibt es denn nicht noch andere Themen? Ja, die gibt es, aber alles andere hängt von der Sünden­vergebung ab. Das neue Leben ist ja nichts, wovon man einmal Kenntnis nimmt und dann die Sache auf sich beruhen lässt. Vielmehr müssen wir in allen Situ­ationen, in denen wir unser Versagen erkennen, auf Gottes Vergebung vertrauen. Je älter ein Mensch wird, um so deutlicher muss er erkennen, wie wenige seiner Träume und Ideale er ver­wirklichen kann und wieviel trotz allem gegen­teiligen Bemühen schiefgeht. Da hilft dann keine Religion, die nur zusätzliche Forderungen stellt, sondern da hilft nur Gottes Zu­sicherung: Deine Sünden sind dir vergeben; du lebst nicht mehr im Macht­bereich der Sünde, sondern im Macht­bereich von Jesus Christus. Das unter­scheidet das Christentum von allen Heils­rezepten, Religionen, Philo­sophien und Ideologien der Welt, die den Menschen letztlich im Macht­bereich des Teufels lassen, wo an seiner Sünde zugrunde geht.

Paulus ist die Sache mit der Sünden­vergebung so wichtig, dass er sie noch einmal mit einem sehr an­schaulichen Bild ausdrückt. Er schreibt: „Getilgt hat er den Schuld­brief, der wider uns war und durch die Satzungen gegen uns stand, und hat ihn aus der Mitte getan und an das Kreuz geheftet.“ Eine altdeutsche Version des Schuld­briefes ist das Kerbholz, eine längs gespaltene Holzleiste, auf der durch Kerben Waren­kredite fest­gehalten wurden. Die eine Hälfte bekam der Schuldner, die andere der Gläubiger; so hatte jeder denselben Beleg über die Schulden. Wir, die wir bei Gott etwas auf dem Kerbholz haben, erleben nun Folgendes: Gott nimmt seinen Teil des Kerbholzes, also seinen „Schuld­schein“, wie Paulus es formuliert, und vernichtet ihn am Kreuz Christi. Das Kerbholz beziehungs­weise der Schuld­schein steht nicht mehr zwischen ihm und uns; wir können nun mit gutem Gewissen unsere Augen zu ihm aufheben. Jesus hat am Kreuz unsere Schulden bezahlt, die wir selbst niemals hätten begleichen können. Sollte das Ideologie sein, wenn einem jemand alle Schulden bezahlt? Das ist nicht Ideologie, sondern Geschenk; das ist nicht Religion und Forderung, sondern pure Gnade. Da handelt Gott allein, und wir sind die Nutznießer. Da geschieht einfach etwas mit uns: Wir sterben dem alten Leben und werden zu einem neuen Leben lebendig gemacht.

Dieses Handeln Gottes stellt alle Heils­angebote der Welt damals wie heute in den Schatten. Paulus schreibt: „Er hat die Reiche und die Gewaltigen ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.“ Die „Reiche“ und „Ge­waltigen“ sind die Dämonen­mächte, also die Handlanger Satans, die damals wie heute hinter den unzähligen Stimmen der Religionen und Heils­angebote dieser Welt stehen. Wir, die wir von Gott in den anderen Macht­bereich geholt worden sind, können und sollen erkennen, worum es dabei geht: Um die ohn­mächtigen Versuche, Schuld und Sünde mit eigener Anstrengung zu beseitigen, beziehungs­weise sie kosmetisch zu tarnen, sie zu ver­harmlosen oder sie zu verdrängen. Aber nur an einer Stelle gibt es den wahren Triumph über die Sünde und über die Macht des Bösen: Am Kreuz Christi, wo unser Schuld­schein getilgt wurde. Seien wir froh und dankbar, dass wir unter dieser höchsten und besten Macht leben dürfen, und laufen wir nicht ver­wirrenden Stimmen nach, die uns zur Fahnen­flucht verführen wollen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1982.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum