Jesus und die Feiertagsheiligung

Predigt über Matthäus 12,1-14 zum 2. Sonntag nach Epiphanias

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Seit Jahren wird in Deutschland über das Ladenschluss­gesetz diskutiert. Es geht vor allem darum, ob Geschäfte auch sonntags öffnen dürfen. Bisher geht das nur in bestimmten Ausnahme­fällen. Viele Geschäfts­leute meinen allerdings, man sollte mehr Ausnahmen machen, aber Kirchen und Gewerk­schaften sind dagegen. Gründe gibt es genug: Die Angestellten sollen sonntags bei ihrer Familie sein können, und es soll eine allgemeine Sonntagsruhe herrschen. Seltener hört man das Argument, dass die Sonntagsruhe vielen Menschen den Kirchgang ermöglicht. Noch seltener wird auf Gottes Gebot hingewiesen, dass nach sechs Arbeitstagen ein Feiertag eingelegt werden soll. Man hat den Eindruck, dass dieses Gebot in unserer Gesellschaft bereits stark aufgeweicht ist: Kioske und Restaurants haben ganz selbst­verständlich sonntags geöffnet, auch Theater und Kinos und Vergnügungs­parks. Viele Fabriken dürfen sieben Tage die Woche produzieren, damit sie ihre Maschinen optimal ausnutzen können. Wo bleibt da Gottes Gebot: „Du sollst den Feiertag heiligen“? Und was sagt Jesus dazu? Was lehrt uns sein Beispiel, das wir eben als Predigttext gehört haben? Vier Lektionen erkenne ich darin.

Erste Lektion: Jesus ist Herr über den Feiertag. Dieser Satz steht mitten drin in unserer Geschichte: „Der Menschensohn ist ein Herr über den Sabbat.“ Mit dem Menschensohn meinte Jesus sich selbst, und „Sabbat“ ist das hebräische Wort für Ruhetag. Jesus sagte diesen Satz an einem Sabbat. Kurz vorher ernteten seine Jünger Getreide für den persönlichen Verzehr, und kurz hinterher heilte Jesus einen Mann mit gelähmter Hand. Einige Pharisäer nahmen daran Anstoß, denn die Satzungen der jüdischen Gesetzes­lehrer verboten sowohl Erntearbeit als auch medizinische Behandlungen am Sabbat. Jesus hielt dagegen: „Der Menschensohn ist ein Herr über den Sabbat.“ Diese Lektion ist nicht so sehr eine Lektion über das Feiertags­gebot als eine Lektion über Jesus selbst. Er ist der eingeborene Sohn des himmlischen Vaters, darum ist er nicht zum Gebots­gehorsam ver­pflichtet. Er ist ein Herr über alle Gebote und überhaupt über alles; als König aller Könige hat er alle Freiheiten. Das ist auch das Thema der Epiphanias­zeit: die Herrlichkeit des Gottessohns. Wind und Wellen und alle Natur­gewalten sind ihm untertan; er ist keinem Naturgesetz unterworfen, und auch sonst keinem Gesetz. Er tut Wunder, er heilt, er speist Tausende auf wunderbare Weise. Wir können uns freuen, dass wir so einen herrlichen Herrn haben. Wir beten ihn an und unterstellen uns seiner Herrschaft. Wir tun das gemeinsam an unserem wöchent­lichen Feiertag, dem Sonntag, wenn wir zum Gottesdienst zusammen­kommen. Darum möchte ich diese erste Lektion unserer Geschichte besonders betonen, die in manchen Bibel­ausgaben deswegen auch fett gedruckt ist: Jesus ist der Herr über den Feiertag.

Zweite Lektion: Es gibt Ausnahmen vom Gesetz. Das wird besonders deutlich am ersten Fall von ver­meintlicher Sabbat­übertretung, von dem unser Predigttext handelt. Um ihn in der heutigen Zeit richtig zu verstehen, müssen wir ihn uns etwas genauer anschauen. Unter den Sozial­gesetzen im alten Israel finden wir die Anweisung, dass Bauern ihre Felder nicht vollständig abernten sollen, sondern sie sollen etwas übrig lassen für Bedürftige. Jesu Jünger waren solche Bedürftigen; sie hatten wenig Geld und viel Hunger. Deswegen durften sie in fremden Kornfeldern Ähren abflücken für den eigenen Bedarf. Daran konnten die Pharisäer keinen Anstoß nehmen, das war erlaubt. Die Pharisäser nahmen aber an dem Zeitpunkt des Pflückens Anstoß: Ähren abpflücken ist Erntearbeit, so argumen­tierten sie, und die ist nach rabbinischer Gesetzes­auslegung am Sabbat verboten. Man könnte erwidern, dass ein bisschen Ähren­abpflücken bei einem Spaziergang durchs Kornfeld kaum eine Arbeit genannt werden kann. Aber Jesus ließ sich gar nicht erst auf so eine spitzfindige Diskussion ein, sondern argu­mentierte grund­sätzlicher. Er sagte: Manchmal muss man das buch­stäbliche Verständnis eines Gebots übertreten, um den Sinn von Gottes Gesetz aufrecht zu erhalten. Dazu führte er Beispiele aus dem Alten Testament an. Die Priester im Tempel, sagte er, müssen ja auch am Sabbat arbeiten, wenn sie Opfer darbringen und andere heilige Dienste tun. Wörtlich sagte Jesus: „Habt ihr nicht gelesen im Gesetz, wie die Priester am Sabbat im Tempel den Sabbat brechen und sind doch ohne Schuld?“ Wer wollte heute einem Pastor vorwerfen, dass er immer sonntags arbeitet? Jesus erinnerte auch an David auf der Flucht: David stärkte sich mit heiligen Broten, die eigentlich zur Ausstattung des Heiligtums gehörten und nur von Priestern gegessen werden durften; er tat es mit aus­drücklicher priester­licher Zustimmung. Wer wollte fordern, man sollte lieber verhungern als eine kleine Ordnungs­widrigkeit begehen? So war das auch bei Jesu Jüngern: Sie sollten lieber am Feiertag ein paar Ähren abpflücken als hungern. Wir können in der Bibel weitere Beispiele finden, wie Menschen ausnahms­weise und aus guten Gründen gegen den Buchstaben von Gottes Gesetz verstießen und dabei trotzdem alles richtig machten. Ich denke, dieser Lektion wird heute kaum jemand wider­sprechen: Es gibt Ausnahmen vom Gesetz.

Dritte Lektion: Gottes Gesetz fordert mehr als formalen Gehorsam. Diese dritte Lektion wehrt ein Miss­verständnis ab, das aus der zweiten entstehen könnte. Man könnte den Satz „Es gibt Ausnahmen vom Gesetz“ nämlich so miss­verstehen, als ob man es mit Gottes Geboten nicht so genau zu nehmen braucht. Sogar viele Christen denken heute so. Manchen hat man weisgemacht, dies sei die christliche Freiheit, die mit der Reformation entdeckt wurde. Viele meinen nun, man brauche die Zehn Gebote nicht besonders ernst zu nehmen, vor allem nicht das Gebot der Feiertags­heiligung. Und manche gehen so weit zu sagen, Jesus hätte die Gebote abgeschafft oder sie zumindest auf den Rang un­verbind­licher Empfehlungen herab­gestuft. Einige behaupten auch, der Mensch habe ein Recht auf vollkommene Autonomie, also auf völlige Selbst­bestimmung ohne Rücksicht auf göttliche Gebote. Aber so ist es nicht – das muss jeder einsehen, der sich ein wenig tiefer mit der Bibel und mit den Worten Jesu beschäftigt. Denn Jesus hat Gottes Gesetz keineswegs für un­verbindlich erklärt, sondern im Gegenteil: Er hat es verschärft. Immer wieder hat er deutlich gemacht: Mit der Befolgung einzelner Vorschriften und Satzungen ist es nicht getan; Gott fordert mehr vom Menschen, mehr als formalen Gehorsam. Das zeigt sich auch an Jesu Argumenten in der Sabbatfrage, und es zeigt sich vor allem an seinem persönlichen Verhalten. Er selbst stillte nämlich nicht seinen Hunger, als sie durchs Kornfeld gingen, aber er erlaubte es seinen Jüngern. Sie taten ihm leid; er wollte nicht, dass sie mit knurrenden Mägen weiterziehen müssen. So hat er sich seinen Jüngern gegenüber barmherzig erwiesen, und aus demselben Grund verteidigte er auch ihr Verhalten vor den Pharisäern. Dabei zitierte er ein Propheten­wort. Er sagte: „Wenn ihr aber wüsstet, was das heißt: ‚Ich habe Wohlgefallen an Barm­herzigkeit und nicht am Opfer‘, dann hättet ihr die Unschuldigen nicht verdammt.“ Die Pharisäer waren es, die mit ihrer Lieb­losigkeit und mit ihrer un­barmherzigen Strenge Gottes Gesetz übertraten, nicht die Jünger, die am Sabbat ihren Hunger stillten. Und nach der Heilung des Mannes sagte Jesus in demselben Sinne: „Man darf am Sabbat Gutes tun.“ Immerhin war es nach rabbinischen Satzungen erlaubt, ein Haustier am Sabbat aus einer Notlage zu befreien; sollte man da nicht erst recht einem Menschen helfen dürfen? Das ist ja das Wichtigste und Eigentliche, was Gottes Gesetz fordert: barmherzige Nächsten­liebe. Wer die verletzt, versündigt sich – und nicht derjenige, der um der Liebe willen ausnahms­weise eine Regel übertritt. Denn, wie gesagt: Gottes Gesetz fordert mehr als formalen Gehorsam.

Wir kommen nun zur vierten und letzten Lektion: Das Gesetz klagt an, aber Jesus befreit. Jesus hat seine Argumente nicht deswegen vorgebracht, um sich selbst zu recht­fertigen, auch nicht unbedingt deswegen, um seine Jünger zu entlasten. Vielmehr klagte Jesus mit seinen Argumenten die Pharisäer an. Er führte ihnen vor Augen: Ihr wollt immer untadelig fromm erscheinen und den Eindruck erwecken, dass ihr die Gebote ganz genau einhaltet, aber in Wahrheit verfehlt ihr den eigentlichen Sinn von Gottes Geboten, nämlich die Liebe. Liebe Brüder und Schwestern, das steht nicht deshalb in der Bibel, damit wir uns mit dem bequemen Abstand von zweitausend Jahren über die Pharisäer erhaben fühlen können. Nein, es steht in der Bibel, damit wir uns selbst prüfen. Könnte es sein, dass diese Anklage auch mich betrifft? Könnte es sein, dass ich in meinem Leben immer wieder den Hauptsinn von Gottes Gesetz verfehle, dass es mir also an barmherziger Liebe meinen Mitmenschen gegenüber mangelt – allen Mitmenschen gegenüber, ohne Ansehen der Person? Könnte es sein, dass ich mir auf meine Anständig­keit etwas einbilde, weil ich nicht lüge, nicht stehle und nicht ehebreche? Könnte es sein, dass ich stolz bin auf meine Korrektheit, weil mir niemand etwas vorwerfen kann? Aber zugleich mangelt es mir an Liebe. Ich habe so wenig Mitgefühl mit denen, die hungern oder frieren oder kein richtiges Zuhause haben. Meine eigene Bequemlich­keit ist mir wichtiger als das Wohlergehen meiner Mitmenschen. Diese vierte Lektion ist die schwerste: Das Gesetz klagt mich an. Diese Erkenntnis soll mich aber nicht wegtreiben vom Herrn Jesus Christus, sondern im Gegenteil: Sie will mich zu ihm hintreiben. Ja, ich will sein Patient werden wie der Mann mit der gelähmten Hand, denn ich weiß: Bei Jesus finde ich Heilung. Und ich will sein Jünger werden, denn ich weiß: Bei Jesus darf ich meinen Hunger stillen, meinen ganzen Lebens­hunger. Jesus befreit mich von meiner Schuld und lehrt mich Gottes Liebe. Durch sein Opfer am Kreuz werde ich frei von der Anklage des Gesetzes und kann vor Gott bestehen. Ja, das Gesetz klagt mich zwar an, aber Jesus befreit mich von dieser Anklage und schenkt mir ewiges Leben in Gemeinschaft mit Gott.

Liebe Brüder und Schwestern, diese vier Lektionen geben uns zwar keine direkte Antwort auf die Frage nach den Laden­öffnungs­zeiten am Sonntag. Aber sie stärken uns im Glauben an Jesus Christus und lehren uns, aus diesem Glauben heraus als seine Jünger zu leben. Das macht uns fähig, Lösungen zu finden für die vielen Fragen, die unsere Zeit und unser Alltag uns stellen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2018.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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