Wir sind ins Leben umgezogen

Predigt über 1. Johannes 3,13‑18 zum 2. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Nachbarn!

Ja, so möchte ich euch heute anreden, denn in gewissem Sinn sind wir tatsächlich Nachbarn. Wir wohnen alle in demselben „Haus“ – im Haus des ewigen Lebens. Das ist keineswegs selbst­verständ­lich und war auch nicht schon immer so. Wir sind vielmehr zugezogen; wir sind umgezogen aus dem Haus des Todes in das Haus des Lebens. Der Apostel Johannes schreibt: „Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind.“ Dieser Umzug hat bei unserer Taufe statt­gefunden. Die Taufe bedeutet einen geistlichen Umzug von Tod nach Leben, von Finsternis nach Licht, von alt nach neu, von Gott­losig­keit nach Glaube, von Krankheit nach Heil, von Sünde nach Gerechtig­keit, von Hass nach Liebe, von Einsamkeit nach Gemein­schaft beziehungs­weise nach neuer Nachbar­schaft.

Bei einem Umzug ändert sich manches, das sollten wir bewusst zur Kenntnis nehmen. Unsere neue Adresse sollten wir möglichst schnell auswendig kennen. Das heißt: Wir sollten wissen, dass unsere Adresse seit der Taufe „Leben“ lautet. Aber noch manches andere hat sich geändert; das wollen wir jetzt näher betrachten.

So haben wir im Haus des Lebens einen neuen Hauswirt. Er ist der beste Hauswirt, den wir uns denken können: Jesus Christus. Er ist das Gegenteil von unserem alten Hauswirt im Todeshaus, dem Teufel, dem wir in der Tafe „entsagt“ haben, dem wir Auf-Nimmer-Wiedersehen gesagt haben. Der Teufel wirbt mit krummen Tricks Mieter für sein Haus. Er hat die Fassade prächtig anmalen lassen: Er erweckt mit seinen Ver­suchungen den Anschein, dass es sich bei ihm herrlich wohnen lasse. Viele fallen auf solche Tricks herein. Sehen wir uns die Namens­schilder an Satans Haustür an, so fällt uns da ein besonders altes Schild auf mit dem Namen „Adam“. Dem Herrn Adam sind alle Menschen blindlings nachgefolgt und haben mit dem Teufel ihren Mietvertrag ge­schlossen. Glücklicher­weise ist da, wo einst unser Namens­schild war, jetzt ein leerer Fleck. Die Mieter­schaft, die noch im Todeshaus wohnt, wird vom Apostel Johannes „Welt“ genannt. Sie muss in schäbigen Wohnungen hausen, denn der Teufel kümmert sich nur um die Fassade. Am schlimmsten ist der Mietwucher: Wer im Haus des Todes wohnt, muss das mit seinem Leben bezahlen.

Ganz anders ist da unser neuer Hauswirt Jesus Christus. Wir brauchen ihm überhaupt keine Miete zu zahlen, wir leben im Lebenshaus frei und umsonst. Unser neuer Wirt ist sogar für unsere Schulden auf­gekommen. Ihr wisst, was das bedeutet: Er hat nicht einfach mal mit der linken Hand in seine Schatzkiste gegriffen und da ein bisschen Gold und Silber heraus­geholt, sondern er hat bezahlt „mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem un­schuldigen Leiden und Sterben“. Johannes schreibt, dass er sein Leben für uns gelassen hat. Desto mehr kann es über­raschen, was Christus seinen Mietern alles bietet: Er gewährt uns vollen Kündigungs­schutz; wir haben ewiges Leben. Auch hält Christus unsere Wohnungen bestens instand, sodass wir uns um nichts zu sorgen brauchen. Eigentlich ist er viel mehr als ein Hauswirt, er kümmert sich um uns wie ein Hausvater im besten Sinne des Wortes. In ihm haben wir ja wirklich Gott den Vater vor Augen und Zugang zu ihm. Christus versorgt und kümmert sich um die Probleme der Mieter: Er hört geduldig zu, wenn wir sie im Gebet vor ihn bringen, und hilft mit Rat und Tat bei ihrer Be­wälti­gung. Sein Hausvater-Dasein bedeutet auch, dass wir Mieter im Lebenshaus uns als Brüder und Schwestern ansehen und annehmen können.

Wir haben aber nicht nur einen neuen Hauswirt bekommen nach dem Umzug ins Leben, sondern auch eine neue Hausordnung. Sie ist viel köstlicher, als das Wort „Haus­ordnung“ es vermuten lässt. Um uns ihr Wert deutlich vor Augen zu führen, wollen wir zunächst die alte Hausordnung betrachten. Sie ist das Erkennungs­zeichen der „Welt“, also der Mieter im Todeshaus. Johannes schreibt: „Wer nicht liebt, der bleibt im Tod.“ Das Wesen dieser Hausordnung ist also die Lieb­losig­keit. Ihre Ähnlichkeit mit dem Teufel ist un­verkenn­bar, der nur darauf aus ist, alle Menschen zu schädigen und letztlich um ihr Leben zu bringen. Johannes schreibt: „Wer seinen Bruder hasst, ist ein Tot­schläger.“ Über den Zusammen­hang von Hass und Mord erfährt man immer wieder durch die Medien. Und selbst wo der Hass in verborgener Form auftritt, ist er praktisch schon Mord. Bei Gott liegt es klar zutage: Wer hasst, selbst wer nur ein kleines bisschen lieblos ist, der hat damit schon der Hausordnung zugestimmt, in der auch Mord steht. Das ist, wie gesagt, die Hausordnung der Welt. Zwar gibt es auch unter den Nicht­christen vieles, was nach Liebe aussieht, aber die wahre göttliche Liebe kennen sie nicht, denn sie kennen nicht unsern neuen Hauswirt Jesus Christus und seine Ordnung.

Diese Lebens­hausordnung wollen wir uns nun ins Gedächtnis rufen. Johannes schreibt: „Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind, denn wir lieben die Brüder.“ Diese Bruderliebe erschöpft sich nun nicht in einem guten Willen, der dann doch nichts fertig­bringt. Ein schlechtes Gewissen und Mitleid gibt es auch bei Un­gläubigen; sie unter­drücken solche Regungen aber schnell, „ver­schließen ihr Herz“, wie Johannes sagt. Die christliche Liebe erschöpft sich auch nicht darin, dass wir bei Gelegenheit höflich zueinander sind, dass wir uns gleichsam im Treppenhaus mal eben „Guten Tag“ wünschen; das tut die Welt in ihrem Haus auch. In unserer Hausordnung heißt es vielmehr: „Lasset uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“ Dabei wartet die Liebe nicht auf eine gold­umränderte Einladung, sondern sieht, wo jemand Hilfe braucht, und tritt in Aktion. Die Liebe kommt, sieht und handelt. Sie sieht einen Spenden­aufruf der Mission und gibt eine großzügige Summe. Sie sieht einen über­forderten Menschen und verschenkt ein paar Stunden zu seiner Unter­stützung. Sie sieht, wo am Kirch­gebäude etwas zu reparieren ist, und nimmt die Sache in die Hand. Die Liebe hat scharfe Augen und sieht auch verborgene und seelische Not. Ein einsamer alter Mensch freut sich wohl, wenn ihm jemand mal schnell Einkäufe macht, aber er freut sich noch mehr, wenn sich jemand richtig Zeit für ihn nimmt und ihm zuhört. Wenn wir so „mit der Tat und mit der Wahrheit“ lieben, dann richten wir uns damit nach unserer Hausordnung und handeln gleich­zeitig nach dem Vorbild unseres Hauswirts Christus. Er ist gewisser­maßen die Hausordnung in Person, denn der Paragraph eins unserer Hausordnung lautet: Jeder Mieter hat sich seinen Mitmietern gegenüber so zu verhalten, wie sich der Hauswirt den Mietern gegenüber verhält. Johannes drückt das so aus: „Daran haben wir erkannt die Liebe, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen.“ An diesem Wort sehen wir gleich noch ein weiteres Merkmal der neuen Haus­ordnung: Verlangt die alte Hausordnung von der Welt, das eigene Leben auf Kosten der Mitmenschen zu suchen, so ermahnt uns die neue Haus­ordnung, das eigene Leben zu Gunsten des Bruders zu verlieren. Nur wenige Christen haben zwar Gelegen­heit, zu Schutz und Rettung eines Bruders in den Tod zu gehen. Aber in einem anderen Sinne können wir alle unser Leben geben und dabei Liebe üben: Wir können unsere Lebensgüter und unsere Lebenszeit hingeben, auch unsere Fähigkeiten und Begabungen. Solche Liebe hat Schwielen an den Händen und Schweiß auf der Stirn; solche lebens­spendende, aufopfernde Liebe kann schmerzhaft sein für Leib und Seele. Aber wir können solche Liebe freudig tun, weil wir wissen, mit welch großem Opfer an Leib und Leben Christus uns geliebt hat. Wir haben von ihm ja einen großen Liebes­schatz erhalten, aus dem wir freigebig weiter­verschenken können.

Nun mag einer von euch einwenden: Ist denn wirklich so viel Liebe unter uns Christen, dass man uns daran erkennen kann? Darauf ist zweierlei zu antworten: Erstens sind Liebe und Hass nicht Erkennungs­zeichen wie weiße und schwarze Hüte. Auf der Straße kann man Christen von Welt­menschen nicht unter­scheiden. Einerseits verbirgt sich der Hass der Welt hinter einer Maske von Liebe, und anderer­seits ist die wahre Liebe der Christen an sich un­scheinbar, macht kein großes Gerede, prahlt nicht, erregt kein Aufsehen; sie kommt, sieht und hilft einfach. Manchmal wird sie sogar miss­verstanden, denn die Liebe kann auch mahnen oder eine Bosheit bestrafen; Gottes Liebe straft uns ja auch mitunter. Aber wir, die wir die Liebe Jesu und unsers himmlischen Vaters kennen, können solche verborgene Liebe sehen und an ihr erkennen, dass wir in das Leben umgezogen sind. Der zweite Grund, warum die Liebe bei uns so schwer wahrnehmbar ist, ist folgender: Unsere Bruderliebe ist un­vollkommen. Immer wieder vergessen wir unsere neue Hausordnung und handeln nach der alten. Im Haus des Lebens fällt so ein Einbruch des Hasses natürlich auf und lässt uns erschrocken fragen: Ist denn noch echte göttliche Liebe unter uns? Wie passt solches Verhalten mit der Hausordnung des ewigen Lebens zusammen? Solcher Schreck ist heilsam, wenn er uns denn zur Liebe zurück­führt, nämlich zur Quelle der Liebe, also zu unserem Hauswirt Jesus Christus, der zwar über solche Einbrüche des Hasses in sein Haus traurig ist, aber der dann auch immer wieder bereit ist zu vergeben.

Bis hierher haben wir fest­gestellt, dass wir nach unserem Textwort klar zwischen den beiden Häusern, den beiden Hauswirten und den beiden Haus­ordnungen unter­scheiden können. Diesen klaren Trennungs­strich zieht auch Gott, der die Herzen aller Menschen kennt und in dessen Buch des Lebens alle Mieter des Lebens­hauses eingetragen sind. Aber nützt uns diese Unter­scheidung etwas für unseren Alltag, wo wir doch als Christen mit Nicht-Christen bunt durch­einander­gewüfelt sind? Lasst uns zum Schluss überlegen, ob und wie uns diese Unter­scheidung im Umgang mit unseren alten Nachbarn, der Welt, helfen kann. Wir wollen dazu ver­schiedene Möglich­keiten durch­spielen.

Die erste Möglich­keit: Wir können uns in das Haus des Lebens wie in ein Schnecken­haus zurück­ziehen und unsere Kontakte mit ungläubigen Mitmenschen auf ein Mindestmaß be­schränken. Allerdings muss der, der sich so abkapselt, auf manche gute Schöpfer­gabe verzichten, etwa auf kulturellem Gebiet. Vor allem aber bringt solche Weltflucht mit sich, dass ein Christ damit seine Ver­antwortung den anderen gegenüber nicht wahrnehmen kann und ihnen auch viel Liebe schuldig bleibt. Völlige Weltflucht ist eine Illusion und nicht im Sinne Gottes. Viel mehr Leute wählen heutzutage eine zweite Möglich­keit, als Christ in dieser Welt zu leben: Sie besuchen die Welt im Todeshaus. Sie machen bei allem Leben und Treiben der Welt bedenkenlos mit. Sie passen sich im Geschäfts­leben den rauhen Ellenbogen-Techniken an und kosten das Freizeit­angebot der Welt in Fernsehen, Theater, Kino, Konzert, Diskothek und Kneipe voll aus. Man hat den Eindruck, dass sie schon wieder halb ins Todeshaus zurück umgezogen sind und dass sie am Eingang schon wieder ihr Namens­schild angebracht haben. Wir Nachbarn des Lebens­hauses sehen sie oft nicht mal mehr am Sonntag­vormittag. Gerade junge Christen neigen aus Lebens­hunger und aus Angst, etwas zu versäumen, dazu, alle Einladungen in das Todeshaus anzunehmen. Vergessen wir aber nicht: Echtes Leben gibt es nur im Lebenshaus. Hier ist unser Zuhause; ein besseres Heim finden wir nicht. Fallen wir bloß nicht auf die Tricks und Bluffs des Teufels herein, der nur darauf wartet, uns wieder zu seinen Mietern zu machen. Und denken wir nicht, dass wir gegen seine Werbestrategien immun sind: Die über­zeugenden Argumente gottloser In­tellektu­eller, die Ver­lockungen sinnen­betäubenden Konsums, der Zwang der Gruppe, dies alles kann der Teufel als fast un­widersteh­lichen Köder benutzen. Deshalb: Große Vorsicht bei Besuchen im Todeshaus! Vergessen wir nie, wo wir eigentlich wohnen. Wie aber können wir uns sonst noch verhalten, wenn wir uns einerseits nicht völlig ins Lebenshaus zurück­ziehen, anderer­seits mit Besuchen im Todeshaus vorsichtig sein sollen? Sollen wir die „goldene Mitte“ wählen, also einen Kompromiss schließen? Nur nicht radikal, nur nicht fanatisch, nur nicht extre­mistisch sein? Es gibt noch eine dritte Möglich­keit, eine echte Alter­native: Lasst uns die Welt ins Lebenshaus einladen! Es gibt hier noch viele freie Wohnungen, und der Hauswirt freut sich über jeden neuen Mieter. Ja, er selbst lädt alle Menschen ein. So steht es auch in unserer Haus­ordnung: Jeder Mieter gibt seinem Bruder das, woran er Mangel hat. Das gilt nicht nur für die materiellen Güter, sondern auch auf geistlichem Gebiet. Geben wir unseren nicht­christlichen Mitmenschen also das, woran sie so bitteren Mangel haben, nämlich Liebe und Leben durch unsern Herrn Jesus Christus. Wir tun es, wenn wir von unserem wunderbaren neuen Hauswirt erzählen, der uns das ewige Leben schenkt, und durch den wir erfahren, was echte Liebe ist.

Liebe Nachbarn im Lebenshaus, ihr könnt jetzt natürlich sagen: Das ist ja nur ein Gleichnis, ein Bild. Ja, es ist ein Bild. Aber wir sollten dieses Bild vom Haus des ewigen Lebens in unserem Herzen festhalten. Auch der Apostel Johannes redet nicht nur davon, dass wir im Leben wohnen, sondern er drückt es auch andersherum so aus, dass ewiges Leben und Gottes Liebe in uns wohnen. Dieses Bild, das wir im Herzen tragen, ist deshalb so bedeutend, weil es die Wirklichkeit abbildet – eine Wirklich­keit, die wir nach unserem Tod und nach Christi Wiederkunft im Himmel dann auch leiblich erleben werden. Jesus hinterließ uns ja sein Ver­sprechen: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“, und: „Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten“ (Joh. 14,2‑3). Dort wartet das Haus des voll­kommenen Lebens und der voll­kommenen Liebe auf uns – eigentlich nicht nur ein Haus, sondern eine ganze Stadt, das himmlische Jerusalem. Das haben wir, wie gesagt, noch vor uns. Aber eine andere Wirklich­keit haben wir schon jetzt, hier und heute, vor Augen: Das ist die neue Nachbar­schaft, die hier auf den Bänken sitzt. In ihr und mit ihr wollen wir an diesem wunderbaren Bild festhalten; oder besser: wir wollen uns diesen Glauben und diese Hoffnung durch Gottes Wort festmachen lassen‘ nämlich dass wir Mieter, Gäste und Erben des Lebens­hauses sind, eines Hauses gebaut aus Liebe für Bewohner, die sich lieben. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1982.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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