Von der Angst

Predigt über Psalm 6,3-4 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Als Jesus zu seinen Jüngern sagte: „In der Welt habt ihr Angst“, da wusste er aus eigener Erfahrung, wovon er sprach (Joh. 16,33). Kein Mensch kann ohne Angst in der Welt leben, darum hat auch Jesus in seiner menschlichen Natur dieses Gefühl erfahren. Im Garten Gethsemane hat er sogar Todesangst durchlitten. Wenn wir nun in den Psalmen von der Angst lesen, dann kommt da nicht nur allgemein die menschliche Angst zur Sprache, sondern dann handelt es sich zugleich um prophetische Worte, in denen der leidende Christus seine Stimme erhoben hat. So ist das auch bei den Worten aus dem sechsten Psalm, die wir eben gehört haben: „Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach; heile mich Herr, denn meine Gebeine sind erschrocken und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange!“

Wenn wir uns jetzt näher mit der Angst beschäftigen – sowohl mit unserer eigenen Angst als auch mit der Angst des Herrn Jesus Christus – , dann lasst uns zunächst bedenken, dass die Angst viele Gesichter hat. Sie ist auch nicht einfach nur ein Gefühl in unserer Seele, sondern sie wirkt sich ebenso am Körper aus. Beides finden wir in unserem Psalmwort ausgedrückt: „Meine Gebeine sind erschrocken und meine Seele ist sehr er­schrocken.“ Wenn uns ein gefährlicher Hund anspringt, dann fährt uns der Schreck in alle Glieder. Vor einer Prüfung können wir Herzklopfen kriegen oder Magen­drücken. Wenn wir aus einem Albtraum erwachen, kann es sein, dass wir schweiß­gebadet sind. Wenn Leute Lampenfieber haben, dann kann ihre Kehle wie aus­getrocknet sein oder wie zugeschnürt. Und wenn es in unserer Nähe laut knallt, dann zucken wir zusammen. Ja, die Angst hat viele Gesichter und wirkt sich vielfältig auf Leib und Seele aus.

Damit wir die Angst etwas besser begreifen können, möchte ich sie in drei Gruppen einteilen: erstens die hilfreiche Angst, zweitens die hilflose Angst und drittens die hilfe­suchende Angst.

Kommen wir erstens zur hilfreichen Angst. Wenn ich mich bei Gewitter verkrieche, vor einem Raubtier erschrecke oder in einer Gefahren­situation besonders aufmerksam bin, dann ist solche Angst hilfreich und kann mir unter Umständen sogar das Leben retten. Angst ist ein natürliches Warnsystem, das mich Vorsicht lehrt. Gott hat alle Menschen mit diesem Warnsystem aus­gestattet, auch seinen eingeborenen Sohn Jesus Christus in seiner menschlichen Natur. Es wäre nicht im Sinne des Schöpfers, wenn wir dieses natürliche Warnsystem der Angst mit Gewalt ausschalten und leichtsinnig werden würden. Diese Gefahr besteht zum Beispiel dann, wenn wir uns zu sehr an gefährliche Situationen gewöhnen. Wenn zum Beispiel jemand ständig auf hohen Leitern herumturnt, dann kann es sein, dass er bald gar keine Höhenangst mehr empfindet; aber gerade das macht die Situation gefährlich. Oder es kann sein, dass jemand große Angst vor dem Fliegen hat, weil er selten fliegt; aber er fährt täglich ohne Angst Auto – und zwar so leicht­sinnig, dass ein Autounfall hundertmal wahr­scheinlicher ist als ein Flugzeug­absturz. Auch wenn Angst immer unangenehm ist – wir sollten Gott dankbar sein für die hilfreiche Angst; sie ist eine gute Schöpfer­gabe.

Kommen wir zweitens zur hilflosen Angst. Im Gegensatz zur hilfreichen Angst ist sie eine Angst, die einen Menschen schwächt, ja, die ihn sogar lähmen kann. Wer von hilfloser Angst geplagt wird, hat das Gefühl, dunklen Mächten ausgeliefert zu sein. Diese hilflose Angst kann einen Menschen tagelang als trostloses Gefühl begleiten und alle Lebensfreude töten, sie kann aber auch als Panikattacke plötzlich über ihn kommen – ganz ohne ersicht­lichen Grund. Solche hilflose Angst wird heute oft als krankhaft angesehen, aber eigentlich liegt das Problem tiefer. Diese hilflose Angst lässt sich nicht ohne weiteres therapieren wie ein Schnupfen oder wie ein gebrochener Arm. Von dieser Angst handelt unser Psalmwort, denn der Psalmbeter klagt: „Ich bin schwach!“ Er sieht keinen Ausweg, kein Licht am Ende des Tunnels, und klagt deshalb: „Ach du, Herr, wie lange!“ Diese hilflose Angst ist nichts Natürliches. Sie ist kein hilfreiches Warnsystem des Schöpfers, sondern sie hat ihre Ursache darin, dass wir Menschen uns vom Schöpfer entfernt haben. Der Anfang des Psalms nennt es beim Namen: „Ach Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!“ Der Mensch trägt Sünde in sich, Entfremdung vom All­mächtigen. Das plagt sein Gewissen, und er fürchtet sich vor Gottes Strafe – bewusst oder unbewusst. Diese hilflose Angst wird zur Heidenangst, wenn der Mensch meint, dass er blinden oder gar bösen Schicksals­mächten ausgeliefert ist. Diese hilflose Angst entspricht auch der Todesangst, denn der Tod ist keineswegs etwas Schöpfungs­gemäßes oder Natürliches, sondern die Folge der Sünde. Die hilflose Angst tritt auch immer dann besonders deutlich zutage, wenn Menschen unmittelbar etwas von der Herrlichkeit Gottes erfahren; sie sind dann zu Tode erschrocken, bis Gott ihnen zuruft: „Fürchtet euch nicht!“ Man könnte nun denken, dass unserm Herr Jesus Christus solche hilflose Angst erspart geblieben ist, denn er war ja kein Sünder. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass er die Last unserer Sünde auf sich geladen hat mit all ihren Kon­sequenzen. So blieb Jesus auch die bittere Erfahrung der Todesangst nicht erspart, dieser ohnmächtigen Angst, die sich hilflos dem göttlichen Urteil über die Sünde ausgeliefert sieht. Als Jesus im Garten Gethsemane war, zitterte und zagte und schwitzte er heftig, und er rief aus: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“ (Markus 14,33‑34; Lukas 22,44). So hören wir auch Christi Stimme aus unserm Psalmwort heraus: „Ich bin schwach… meine Gebeine sind erschrocken und meine Seele ist sehr erschrocken. Ach du, Herr, wie lange!“ Ja, unser Herr weiß sehr wohl, wie sich die hilflose Angst anfühlt. Das ist ein großer Trost für alle, die solche Angst empfinden und darunter leiden. Das Beste aber ist: Unser Herr hat diese Angst nicht nur auf sich genommen, sondern er nimmt sie uns auch ab. Weil er unsere Sündenschuld getragen hat, haben wir keinen Grund mehr zu hilfloser Angst. Christi Gerechtig­keit triumphiert über unsere Sünde, und so triumphiert das Leben über den Tod. Wenn wir darauf vertrauen, verliert unsere hilflose Angst ihre Grundlage, und wir werden heil.

Damit sind wir schon beim dritten Punkt, der hilfe­suchenden Angst. Gott hat nicht versprochen, dass mit der Taufe alle Angst wie weggeblasen ist. Nein, solange wir in dieser Welt leben, wird die Angst uns begleiten; erst im Himmel werden wir keine Angst mehr haben. Aber die Angst von Menschen, die in Gott geborgen sind, ist keine Verzweiflung und Panik mehr, sondern eine Kraft, die ins Gebet treibt. Alle unsere Sorgen dürfen und sollen wir ja auf Gott werfen; das macht unsere Beziehung zu ihm nur noch fester. Unser Psalmwort ist deswegen keine bloße Abhandlung über die Angst, sondern ein Gebet – das Gebet einer geängsteten Seele, die in ihrer Not Gott um Hilfe bittet. „Herr, sei mir gnädig!“, heißt es da; und: „Heile mich, Herr!“ So ein Hilfeschrei eines geängsteten Herzens zu Gott. das ist eigentlich Glaube. Da erkennt einer, dass er sich selbst nicht helfen kann, sondern dass er in seiner Sünde vergehen und sterben muss. Er schreit zu Gott, bittet um Gnade und Hilfe – und macht die beglückende Erfahrung, dass seine Hilferuf erhört wird. Gott zieht ihn heraus aus seiner Not, Gott vergibt ihm die Sünde und schenkt ihm das ewige Leben. Liebe Brüder und Schwestern, wenn wir keine hilfe­suchende Angst hätten, dann würde uns diese wichtige Glaubens­erfahrung fehlen. Die Gewissheit aber, dass uns wirklich geholfen wird, die kommt von Jesus her und von seiner Todesangst, die er für uns ausgestanden hat. Als ihn im Garten Gethsemane die Todesangst mächtig drückte, wurde sie auch für ihn zur hilfe­suchenden Angst. Er betete: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ Es sind Worte, wie sie prophetisch bereits im sechsten Psalm angeklungen sind: „Herr, sei mir gnädig! … Heile mich, Herr!“ Aber dann hat er noch die folgenden Worte hinzugefügt: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Der himmlische Vater hat dieses Gebet seines Sohnes in wunderbarer Weise erhört. Er hat seinen Willen mit Jesus zuende gebracht – den Willen, dass durch seinen Tod alle Menschen das ewige Leben haben können. Zugleich aber hat er seinen Sohn gestärkt, dass er diesen für ihn so harten und bitteren Willen ertragen konnte.

„In der Welt habt ihr Angst“, sagte Jesus zu seinen Jüngern, „aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“. Weil das so ist, können wir in allen Ängsten getrost sein – egal, mit welchen ihrer tausend Gesichter sie uns begegnet. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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