Lügen­vertrauen und Gott­vertrauen

Predigt über Jeremia 7,1‑15 zum 10. Sonntag nach Trintatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ihr erwartet, dass ich euch jetzt eine Predigt halte. Ihr wärt sehr erstaunt, wenn ich nun nicht predigen, sondern eine Viertel­stunde lang schweigen würde. Bei Jeremia war es genau umgekehrt: Man erwartete von ihm, dass er nach alt­hergebrach­ten Ritualen am Tempel­gottes­dienst teilnimmt, auf die Priester hört und außerhalb des fest­gesetzten litur­gischen Rahmens den Mund hält. Um so erstaunter waren die Tempel­besucher, dass er sich ganz gegen die üblichen Zeremonien am Eingang hinstellte und zu predigen anfing. Ich würde auffallen, wenn ich nicht predigte; Jeremia fiel auf, weil er predigte. Ich möchte aber sogleich zwei Miss­verständ­nisse ausräumen: Erstens gehört Jeremia nich zu den Leuten, die sich durch extra­vagantes Verhalten gern in den Mittelpunkt stellen. Jeremia stand weder gern noch freiwillig an der Tempeltür und predigte, sondern er stand dort, weil Gott selbst ihn dorthin gestellt hatte. Und zweitens ist mein Grund zu predigen nicht der, dass es merkwürdig wäre, wenn ich es jetzt nicht täte, auch nicht der, dass ich eurem Bedürfnis nach einem sonntäg­lichen theolo­gischen Vortrag nachkommen möchte, sondern dies ist mein Grund: Gottes Wort ist heute noch ebenso wichtig wie damals und muss deshalb verkündigt werden.

Jeremias Predigt besteht aus einem Aufruf und einer Fest­stellung. Der Aufruf ist ein Ruf zur Besserung des Lebens, zur Umkehr, zur Buße. Jeremia fordert die Tempel­besucher auf, sich abzuwenden von ungerechtem und unsozialem Verhalten, von der Teilnahme an heidnischen Gottes­diensten und von dem Trug­schluss, dass Gott ihnen nicht böse sein könne, solange sie noch im Tempel ihre religiösen Pflichten absol­vierten. Jeremia fordert im Namen Gottes: Nur wenn sich seine Hörer von diesen Missständen abwenden und einem gott­gefälligem Handeln innerhalb und außerhalb des Tempels zuwenden, steht Gott weiterhin zu seinem Ver­sprechen, sein aus­erwähltes Volk im Land der Verheißung wohnen zu lassen und ihm durch seine gnädige Anwesenheit Frieden und Wohlstand zu schenken. Im zweiten Teil seiner Predigt, also im Fest­stellungs-Teil, hält Jeremia seinen Hörern den Spiegel der Zehn Gebote vor und zeigt ihnen damit, dass sie die geforderte Bedingung nicht erfüllen. Die Folgen solchen Fehl­verhaltens kann Jeremia an der Geschichte aufzeigen: Der größere Teil des Volkes Israel, nämlich das Nordreich, ist schon lange unter die Nachbar­völker zerstreut worden, und sein Gotteshaus wurde zerstört. Auch vom Rest des Volkes kann Gott sich in gleicher Weise zurück­ziehen, droht Jeremia an. Und weil die Juden sich nicht die Bußpredigt des Jeremia zu Herzen nehmen, tritt dieser Fall auch tatsächlich ein: Gut zwanzig Jahre später, im Jahre 587 v. Chr., liegt Jerusalem in Schutt und Asche, zerstört vom Heer der babylo­nischen Weltmacht, und die Juden müssen ihr Leben als Kriegs­gefangene im Ausland fristen. Weil sie Gott nicht gehorcht haben, ist Gottes Versprechen für sie hinfällig geworden. Weil sie Gottes Bund gebrochen haben, hält Gott sich auch seinerseits nicht mehr an die Bundes­zusagen.

Bevor wir die Predigt des Jeremia auf uns beziehen können, müssen wir uns überlegen, was uns mit ihren ursprünglichen Hörern verbindet, und gegebenen­falls auch, was uns von ihnen unter­scheidet. Die Frage lautet also: Mit welchem Recht und in welchem Maß gehen uns Jeremias Worte heute noch etwas an? Ich kann da eine ganze Reihe von Parallelen aufzählen: Die immer weiter fort­schreitende Missachtung der Zehn Gebote und elementarer Menschen­rechte lässt sich heute wie damals beobachten. Zunehmender Wohlstand und damit einher­gehender Egoismus auf der einen Seite stehen zunehmender Verelendung und Ver­bitterung auf der anderen Seite gegenüber. Und genau wie bei den damaligen Tempel­besuchern besteht bei heutigen Kirch­gängern die Gefahr, dass ihr Herz für ganz andere Dinge schlägt als für den Gottes­dienst – zum Beispiel für beruflichen und wirtschaft­lichen Erfolg, für Gesundheit und Familien­glück, für ein Höchstmaß an persön­lichem Genuss oder für die Auf­geschlossen­heit anderen Welt­anschauun­gen gegenüber. So zutreffend diese Parallelen auch sein mögen, berechtigt uns dennoch erst eine andere Tatsache dazu, Jeremias Worte auf uns zu beziehen; ja, sie ver­pflichtet uns geradezu: Es ist die Tatsache, dass wir die geistlichen Nachfahren des Volkes Israel sind. Das Neue Testament nennt uns Christen das „geistliche Israel“, „Abrahams Kinder“ und Gottes neues „Eigentums-Volk“. Damit wird zugleich das Miss­verständnis entkräftet, der moderne Staat Israel hätte irgendeinen theologisch begründ­baren Anspruch auf Palästina. Christi Reich ist eben nicht von dieser Welt, sondern ein geistliches Reich. Genau an dieser Stelle muss nun eine Abgrenzung und wesentliche Unter­scheidung zwischen dem alten und dem neuen Eigentums-Volk deutlich gemacht werden: Gott verspricht seinem Volk heute nicht mehr Leben in Wohlstand und Frieden auf einem bestimmten Fleck dieses Planeten, wie er es dem alten Israel versprochen hatte, sondern er verspricht unendlich Größeres: Er verspricht die Auf­erstehung der Toten und das ewige Leben in seinem himmlischen Reich. Es gibt aber noch einen weiteren Unter­schied, den ent­scheidend wichtigen. Die Bedingung von Gottes irdischem Versprechen an sein altes Volk lautete: Haltet das Gesetz! Die Bedingung von Gottes himmlischem Versprechen an sein neues Volk dagegen lautet: Glaubt an den Herrn Jesus! Das alte Israel ist an seiner Bedingung ge­scheitert, und wenn der Gesetzesgehorsam auch die Bedingung des neuen Bundes und für uns wäre, dann müssten wir zugeben, dass auch wir daran scheitern. Im Spiegel der Zehn Gebote, wie Mose oder hier Jeremia oder später Christus in der Bergpredigt sie vorgelegt haben, geben wir ein ebenso schwaches Bild ab wie die Juden damals. Aber, wie gesagt, hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Bund: Jesus hat durch seinen Tod am Kreuz diese unselige Gesetzes-Bedingung außer Kraft gesetzt. Übrig bleibt die Glaubens-Bedingung, dass wir uns auf Christi Erlösung verlassen. Es handelt sich eigentlich nicht wirklich um eine Bedingung, denn der Heilige Geist schenkt uns solchem Glauben.

Was fangen wir nun aber als neues Gottesolk mit der Predigt des Jeremia an? Was fangen wir damit an, nachdem wir erkannt haben, dass wir die Bedingung der Gebote nicht erfüllen können und dass die Gebote auch gar nicht mehr Gottes Bedingung sind? Zunächst können wir in diesen Worten erkennen: Gottes Gebote dienen den Menschen zum Besten. Gott hat den Juden das Gesetz ja nicht aus tyran­nischer Herrsch­sucht gegeben, sondern weil damit die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk sowie auch die Beziehung der Menschen unter­einander am besten geordnet ist. Hingegen gereicht jede Orien­tierung an anderen, also gottlosen Richtlinien den Menschen „zum Schaden“, wie Jerermia bezeugt. Es wäre geradezu unsinnig, wenn jemand behauptete, er vertraue völlig darauf, dass er durch Christus die ewige Seligkeit erlangt, aber gleich­zeitig der guten Ordnung göttlicher Gebote misstraut und sich von gottlosen Verhaltens­regeln leiten lässt. Das wäre so, wie wenn einer sich einem berühmten Chirurgen anvertraut und von ihm eine kompli­zierte Herz­operation bei sich vornehmen lässt, demselben Chirurgen aber anderer­seits nicht zutraut, ihm ein Pflaster richtig auf­zukleben. Leider neigen wir zu solch unsinnigem Verhalten: Während wir Christus und seinem Heilswerk von Herzen vertrauen‘ lassen wir uns in all­täglichen Dingen oft durch ein Vertrauen auf „Lügen­worte“, wie Jeremia es formuliert, fremd­bestimmen. Dabei liegt es doch so nahe, auch in Alltags­dingen und im Hinblick auf unser Verhalten dem zu vertrauen, der uns gerettet hat und ewiges Leben schenkt.

Jeremia hat einige Beispiel von Lügen­vertrauen und Gott­vertrauen gegeben aus Bereichen des täglichen Lebens, die heute noch ebenso aktuell sind wie damals. So ist es Lügen­vertrauen, wenn wir uns lieber nicht in den Streit unserer Mitmenschen einmischen wollen. Gott­vertrauen ist es dagegen, wenn wir fair und liebevoll einen solchen Streit nach besten Kräften schlichten helfen, wie Jeremia fordert. In einem größeren gesell­schaft­lichen Rahmen kann das bedeuten, dass wir uns aktiv für soziale Gerechtig­keit einsetzen. Lügen­vertrauen ist es, wenn wir nur zu netten oder einfluss­reichen Leuten freundlich sind. Gott­vertrauen ist es dagegen, wenn wir besonders auch die sogenannten sozial Schwachen fair und liebevoll behandeln. Jeremia nennt als Beispiele Witwen, Waisen und Ausländer. Lügen­vertrauen kann sich selbst in so einer Kleinigkeit äußern wie bei Rot über die Straße zu gehen. Wir setzen dann nämlich unser Vertrauen auf unsere eigene Übersicht im Straßen­verkehr. Wie trügerisch solches Selbst­vertrauen ist, erweist sich spätestens dann, wenn man, nachdem man sich dieses Verhalten zur Gewohnheit gemacht hat, beinahe in ein Auto läuft. Oder wenn ein kleines Kind dem schlechten Beispiel folgt und bei nächster Gelegenheit selbst bei Rot über die Straße geht – ohne die nötige Übersicht. Der gedanken­lose Rotsünder kann auf diese Weise sogar an einer fahr­lässiger Tötung schuldig werden, an „un­schuldigem Blut­vergießen“, wie Jeremia es nennt. Gott­vertrauen ist es dagegen, der Heiligen Schrift zu glauben, dass Gott rechtmäßige staatliche Gesetzgeber den Menschen zum Wohl einsetzt und ihnen in allen guten Ordnungen, also auch im Straßen­verkehr, zu folgen ist, selbst wenn der Sinn einer Vorschrift nicht immer unmittelbar ein­leuchtet. Es ist Lügen­vertrauen, sich von irgend­welchen Winden des Zeitgeistes be­einflussen zu lassen, etwa in der Frage der Abtreibung. Aber was ist es denn anderes als Mord, wenn ein von Gott einzigartig ge­schaffenes mensch­liches Wesen im Frühstadium seiner Existenz einfach beseitigt wird? Gott­vertrauen ist es dagegen, sich darauf zu verlassen, dass dieser Mensch trotz ungünstiger äußerer Umstände oder auch trotz einer möglichen Behinderung einen sinnvollen und erfüllten Platz in diesem Leben einnehmen wird. Lügen­vertrauen ist es, wenn jemand seinen eigenen Gefühlen und Trieben mehr vertraut als der göttlichen Ordnung der Ehe. Da hält man es heute schon fast für selbst­verständ­lich, dass man auch die intimsten Bereiche der Ehe vorher aus­probieren dürfe. Da meinen zer­strittene Eheleute, dass Scheidung für sie die beste Lösung sei, und vergessen, dass sie sich versprochen haben, auch in schweren Zeiten zusammen­zuhalten. Wieder andere drücken sich ganz um ein ver­antwort­liches Ja zueinander und leben un­verheiratet zusammen – solange, bis einer von ihnen keine Lust mehr dazu hat. Gott­vertrauen dagegen ist es, die Ehe nicht zu brechen, sondern sie als Gottes gute Ordnung zu bewahren. Lügen­vertrauen ist es auch, aus Bequem­lichkeit, Angst, Gewinnsucht oder selbst­gemachten Gerechtig­keits­vorstellun­gen heraus zu stehlen, zu unter­schlagen, zu hinter­ziehen, zu betrügen, Preise zu drücken, mangelhafte Ware auf­zuschwat­zen, es beim Ausfüllen von Formularen mit der Wahrheit nicht ganz so genau zu nehmen und der­gleichen. Gott­vertrauen ist es, lieber arm und ehrlich zu leben.

Lügen­vertrauen ist es schließ­lich, wenn wir meinen, christ­licher Glaube beschränke sich auf den Bereich kirchlicher Aktivitäten – zum Beispiel darauf, dass wir jeden Sonntag mit halbem Ohr eine Predigt hören, un­konzen­triert das Vaterunser mitbeten und die Los­sprechung von Sünden uns so unbeteiligt abholen wie Kleidungs­stücke aus der Reinigung. Wer meint, dass das bloße Ritual den rechten Glauben ausmacht, der vertraut auf Lügenworte, die Jeremia so nachäfft: „Hier ist Gottes Haus. Gottes Haus ist hier; hier ist doch Gottes Haus!“ Gott­vertrauen dagegen führt zu wahrer Reue und Buße: Abkehr von gottlosen Lügenworten und von den Götzen unserer Zeit, Hinkehr zu Gottes Geschenk des ewigen Lebens im vollen Vertrauen auf seine Verheißung. Solche Buße beinhaltet auch den Willen zur Besserung, denn, wie gesagt, Gott verdient unser Vertrauen in allen Bereichen des Lebens. Weil uns Lügenworte aber so leicht und schnell vom Gott­vertrauen abbringen können, ist es nötig, dass unser Leben eine „tägliche Reue und Buße“ ist, wie Martin Luther es am Anfang seiner 95 Thesen formuliert hat. Genau das sagt Gott uns auch noch heute durch seinen Propheten Jeremia: Unser Leben sei eine ständige ernsthafte Hinwendung zu Gott. So entspricht es dem Gott­vertrauen, und so entspricht es darum auch dem selig­machenden Glauben an unsern Herrn Jesus Christus. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1980.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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