Was Glaube wirklich ist

Predigt über Psalm 91,1.2.15 zum Sonntag Invokavit

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Vor ein paar Wochen ging folgende Nachricht durch die Presse: Im Harz war viel Schnee gefallen. Da unternahm eine junge Familie aus Hannover eine Winter­wanderung: ein Vater, eine Mutter, die dreijährige Tochter und der Familien­hund. Im Wandergebiet Hahnenklee-Bockswiese machten sie sich auf den Weg – und verirrten sich bald, weil die Wege unter den Schneemassen nicht zu sehen waren. Der Schnee lag dort zum Teil hüfthoch! Nachdem die Wanderer stundenlang umhergeirrt waren, fanden sie schließlich völlig erschöpft eine Schutzhütte. Dort nahmen sie Zuflucht und riefen die Feuerwehr an. Bald darauf wurden sie in Sicherheit gebracht.

Schutzhütten schützen vor Sonne und Regen, vor Hagel und Wind, vor Gewitter und Schnee. Manchmal können sie sogar Leben retten. Und sie können uns verstehen helfen, was Glaube ist. Denn was Martin Luther am Anfang des 91. Psalm mit „Schirm“, „Zuversicht“ und „Burg“ übersetzt hat, das meint eigentlich eine Zuflucht, einen Unter­schlupf, ein Versteck, eine Schutzhütte. Luther hat es für seine Zeit in die wunderbaren Worte gekleidet: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.“ Am Schluss des Psalms finden wir die Antwort des Herrn an den, der so zu ihm spricht: „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.“ Dieses Gotteswort ist seit langer Zeit der Vorspruch zum Eingangs­psalm des Sonntags Invokavit, die sogenannte Antiphon. Die ersten Worte „Er ruft mich an“ heißen in der alten Kirchen­sprache Latein „invocavit“; von daher hat der Sonntag seinen Namen bekommen.

Wie gesagt, diese Worte können uns verstehen helfen, was Glaube ist. Ich meine damit nicht den Glauben im landläufigen Sinne, also im Sinne von: etwas für wahr halten, oder etwas für möglich halten. Wenn einer sagt: Ich glaube, dass es da ein höheres Wesen genannt Gott gibt, dann ist das nicht der Glaube, den die Bibel meint, und auch nicht der Glaube, der von Sünden erlöst und zum ewigen Leben errettet. Was Glaube wirklich ist, können wir mit unserem Psalm an drei Stichwörtern festmachen: erstens rufen, zweitens hoffen, drittens bleiben.

„Invokavit“ heißt der heutige Sonntag, „Er ruft mich an“. Das ist Gottes Aussage über den Glaubenden am Ende des Psalms. Damit sind wir beim ersten Merkmal des rechten Glaubens, dem Rufen – genauer gesagt: dem Anrufen, wie es an vielen Stellen der Bibel ausgedrückt ist. Der Glaubende ruft Gott um Hilfe an, so wie die verirrte Familie in der Schutzhütte mit ihrem Handy einen Hilferuf absetzte. Natürlich ist der Begriff „anrufen“ viel älter als das Telefon, sonst würden wir ihn ja nicht in der Lutherbibel finden. Bevor man die Möglichkeit hatte, jemanden telefonisch anzurufen, hat man ihn einfach akustisch angerufen. Ein Beispiel: Ein Fuhrmann war mit seinem Fuhrwerk im Schlamm stecken­geblieben, und er schaffte es nicht, die Räder wieder frei zu bekommen. Da sah er seinen Freund Paul kommen und rief ihn an: He, Paul, hilf mir mal bitte, den Karren aus dem Dreck zu ziehen!

Ein Angerufener wird meistens mit Namen angeredet. So ist das auch beim Anrufen Gottes im Gebet, sowohl in den Psalmen als auch bei uns heute. Gott hat viele Namen, und wir können ihn auch mit vielen Namen anrufen. Allein in den ersten beiden Versen von Psalm 91 begegnen uns vier Gottesnamen. „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt…“ – er heißt Höchster, auf Hebräisch Eljon, der König aller Könige und Herr aller Herren, der über alles herrscht, was es gibt. „Wer unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt…“ – er heißt auch All­mächtiger, auf Hebräisch Schaddaj, denn er kann alles – alles außer Fehler machen. „Der spricht zu dem Herrn…“ – er heißt auch der Herr, auf Hebräisch Adonaj. Eigentlich verbirgt sich dahinter ein anderer Name, der alte heilige Gottesname Jahwe, auf Deutsch „ich bin“, mit dem Gott sich einst Mose aus dem brennenden Busch vorstellte. Die Juden hatte allerdings eine Scheu, diesen heiligen Namen beim Vorlesen der Bibel laut aus­zusprechen, und sagten stattdessen Adonaj, „der Herr“. Diese Gewohnheit hat die Christenheit übernommen, darum lesen wir im deutschen Alten Testament immer „der Herr“, wo im Originaltext „Jahwe“ steht. In der Lutherbibel ist das Wort „HERR“ dabei mit vier großen Buchstaben heraus­gehoben. „Mein Gott, auf den ich hoffe“, heißt es schließlich. Es handelt sich nicht um die gedankenlose Redewendung „mein Gott!“, die jemand benutzt, wenn er genervt ist, sondern es ist eher eine Liebes­erklärung: Ich gehöre zu dir; du gehörst zu mir; mein Gott bist du! Gott hat auch noch andere Namen, mit denen wir ihn anrufen können. Jesus lehrte uns, „Vater“ zu ihm zu sagen, oder „Papa“, auf Aramäisch „Abba“. Den Gottessohn können wir ebenfalls mit vielen Namen anrufen, können ihn Christus, Davidssohn und Immanuel nennen, und auch er trägt den großen heiligen Gottesnamen Jahwe, Adonaj, Herr.

Gott anrufen und mit ihm reden ist wichtiger als über ihn reden. Jede Beziehung lebt davon, dass man miteinander redet, und der Glaube ist nichts anderes als eine Beziehung – nämlich unsere Beziehung zum lebendigen Gott. Wenn wir Gott anrufen, dann loben und ehren wir ihn, so wie es ihm als unserem König und Schöpfer zusteht. Aber das Anrufen Gottes ist zugleich auch immer ein Hilferuf – so wie die Familie in der Schutzhütte einen Notruf absetzte und wie der Kutscher mit dem stecken­gebliebenen Wagen seinen Freund um Hilfe anrief. Das setzt voraus, dass wir unsere eigene Not erkennen und vor Gott zugeben – nicht nur die offen­sichtlichen Nöte wie Krankheit oder Geldmangel, sondern vor allem auch die viel größere verborgene Not unserer Sünde. Und es setzt voraus, dass wir Gott die Hilfe auch zutrauen. Er kann uns wirklich helfen und er will das auch. Im Alten Testament finden wir das Wort des Propheten Joel, das dann im Neuen Testament ausdrücklich auf den Herrn Jesus Christus und seine Erlösung gedeutet wird: „Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll errettet werden“ (Joel 3,5). Ja, voll Vetrauen in diese Zusage sollen wir Gott anrufen.

Damit sind wir beim zweiten Merkmal des rechten Glaubens, beim Hoffen. „Mein Gott, auf den ich hoffe“, heißt es in unserm Psalmwort. Hier ist das Herz des rechten Glaubens: das Vertrauen, dass Gott alles wohl machen wird. Solches Zutrauen zu Gott ist allerdings etwas anderes als ein allgemeiner Optimismus, der sagt: Wird schon alles gut gehen! Erinnern wir uns an die heutige Evangeliums­lesung: Da hat der Teufel Jesus versucht – unter anderem damit, dass Jesus sich in blindem Gott­vertrauen von der Brüstung der Tempelanlage in die Tiefe stürzen sollte. Interes­santerweise hat der Teufel dabei Gottes Wort zitiert, und zwar direkt aus unserm 91. Psalm, wo es in der Mitte heißt: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Wir wissen natürlich, dass das keine Einladung zum Leichtsinn ist und auch keine Garantie dafür, dass Gläubige nie stolpern und nie ver­unglücken. Gemeint ist vielmehr, dass wir uns in allen Stürmen und Problemen des Lebens auf Gottes Nähe und Hilfe verlassen können. Er ist ja unsere Schutzhütte, er ist uns Schirm, Schatten, Zuversicht und Burg.

Das rechte Gott­vertrauen richtet sich genau genommen auf zwei Dinge. Gott verheißt zum einen: „Ich bin bei ihm in der Not“, und er verheißt zum andern: „Ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.“ Es ist also einmal die Zuversicht, dass wir inmitten einer Problem-beladenen Welt Gott in unserer Nähe wissen dürfen und bei ihm ganz geborgen sind – so wie Küken unter dem Schatten der Flügel einer Henne. Probleme werden uns zwar begleiten, solange wir in dieser Welt leben, aber wir sind ihnen nicht hilflos ausgeliefert und brauchen an ihnen auch nicht zu verzweifeln. Es ist so wie bei der Familie im Harz, die zwar inmitten un­überwind­barer Schneemassen festsaß, aber trotzdem in der Schutzhütte geborgen war. Zum andern geht unsere Zuversicht noch weit darüber hinaus. Gott verspricht, uns „heraus­zureißen“ aus dem Elend dieser Welt und uns in der ewigen Seligkeit „zu Ehren“ zu bringen. Das entspricht der Rettung der Familie durch die Feuerwehr, sodass sie unversehrt heimkehren konnte.

Das dritte Merkmal des rechten Glaubens ist das Bleiben. Es heißt ja: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt…“ Die Wörter „sitzen“ und „bleiben“ zeigen an, dass rechter Glaube sesshaft und beständig ist. Die ent­sprechenden Wörter aus dem Urtext kann man auch mit „über­nachten“ und „wohnen“ übersetzen. Solches „Bleiben“ macht den Glauben krisenfest, wenn der Teufel mit seiner Anfechtung kommt. Die Glaubens­treue ist ein wichtiges Thema, das wir überall in der Bibel angesprochen findet. So bekennt zum Beispiel der Beter des 23. Psalms: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Und Jesus hat verheißen: „Bleibt in mir und ich in euch“ (Joh. 15,4), und ebenso: „Wer beharrt bis ans Ende, der wird selig werden“ (Matth. 24,13). Im ersten Johannes­brief ist das Bleiben in Christus sogar ein Hauptthema. Rechter Glaube ist kein Strohfeuer einer vorüber­gehenden religiösen Be­geisterung, sondern eine bleibende Zuversicht, die sich wie ein roter Faden durchs ganze Leben ziehen soll.

In diesem Zusammenhang ist es bemerkens­wert, dass das Alte Testament die Begriffe für Gottes Schutz immer wieder auf den Tempel bezogen hat. Dort, wo man Gottes Wort hört, Gottes Namen anruft und Gottes Segen empfängt, erfährt man Gottes Nähe und Hilfe. Unser Tempel ist heute überall da, wo Menschen im Namen des Herrn Jesus Christus zusammen­kommen – also auch jetzt hier in diesem Gottes­dienst. Und hier geschieht es auch, dass wir ge­meinschaft­lich das tun, was den rechten Glauben ausmacht: Wir rufen den dreieinigen Gott mit seinen vielfältigen Namen an; wir hoffen auf seinen Beistand und seine Hilfe in Zeit und Ewigkeit; und wir bleiben dran am Glauben – Woche für Woche, Tag für Tag. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2017.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum