Wo Christus lebendig macht

Predigt über Apostelgeschichte 20,6-12 zum Kirchweihfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Man könnte auf die Idee kommen, sich eine Flexi-Kirche zu wünschen, ein Kirchgebäude zum Auseinanderziehen und Zusammen­schieben. Die Flexi-Kirche passt sich mit ihrer Größe der Zahl der Gottesdienst­teilnehmer an. Wir mögen unser schönes altes Kirchgebäude sehr, aber jemand könnte behaupten, dass es für unsere kleine Schar zu groß ist. Nur am Heiligen Abend und bei wenigen großen Festen werden alle Plätze benötigt. Es gibt Gemeinden, die haben das umgekehrte Problem: Ihr Kirchraum platzt bereits an normalen Sonntagen aus allen Nähten.

So war es offenbar damals in Troas gewesen. Die junge Christen­gemeinde hatte in der engen Hafenstadt nur einen kleinen Versammlungs­raum im dritten Stock zur Verfügung. Als der Apostel Paulus auf der Durchreise mit ihnen Gottesdienst feierte, war dieser Raum überfüllt. Der Gottesdienst hatte am Abend begonnen, und Paulus hielt eine sehr lange Predigt, die sich bis Mitternacht hinzog. Die Luft war schlecht, und einige wurden sehr müde. Ein junger Mann saß in der Fenster­öffnung – vielleicht, um frische Luft zu schnappen, vielleicht auch, weil sonst kein Platz war. Jedenfalls schlief er ein und stürzte rücklings aus dem Fenster. Ein Schrei des Entsetzens ging durch die Gemeinde. Paulus unterbrach seine Predigt; einige stürzten hinunter und fanden den Jugendlichen leblos am Boden liegen. Wie konnte es sein, dass Gott so einen Unfall zuließ – mitten beim Gottes­dienst? Alle waren fassungslos und redeten laut durch­einander. Da kam auch Paulus herunter, beugte sich über den Jüngling, legte seinen Arm um ihn und sagte dann: „Keine Aufregung! Er lebt.“ Tatsächlich: Nach einer Weile kam er zu sich und konnte in den kleinen Raum im dritten Stockwerk zurück­gebracht werden. Jesus Christus hatte ihm das Leben bewahrt – oder auch neu geschenkt. Nach dieser Unter­brechung wurde der Gottesdienst mit der Feier des Heiligen Abendmahls fortgesetzt. Wir können uns vorstellen, dass nun ein großer Lob‑ und Dank­gottesdienst daraus wurde. Der Name des jungen Mannes, Eutychus, bedeutet übrigens „der Glückliche“.

Auch wir können Gott loben und danken über diesem Bericht. Es ist eine Rettungs‑ und Wunder­geschichte: Unser Heiland Jesus Christus hat durch den Apostel Paulus ein Wunder getan und Eutychus vor einem tödlichen Ausgang seines Unfalls bewahrt. Das ist so bemerkens­wert, dass wir leicht den Rest dieses Berichts übersehen können. Da wird uns ja nicht nur von diesem Wunder erzählt, sondern da erfahren wir auch manches über den Gottesdienst der ersten Christen. Es sind Dinge, die noch heute für unser Gottesdienst­feiern Bedeutung haben. Das Wichtigste aber betrifft sowohl den Gottesdienst als auch das Wunder: Jesus Christus ist mitten unter uns und errettet vom Tod. Ja, das ist eigentlich der Sinn jedes christlichen Gottes­dienstes: Jesus Christus ist mitten unter uns und errettet vom Tod. Wir können das am Gottesdienst der ersten Christen in Troas erkennen, und wir können es noch heute an unseren Gottes­diensten erkennen, und auch an unserem Gotteshaus. Ein rechter christlicher Gottesdienst ist nicht in erster Linie eine Schulungs-, Werbe‑ oder Konzert­veranstal­tung, sondern eine Begegnung mit unserem lebendigen und lebens­spendenden Herrn.

Gleich zu Anfang des Berichts erfahren wir, dass die Christen sich „am ersten Tag der Woche“ ver­sammelten. Damit ist der Sonntag gemeint, denn eigentlich beginnt die Woche mit dem Sonntag, nicht mit dem Montag. (Andernfalls wäre der Mittwoch kein Mittwoch, sondern der Donnerstag läge in der Mitte der Woche.) Der Sonntag ist der Wochentag, an dem Jesus von den Toten auferstanden ist, darum haben ihn schon die ersten Christen dazu ausersehen, um zusammen­zukommen und mit ihrem lebendigen Herrn Gemeinschaft zu haben. Weil der erste Tag der Woche damals noch ein gewöhnlicher Arbeitstag war, konnte man allerdings erst abends Gottesdienst feiern. Da haben wir es besser: Seit der römische Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert den Sonntag zum Feiertag erklärte, brauchen Christen an diesem Tag normaler­weise nicht zu arbeiten und können sich bereits am Vormittag zum Gottesdienst versammeln.

Die ersten Christen nannten ihre Versammlung allerdings noch nicht „Gottes­dienst“. In unserm Text heißt es: „Als wir versammelt waren, das Brot zu brechen…“ Da merken wir: Die Feier des Heiligen Abendmahls war den ersten Christen so wichtig, dass sie danach den ganzen Gottesdienst benannten. Tatsächlich ist das Heilige Abendmahl noch heute der Höhepunkt des Sonntags­gottes­dienstes. Es gab eine Zeit, da hat man das in der lutherischen Kirche etwas aus dem Blick verloren; man hielt stattdessen die Predigt für das Wichtigste und das Abendmahl für ein Anhängsel; man feierte es deswegen auch nur wenige Male im Jahr. Martin Luther freilich und die lutherischen Bekenntnis­schriften haben betont, dass die Abendmahls­feier normaler­weise zum Gottesdienst dazugehört, ja, dass sie eigentlich das Wichtigste und Heiligste darin ist. Es ist klar, warum: Da begegnen wir dem lebendigen Herrn Jesus Christus in einzig­artiger Weise; da geht er mit den Elementen Brot und Wein leibhaftig in uns ein. Das Altar­sakrament hat Christus uns als Wegzehrung des Glaubens gestiftet für unsere Reise hin zur ewigen Seligkeit. Man kann sagen: Mit dem Heiligen Abendmahl tut er in jedem Gottesdienst ein ähnliches Wunder wie einst an dem jungen Mann in Troas, er erweckt uns damit nämlich geistlich immer wieder neu zum Leben.

Als die Christen später besondere Gotteshäuser bauten, da haben sie durch die Architektur zum Ausdruck gebracht: Hier ist ein Gebäude, wo der lebendige Herr Jesus Christus seinem Volk begegnet und sich ihnen im Heiligen Mahl zur Speise gibt. Der Altar, der Tisch des Herrn, stand deshalb erhöht an der Stirnseite der Halle, die man Basilika nannte, „Königs­halle“. Auch unsere Kirche ist so eine Basilika, und der Altar fällt sofort ins Auge, wenn man hereinkommt. Das Altarbild und das Kreuz auf dem Altar machen deutlich, wer hier die Hauptperson ist. So bekennt unser Kirchgebäude ohne Worte, dass wir hier wie die ersten Christen vor allem zusammen­kommen, um „das Brot zu brechen“, also unserm lebendigen und lebens­spendenden Herrn in der Feier des Heiligen Abendmahls zu begegnen. Alles andere im Gottesdienst und im Gotteshaus ist darauf bezogen. Nehmen wir zum Beispiel die Altarkerzen: Jede einzelne von ihnen weist auf Jesus hin, der gesagt hat: „Ich bin das Licht der Welt“, und die kerzen­förmigen Leuchter im Kirchen­schiff nehmen diese Botschaft auf. Auch damit knüpfen wir an eine urkirchliche Tradition an, denn die Beleuchtung des Gottesdienst­raums war dem Lukas wichtig genug, um sie in seinem Bericht zu erwähnen. Er schrieb: „Es waren viele Lampen in dem Obergemach.“ Dabei handelte es sich um Öllampen, die rechtzeitig nachgefüllt werden mussten. Wem würde dabei nicht Jesu Gleichnis von den klugen Jungfrauen einfallen, die mit ihren Lampen auf den Bräutigam warten? Und wie sich in solchen Lampen das Öl verzehrt, so verzehrt sich das Wachs der Altarkerzen – ein Sinnbild dafür, dass Christus, das Licht der Welt, sich für uns Menschen in Liebe verzehrt hat. Als unsere Kirche elektrifi­ziert wurde, haben technik­begeisterte Gemeinde­glieder allerdings elektrische Altarkerzen angeschafft; man kann heute noch die Spuren von Steckdosen am Altar erkennen. Weil man aber bei den elektrischen Kerzen nicht merkt, dass sie sich verzehren, ist man bald wieder zu den Wachskerzen zurück­gekehrt.

Der Altar ist, wie gesagt, deshalb so wichtig, weil er auf den Höhepunkt des Gottes­dienstes hinweist, auf das Heilige Abendmahl. Unsere Kirche weist wie die meisten anderen Kirchen architek­tonisch darauf hin. Man könnte sogar sagen: Ein Kirchgebäude ist im wesentlichen ein Gehäuse für den Altar. Lesepult und Kanzel flankieren ihn seitlich, Kirchen­schiff und Empore liegen ihm direkt gegenüber. Auch der Ablauf unseres Gottes­dienstes ist so aufgebaut, dass alles auf die Abendmahls­feier hinausläuft.

Unser Bibelwort erwähnt vom damaligen Gottesdienst sonst nur noch die Predigt. Paulus predigte damals lange. Nun ist es allerdings relativ, was man unter einer langen Predigt versteht. Vor hundert Jahren dauerten die Sonntags­predigten hier in dieser Kirche etwa eine Stunde – das ist für heutige Begriff relativ lang, im Vergleich zur Predigt des Paulus in Troas war es aber relativ kurz. Nun wollte Paulus allerdings am nächsten Tag abreisen, und er wusste nicht, ob und wann er die Gemeinde in Troas wiedersehen würde; darum packte er in diese eine lange Predigt alles hinein, was ihm am Herzen lag. Heute muss man auf die begrenzte Kon­zentrations­fähigkeit der Gemeinde Rücksicht nehmen; der moderne Mensch ist kaum noch in der Lage, länger als eine halbe Stunde aufmerksam zuzuhören – vor allem, wenn es um ernste und schwere Gedanken geht. Aber egal ob lang oder kurz – auch die Predigt gehört un­verzichtbar zum Gottesdienst hinzu, zusammen mit den Lesungen aus der Bibel. Darin ist Jesus durch sein Wort gegenwärtig; wir hören und bedenken seine Stimme. So will auch die Predigt nichts anderes, als den lebendigen und lebens­spendenden Herrn zu Wort kommen lassen. Nur darum geht es in der Predigt, nicht um fromme Gedanken oder welt­politische Kommentare des Predigers.

Wort und Sakrament sind gewisser­maßen die beiden Brennpunkte des Gottes­dienstes. Darin ist Christus selbst gegenwärtig und dient uns, sodass wir dadurch immer wieder neu geistlich auferstehen und ewig leben. Unser Dienst aber ist Reaktion und Antwort auf den Dienst des Herrn – unser Bitten, Danken und Loben.

Heute schließen wir in dieses Lob besonders ein, dass wir ein gut geeignetes und schönes Gebäude für unsere Ver­sammlungen um Wort und Sakrament haben. Wir können auch dafür dankbar sein, dass wir hier viel Platz haben: Jeder hat einen Sitzplatz, und beim Abendmahls­gang müssen wir nicht drängeln, und wir können auch noch viel mehr Leute einladen. Falls uns die Kirche aber manchmal zu groß vorkommt für unsere kleine Schar, dann sollten wir daran denken, dass unsichtbar tausende von Engeln mitloben und mitfeiern. Das Wichtigste jedoch ist dies: Auch die kleinste Gottesdienst­gemeinde hat die große Verheißung, dass der lebendige und lebens­spendende Herr anwesend ist. Wie hat er doch versprochen? „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20). Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2017.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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