Glaube statt Nihilismus

Predigt über Prediger 9,13‑16

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Der Prediger war ein alter Mann. Er hatte das Leben von vielen Seiten kennen­gelernt: als einer, der herrscht; als einer, der richtet; als einer, der Weisheit sucht; als einer, der Reichtum sammelt; als einer, der kritisch fragt; als einer, der sich müht und plagt. Jetzt, wo sein Tod in greifbare Nähe gerückt war, erkannte er: Das nützt alles nichts. Was wir eben gehört haben, ist ein Beispiel von vielen, die er dafür angeführt hat. Die Erfahrung, die dahinter steckt, lautet: Das Gute geht unter und das Schlechte setzt sich durch unter der Sonne, also in der Welt.

Da ist eine kleine Stadt. Sie gerät in eine gefährliche Situation. Es besteht die Möglich­keit, der Gefahr zu entrinnen: Wenn man nämlich auf den armen Weisen hören würde, der in der Stadt wohnt. Man tut es nicht, man kommt nicht auf diese Idee. Man beachtet den Weisen nicht, die Dummheit triumphiert und… Das Ende kann sich jeder selbst ausmalen, der Prediger braucht es gar nicht aus­zusprechen: Das Gute geht unter, das Schlechte setzt sich durch.

Der Prediger hat heraus­gefunden, dass die Weisen seiner Zeit den Mund zu voll nehmen – all diese politischen Berater, die Rechts­gelehrten, die Lehrer, die Wissen­schaftler: Sie glauben, für alles die richtige Erklärung gefunden zu haben. Alles pressen sie in das System: Wie du bist, so geht es dir. Sie sagen: Wo ein Weiser ist, da klappt alles, aber wo ein Narr ist, da geht alles schief. Sie machen große Ver­sprechun­gen, was für Nutzen die Weisheit doch habe, und bauen in ihren Hörsälen hübsch-handliche Modelle der Welt. Der Prediger weiß, dass das Karten­häuser sind. Er will die Richtigkeit der Theorie zwar nicht grund­sätzlich anzweifeln, aber er hat erfahren, dass sie in der Praxis nichts nützt. Er greift die Theorie zwar auf und sagt: „Besser ist Weisheit als Stärke“, und: „Worte von Weisen, in Ruhe gehört, sind besser als Geschrei eines Herrschers bei den Narren“, aber seine Erfahrung mit der Praxis sieht so aus: „Die Weisheit des Armen wird gering geschätzt, und seine Worte werden nicht gehört.“ Weisheit nutzt niemandem etwas, wenn er nicht den nötigen Einfluss hat. Das Gute geht unter (nämlich das, was sich gemäß der Theorie durchsetzen müsste)‘ und das Böse setzt sich durch (nämlich das, was gemäß der Theorie untergehen müsste).

Man kann die Haltung des Predigers Senilität nennen. Wer Augen und Ohren offen hält, merkt ja, dass mit dem Alter die Resignation zunimmt. Andersherum wird von der Jugend oft über­schwäng­licher Idealismus erwartet. Ich meine aber, dass man gar nicht sehr alt zu werden braucht, um in der Welt, in der wir leben, die gleiche Erfahrung zu machen wie der Prediger damals: Das Gute geht unter, das Böse setzt sich durch. Denn wie sieht es aus in der Welt? Bei allem Fortschritt in Kultur und Technik gibt es immer noch schreck­liche Kriege. Und wie sieht es aus bei denen, die sich auf Christus berufen? Die falschen Propheten und frag­würdigen Glaubens­gemeinschaf­ten verzeichnen zahlen­mäßig Erfolge, während sich da, wo man sich wirklich um die Predigt des Evangeliums müht, Stagnation und Resignation breit­machen. Denn wie sieht es denn aus in den christ­lichen Kirchen? Setzt sich das Gute durch? Und wie sieht es in uns selbst aus? Ein so großer Heiliger wie der Apostel Paulus hat von sich gesagt: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Römer 7,19). Das Gute geht unter, das Böse setzt sich durch. Ausnahmen bestätigen die Regel; das muss im Sinne des Predigers gesagt werden, denn sonst würde man ja auch wieder nur eine Theorie aufstellen, diesmal mit umgekehrtem Vorzeichen. Es setzt sich also auch hin und wieder mal das Gute durch, nur kann man sich eben nicht darauf verlassen.

Wenn man in dieser Richtung weiter­denkt, dann landet man im Nihilismus. Das tue ich nicht, sonst würde ich nicht predigen. Dass ich nicht im Nihihismus lande, liegt aber nicht daran, dass ich klüger wäre als der Prediger, sondern daran, dass ich eine Realität in die Betrachtung einbeziehe, die der Prediger in seiner Weltsicht „unter der Sonne“ außen vor gelassen hat. Diese Realität heißt Jesus Christus. In unbedingter Liebe zu uns Menschen hat Gott nämlich etwas völlig Un­begreif­liches getan: Er hat zugelassen, dass sein Sohn – und damit er selber, der absolut Gute – durch die trium­phierende menschliche Bosheit umgebracht wird. Aber gerade dadurch hat er die einzig wahre Hoffnung geschenkt, die diese Welt in ihrer selbst­verschul­deten Bosheit hat. In der Welt geht das Gute unter, und das Schlechte setzt sich durch – aber Christus hat die Welt überwunden! Mit seiner Herrschaft haben wir das trium­phierende Beste, was es für uns Menschen gibt.

Noch ist diese Herrschaft Christi nicht für jeden sichtbar, sondern verborgen und nur im Glauben an Gottes Verheißungen erkennbar. Noch zieht sich die Nacht des Bösen durch Welt, Kirche und unser persön­liches Leben. Aber lassen wir uns nicht vom Augenschein und von der Welt irre machen. Denken wir lieber daran, dass wir nicht mehr nach irdischem Erfolg und Wohlergehen zu schielen brauchen, weil für uns als Himmels­bürger der Sieg des Guten schon errungen ist. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1978.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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