Von der Verachtung

Predigt über Psalm 22,7-9 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

„Die Würde des Menschen ist un­antastbar“, so beginnt der erste Artikel unseres deutschen Grund­gesetzes. Das bedeutet: Jeder soll fair und menschlich behandelt werden. Dies ist ein Grundprinzip in jedem Rechtsstaat. Wir können Gott dankbar sein, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Andererseits macht es uns betroffen und traurig, wenn wir hören, dass Menschen unfair und unmenschlich behandelt werden. Manche von ihnen werden aus der Gesellschaft ausgegrenzt; niemand will etwas mit ihnen zu tun haben. Manche von ihnen werden dauernd durch den Kakao gezogen; niemand nimmt sie ernst. Manche von ihnen werden wie Dreck behandelt; niemand kümmert sich um ihre Bedürfnisse und Gefühle. Das kommt leider auch in Rechts­staaten vor, und auch in unserem Land. In Familien und Schulen, an Arbeits­plätzen und anderswo geschieht immer wieder sogenanntes Mobbing: Eine Mehrheit wendet sich gegen Einzelne, verachtet sie, verspottet sie und behandelt sie wie Dreck. Man kann sich zwar dagegen wehren in einem Staat, wo die Würde des Menschen unantastbar ist, aber viele tun es nicht. Von den Gerichten und Behörden freilich wird erwartet, dass sie ganz genau auf eine faire und menschliche Behandlung jedes einzelnen Bürgers achten, sogar wenn er ein Straftäter ist oder ein gemeiner Kerl. Manche Leute finden, dass die offiziellen Stellen dabei etwas zu weit gehen und den Täterschutz ernster nehmen als den Opferschutz. Darüber muss nachgedacht und diskutiert werden. Grund­sätzlich aber ist es gut und segensreich, wenn die Würde des Menschen nicht angetastet wird, und zwar ohne Ansehen der Person.

Jesus lebte damals nicht in einem Rechtsstaat. Für Angeklagte und für Verurteilte gab es noch keinen Täterschutz. Wenn jemand als Schwer­verbrecher galt, dann meinte niemand, dass seine Menschen­würde geschützt werden muss. Verurteilte wurden allgemein verachtet; sie wurden unfair und unmenschlich behandelt. Sie hatten einfach keinen Platz mehr in der Gesell­schaft. Als Jesus fest­genommen, verhört und schließlich zum Tode verurteilt wurde, musste er das am eigenen Leib erfahren.

Die Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes haben genau doku­mentiert, wie unmenschlich man Jesus in den letzten Stunden seines Erdenlebens behandelte. Es ist gut, dass wir jedes Jahr in den Passions­andachten ausführlich davon hören. Manches davon haben Gottes Propheten schon Jahrhunderte vorher geweissagt. Teilweise kann man da bereits den Gottessohn selbst aus diesen Propheten heraushören. Das ist vor allem in den Psalmen der Fall, die von den Leiden des Messias handeln. Besonders deutlich wird das im 22. Psalm, dem sogenannten Leidenspsalm Jesu. Als Jesus schon am Kreuz hing, kurz vor seinem Tod, hat er bezeugt, dass dieser Psalm sein Psalm ist und dass er darin selbst zu Wort kommt. Da hat er nämlich den Anfang dieses Psalmgebets heraus­geschrien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch die Verse dieses Psalms, die wir hier jetzt bedenken, sind Worte des leidenden Gottes­sohnes: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volke. Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf und schütteln den Kopf: Er klage es dem Herrn, der helfe ihm heraus und rette ihn, hat er Gefallen an ihm.“

Ja, gänzlich verachtet war er vom Volk. Die Menschen um ihn herum hatten ihn ausgegrenzt; er galt nicht mehr als Mitglied der Gesell­schaft. Mit seiner Kleidung hatte man ihm seine Menschen­würde weggenommen. Er wurde wie Dreck behandelt, wie Ungeziefer, wie „Gewürm“. Deutlich zeigte sich die Verachtung auch in dem Spott, den man über ihm aus­schüttete. Schon beim Palast des Pilatus hatten sich Soldaten über Jesus lustig gemacht: Sie hatten ihn als König verkleidet, mit einem Kranz aus Dornen gekrönt und dann über seine Wehr­losigkeit gelacht. Auf Golgatha erschienen seine Richter aus dem Hohen Rat und spotteten auf ihre Weise. Unter anderem sagten sie: „Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat“ (Matth. 27,43). Genau dies ist in Jesu Leidenspsalm prophezeit, wenn es da heißt: „Er klage es dem Herrn, der helfe ihm heraus, hat er Gefallen an ihm.“

Der himmlische Vater hatte wirklich Gefallen an ihm, seinem eingeborenen Sohn. Bei Jesu Taufe hatte er seine Stimme deutlich hören lassen: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Matth. 3,17). Aber auch an uns armen Sündern hat der himmlische Vater ein Wohl­gefallen; aus diesem Grund hat er Jesus nicht vom Kreuz herunter­geholt und ihn vor seinen Verächtern gerecht­fertigt. Aus Liebe zu uns hat er es zugelassen, dass man seinem eingeborenen Sohn nicht nur seine Gotteswürde raubte, sondern auch seine Menschen­würde. Denn Jesus ist ja das Ebenbild des lebendigen Gottes, und als Mensch war er nach Gottes Bild gestaltet. Aber die Leute unter dem Kreuz wussten das nicht, oder sie wollten es nicht wissen. So kam es zu dieser tiefen Erniedrigung und unsäglichen Verachtung.

Liebe Brüder und Schwestern, uns zugut hat Christus das alles auf sich genommen. Uns zugut hat er Spott und Verachtung erduldet. Uns zugut hat er sich ohne Widerrede unfair und unmenschlich behandeln lassen, wie einen „Wurm“, wie Ungeziefer, wie Dreck. Uns zugut hat er darauf verzichtet, mit eindrucks­voller Wundermacht vom Kreuz herunter­zuspringen und den Spöttern das Maul zu stopfen; vielmehr hat er geduldig ausgeharrt bis zum Ende. Uns zugut hat seine Seele erfahren, was es bedeutet, ganz und gar von Gott verlassen zu sein. Er hat es getan, damit der Riss zwischen uns Sündern und dem heiligen Gott heilen kann. Er hat es getan, damit wir durch Taufe und Glaube neue Geschöpfe werden. Er hat es getan, damit wir unsere ur­sprüngliche Gottes­ebenbildlich­keit zurück­erlangen. Er hat es getan, damit wir Gotteskinder werden und ewig leben. Wir können unserem Heiland und unserem himmlischen Vater sehr dankbar sein für diese Erlösung – tausendmal dankbarer noch als für die Tatsache, dass wir in einem Rechtsstaat leben.

Und doch hat auch die Tatsache, dass wir in einem Rechtsstaat leben, mit Jesu Opfer am Kreuz zu tun. Denn an Jesus und an seiner Erlösung haben viele Menschen erkannt, dass Gott ohne Ansehen der Person liebt. Auch wenn Menschen Gott noch so sehr beleidigt und verachtet haben, hält er ihnen die Tür zur Umkehr offen um des Opfers willen, das Jesus am Kreuz für die Sünden der Welt gebracht hat. Diese Erfahrung hat das christliche Menschenbild geprägt und ist in den vergangenen Jahr­hunderten zu einem wesentlichen Teil unserer Kultur geworden. Darum beginnt unser Grundgesetz mit der Fest­stellung, dass die Würde des Menschen unantastbar ist – und zwar unabhängig davon, ob sich jemand dieser Menschen­würde würdig erweist oder nicht. Dieses Grundgesetz hat sich das deutsche Volk „im Bewusstsein seiner Ver­antwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben, heißt es in der Präambel. Damit ist kein anderer Gott gemeint als der dreieinige Gott: der Vater, der ausnahmslos alle Menschen nach seinem Bild geschaffen hat; der Sohn, der die Schuld ausnahmslos aller Menschen durch sein Opfer am Kreuz überwunden hat; und der Heilige Geist, der durch das Evangelium ausnahmslos alle Menschen in Gottes Reich ruft. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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