Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Die Dame im Linienbus fragt den Fahrer: „Ach, können Sie mir bitte mal sagen, wo ich aussteigen muss, wenn ich zum Botanischen Garten will?“ Der Busfahrer schnauzt: „Können Sie nicht lesen? Hier steht: Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!“ Die Dame erwidert: „Tragen Sie denn Müllers Feinstrumpfhosen?“ Der Fahrer: „Wieso? Natürlich nicht!“ Darauf die Dame: „Hier steht nämlich auf einem anderen Schild: Tragen Sie Müllers Feinstrumpfhosen!“
Schlagfertig ist sie, diese Dame. Darüber hinaus hat sie eine charakteristische Erscheinung unserer Zeit bloßgestellt: Wir leben in einem Meer von schriftlichen Aufforderungen, Angeboten, Hinweisen, Ge- und Verboten. Man kann im Straßenverkehr, in der Werbung und in anderen offensichtlichen Zusammenhängen leicht erkennen, wie verbindlich oder unverbindlich sie sind. Anders ist das bei tiefer gehenden Fragen, zum Beispiel: Wie werde ich glücklich; was soll ich aus meinem Leben machen; was ist der Sinn des Lebens? Da werden viele Menschen durch das breite Angebot an Ideologien, Religionen und Sekten hoffnungslos verwirrt. Werde ich glücklich, wenn ich für mein Recht kämpfe? Oder wenn ich 8192 mal täglich „Hare Krishna“ singe? Oder wenn ich mein Leben Jesus übergebe? Der Lehrer sagt etwas anderes als die Eltern. Die Eltern sagen etwas anderes als der Pfarrer. Der Pfarrer sagt etwas anderes als der Sektenprediger. Wem kann man trauen? Wie kann man die Wahrheit finden? Gibt es sie überhaupt, die Wahrheit, oder ist das Leben nur ein sinnloses Narrenspiel?
Ich frage jetzt euch, liebe Brüder und Schwestern: Seid ihr ganz sicher, dass ihr hier richtig seid – also dass euch gerade hier, in dieser kleinen Kirche, die richtigen Antworten auf eure Lebensfrage gegeben werden? Pflegen wir hier wirklich die einzig wahre Ideologie? Ihr zögert? Solche Unsicherheit ist vielen Generationen vor uns erspart geblieben. Der Glaube der Kirche war lange Zeit etwas Selbstveständliches und bstimmte das gesamte öffentliche Wertsystem. Diese Zeit ist nun vorbei. Wenn jemand nur deshalb zur Kirche käme, um vor der bösen und verwirrten Welt die Augen zu verschließen und sich bei ein paar altehrwürdigen Traditionen die gute alte Zeit herbeizuträumen, dann würde er hier das Falsche suchen und eigentlich kaum etwas anderes tun, als wenn sich ein Jugendlicher mit Drogen in eine Traumwelt katapultiert.
Nein, vielmehr sind wir Christen aufgerufen, in dem Stimmengewirr der Ideologien hier und heute Stellung zu nehmen. Damit sind wir direkt beim Wort des Apostels Paulus, das wir hier betrachten wollen. Seine Zeilen wenden sich an Christen, die vor dem antiken Markt der Meinungsmöglichkeiten standen und ebenfalls verwirrt waren, weil sie nicht genau wussten: Was ist denn nun die Wahrheit und was nicht? Und was lässt sich mit der christlichen Wahrheit in Einklang bringen und was nicht? Wir merken: Die Situation der alten Kirche ähnelt unserer Situation im Neuheidentum. Deshalb ist der Kolosserbrief brandaktuell.
Paulus schreibt: „Mit ihm (Christus) wurdet ihr begraben durch die Taufe.“ Damit zerstört er durch einen wuchtigen Hammerschlag das Vorurteil, das Christentum sei eine Ideologie oder eine Religion – also etwas, wo man ja zu sagt oder nein, einfach ein Angebot auf dem Markt der weltanschaulichen Möglichkeiten, für das man sich entschieden hat, weil es einem zusagte, oder bei dem man geblieben ist, weil man keine Lust hatte, die anderen Angebote zu prüfen. Die Taufe, auf die Paulus Bezug nimmt, ist aber eigentlichen für den Täufling etwas Passives; das Bild vom Begraben-Werden, abgeleitet von der Grablegung Jesu, macht das ganz deutlich. Aus diesem Grund ist die Praxis der Kindertaufe dem Geschehen der Taufe völlig angemessen, denn gerade am hilflosen Säugling zeigt sich: Hier handelt nicht ein autonomer Mensch, sondern hier wird an einem Menschen gehandelt.
Warum spricht Paulus aber ausgerechnet vom Begraben? Zunächst einmal kann die praktische Durchführung der Taufe an ein Begraben erinnern: Oft wurden und werden Täuflinge ganz im Wasser untergetaucht. Wir begnügen uns heute mit drei Handvoll Wasser, aber ursprünglich war „taufen“ nicht nur sprachlich mit „tauchen“ verwandt. Zum andern gibt es den bereits angesprochenen Zusammenhang mit dem Begräbnis Jesu: Genau wie das Grab Jesu die Tatsache besiegelte, dass Jesus wirklich und wahrhaftig tot war, so besiegelt die Taufe die Tatsache, dass der Getaufte nun wirklich Gottes Kind ist. Auch das hat sehr viel mit Tod und Begrägnis zu tun: In der Taufe wird die Beerdigung des Menschen gefeiert, der im Machtbereich des Satans gefangen war – also des Menschen, bei dem die Versuchungen des Teufels zum Erfolg führten, weil Sünde ohne Jesu Vergebung die Weichen in Richtung ewige Verdammnis stellt.
Die Kehrseite, die Lebens-Seite, beschreibt Paulus mit diesen Worten: „Mit ihm (Christus) seid ihr auch auferstanden durch den Glauben, den Gott wirkt, welcher ihn auferweckt hat von den Toten.“ Auch hier geschieht etwas mit dem Menschen, der selbst passiv bleibt: Er wird zu einem neuem Leben auferweckt, er bekommt von Gott Glauben geschenkt, er wird in den Machtbereich Gottes gestellt. Da wird ganz deutlich: Der Glaube ist keine Ideologie, zu der man sich bekennt, und kein Verein, dem man beitritt, sondern er ist Gottes Handeln in der Seele eines Menschen durch den Heiligen Geist, der mit der Taufe in sein Leben eingreift. Paulus kann sich Taufe ohne Glaube überhaupt nicht vorstellen, denn wenn er von der Taufe redet, dann redet er auch stets vom Glauben. Paulus bezeugt: Taufe und Glaube gehören unzertrennlich zusammen wie der Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus Christus.
In der heutigen kirchlichen Situation stehen wir der Unzertrennlichkeit von Taufe und Glaube allerdings etwas skeptisch gegenüber. Was ist denn mit den vielen sogenannten Namenschristen, die trotz Taufe nicht an Christus glauben und ein gottloses Leben führen? Wenn wir diese Menschen mit dem vergleichen, was der Heilige Geist durch den Apostel offenbart hat, dann merken wir: Das war nicht im Sinne des Erfinders! Daraus folgt: Wenn ein Getaufter den Glauben verleugnet, dann ist das so etwas wie Fahnenflucht, denn er entzieht sich dem Zuspruch und Anspruch Gottes, sein Kind zu sein. Ja, Fahnenflucht ist es, nicht ein Ändern der Meinung oder ein Wechsel der Ideologie. Sie beginnt gewöhnlich damit, dass Menschen sich von der Quellen fernhalten, durch die Gott den Glauben wirkt und am Leben erhält. Sie halten sich fern von der Verkündigung im Gottesdienst, vom Heiligen Abendmahl und ganz allgemein von der Gemeinschaft mit anderen Christen. Paulus schreibt vom „Glauben, den Gott wirkt“. Wörtlich ist da die Rede vom Glauben als der Energie Gottes. Wir können also sagen, dass heute viele Christen in einer Glaubens-Energiekrise stecken. Das liegt bestimmt nicht daran, dass bei Gott die Energie knapp wird, sondern daran, dass viele Christen ihr Glaubenslicht mehr und mehr auf Sparflamme drosseln.
In dem folgenden Vers macht Paulus noch einmal ganz deutlich, was die Taufe als gottgewirkter Wendepunkt für das Leben eines Menschen bedeutet: „Er hat euch mit ihm (Christus) lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in eurem unbeschnittenen Fleisch, und hat uns vergeben alle Sünden.“ Der Ungetaufte lebt im Machtbereich der Sünde, des Todes und des Teufels. Wenn also Eltern meinen, sie lassen ihre Kinder lieber nicht taufen, damit sie sich später entscheiden können, dann nehmen sie diese traurige Tatsache nicht ernst, sondern verwechseln das Christentum mit einer Weltanschauung‘ für die sich jemand aus einem neutralen Freiraum heraus entscheiden könne. In Wirklichkeit gibt es keinen solchen Freiraum, sondern der Mensch lebt letztlich immer in einem Machtbereich. Und da es von der Natur des gefallenen Menschen her immer der Machtbereich der Sünde ist, kann ein Mensch nur dann zu Gott kommen, wenn Gott ihn mit Taufe und Glauben in seinen Machtbereich hineinzieht, ihn also durch Christus zu neuem Leben erweckt. Deshalb lesen wir im Neuen Testament so oft vom „In-Christus-Sein“.
Die Taufe entspricht in dieser Hinsicht ganz der jüdischen Beschneidung: Wie Gott einst Abraham geboten hat, so beschneiden fromme Juden ihre Knaben am achten Lebenstag. Vor dem Kommen Jesu wurden die Kinder Israels auf diese Weise zum alttestamentlichen Gottesvolk hinzugefügt. Wenn Paulus nun in Bezug auf die Sünde von „unbeschnittenem Fleisch“ spricht, dann zeigt er damit denselben Zusammenhang auf: Wer nicht getauft ist, lebt als Heide und damit im Machtbereich der Sünde und des Teufels. Wer getauft, also mit dem Zeichen des neuen Bundes geistlich „beschnitten“ ist, der lebt im Machtbereich Gottes und seiner Vergebung; er lebt im neuen Gottesvolk.
Manche Menschen befremdet es, dass bei Paulus und überhaupt in der Kirche immer wieder von der Sündenvergebung die Rede ist. Gibt es denn nicht noch andere Themen? Ja, die gibt es, aber alles andere hängt von der Sündenvergebung ab. Das neue Leben ist ja nichts, wovon man einmal Kenntnis nimmt und dann die Sache auf sich beruhen lässt. Vielmehr müssen wir in allen Situationen, in denen wir unser Versagen erkennen, auf Gottes Vergebung vertrauen. Je älter ein Mensch wird, um so deutlicher muss er erkennen, wie wenige seiner Träume und Ideale er verwirklichen kann und wieviel trotz allem gegenteiligen Bemühen schiefgeht. Da hilft dann keine Religion, die nur zusätzliche Forderungen stellt, sondern da hilft nur Gottes Zusicherung: Deine Sünden sind dir vergeben; du lebst nicht mehr im Machtbereich der Sünde, sondern im Machtbereich von Jesus Christus. Das unterscheidet das Christentum von allen Heilsrezepten, Religionen, Philosophien und Ideologien der Welt, die den Menschen letztlich im Machtbereich des Teufels lassen, wo an seiner Sünde zugrunde geht.
Paulus ist die Sache mit der Sündenvergebung so wichtig, dass er sie noch einmal mit einem sehr anschaulichen Bild ausdrückt. Er schreibt: „Getilgt hat er den Schuldbrief, der wider uns war und durch die Satzungen gegen uns stand, und hat ihn aus der Mitte getan und an das Kreuz geheftet.“ Eine altdeutsche Version des Schuldbriefes ist das Kerbholz, eine längs gespaltene Holzleiste, auf der durch Kerben Warenkredite festgehalten wurden. Die eine Hälfte bekam der Schuldner, die andere der Gläubiger; so hatte jeder denselben Beleg über die Schulden. Wir, die wir bei Gott etwas auf dem Kerbholz haben, erleben nun Folgendes: Gott nimmt seinen Teil des Kerbholzes, also seinen „Schuldschein“, wie Paulus es formuliert, und vernichtet ihn am Kreuz Christi. Das Kerbholz beziehungsweise der Schuldschein steht nicht mehr zwischen ihm und uns; wir können nun mit gutem Gewissen unsere Augen zu ihm aufheben. Jesus hat am Kreuz unsere Schulden bezahlt, die wir selbst niemals hätten begleichen können. Sollte das Ideologie sein, wenn einem jemand alle Schulden bezahlt? Das ist nicht Ideologie, sondern Geschenk; das ist nicht Religion und Forderung, sondern pure Gnade. Da handelt Gott allein, und wir sind die Nutznießer. Da geschieht einfach etwas mit uns: Wir sterben dem alten Leben und werden zu einem neuen Leben lebendig gemacht.
Dieses Handeln Gottes stellt alle Heilsangebote der Welt damals wie heute in den Schatten. Paulus schreibt: „Er hat die Reiche und die Gewaltigen ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.“ Die „Reiche“ und „Gewaltigen“ sind die Dämonenmächte, also die Handlanger Satans, die damals wie heute hinter den unzähligen Stimmen der Religionen und Heilsangebote dieser Welt stehen. Wir, die wir von Gott in den anderen Machtbereich geholt worden sind, können und sollen erkennen, worum es dabei geht: Um die ohnmächtigen Versuche, Schuld und Sünde mit eigener Anstrengung zu beseitigen, beziehungsweise sie kosmetisch zu tarnen, sie zu verharmlosen oder sie zu verdrängen. Aber nur an einer Stelle gibt es den wahren Triumph über die Sünde und über die Macht des Bösen: Am Kreuz Christi, wo unser Schuldschein getilgt wurde. Seien wir froh und dankbar, dass wir unter dieser höchsten und besten Macht leben dürfen, und laufen wir nicht verwirrenden Stimmen nach, die uns zur Fahnenflucht verführen wollen. Amen.
PREDIGTKASTEN |