Puzzleteile

Predigt über Epheser 6,1-9 zum 21. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Puzzeln ist eine schöne Beschäfti­gung für Jung und Alt. Da hat man zuerst einen ganzen Karton voll mit ungeordneten Puzzle­teilen, aber nach und nach fügen sie sich zu einem Bild zusammen. Jedes Teil hat seinen ganz bestimmten Platz in dem Bild; woanders passt es nicht hin.

Wir Menschen sind Teile im großen Puzzle des Lebens. Jeder von uns hat seinen bestimmten Platz – un­verwechsel­bar und einzigartig. Gerade für diesen Platz hat Gott uns gemacht; woanders passen wir nicht hin. Ohne die anderen Puzzleteile sind wir bedeutungs­los, aber zusammen mit ihnen ergeben wir ein wunderbares Bild. Wenn es uns nicht gäbe, dann wären da störende Lücken.

Früher hat sich jeder Mensch ganz selbst­verständlich als Teil eines größeren Ganzen gesehen: als Mitglied einer Familie, als Bürger einer Stadt, als Angehöriger eines Volkes. Der Einzelne galt für sich genommen nichts, die Gemeinschaft war ent­scheidend. Heute neigen wir eher zum Gegenteil: Der Einzelne wird ganz wichtig genommen, die Gesellschaft dagegen nur als ein Mittel zum Zweck angesehen, damit der Einzelne seine Bedürfnisse und Ansprüche befriedigen kann. In Gottes Augen und in der Bibel ist beides wichtig: sowohl der Einzelne als auch die Gemein­schaft. Das Bild vom Puzzle hilft uns, beides im richtigen Verhältnis zueinander zu sehen.

Wenn wir unser Gotteswort in diesem Licht betrachten, können wir drei Dinge lernen.

Erstens: Ein Verhalten, das Gott gefällt, hängt vom Platz in der Gesellschaft ab. Im Kleinen Katechismus gab Martin Luther den Christen, die zur Selbstkritik bereit sind, folgenden Rat: „Da siehe deinen Stand an nach den Zehn Geboten, ob du Vater, Mutter, Sohn, Tochter bist…“ „Stand“ nannte man damals den Platz eines Menschen in der Gesell­schaft. Unser Bibelwort nennt beispielhaft zweimal zwei Stände, die jeweils aufeinander bezogen sind: Kinder und Väter, Knechte und Herren. Das Doppelgebot der Liebe gilt ihnen zwar allen gemeinsam als über­geordnetes göttliches Gesetz; sie alle sollen am meisten Gott lieben und ihren Nächsten wie sich selbst. Aber wenn es um eine genauere Beschreibung des rechten Verhaltens geht, dann gibt es dafür keinen einheit­lichen Regel-Katalog, sondern dann muss man je nach Stand dif­ferenzieren – zum Beispiel für Kinder, für Väter, für Knechte und für Herren.

Die Kinder sollen ihren Vätern gehorchen. Die Väter ihrerseits sollen die Kinder nicht „zum Zorn reizen“, also nicht durch Ungerechtig­keit, willkürliche Erziehungs­maßnahmen oder zu harte Strafen bockig machen.

Was nun die „Knechte“ und „Herren“ anbetrifft, müssen wir feststellen: So, wie es sie in biblischen Zeiten und auch noch im 16. Jahrhundert gab, gibt es sie heute bei uns nicht mehr. Die Sache wird auch dadurch nicht verständ­licher, dass in unserer gebräuch­lichen Fassung der Lutherbibel „Sklaven“ statt „Knechte“ steht. Das Wort „Sklave“ erinnert uns heute an Menschen­handel und menschen­verachtende Ausbeutung; die sind natürlich verwerflich. Wir müssen uns aber Folgendes klarmachen: Früher waren fast alle Haushalte wesentlich größer als heute. Heute besteht jeder dritte Haushalt in Deutschland nur aus einer einzigen Person; damals war der Single-Haushalt die absolute Ausnahme. Heute gehören in Deutschland durch­schnittlich zwei Personen zu einem Haushalt, zu biblischen Zeiten waren es vielleicht zwanzig. Kleine Haushalte waren früher kaum überlebens­fähig, weil all das, was der Sozialstaat heute für seine Bürger tut, damals von der zusammen­lebenden Familie geleistet wurde. Zum Haushalt gehörten damals nicht nur die Eltern und Kindern, sondern auch Großeltern sowie weitere Verwandte und nicht zuletzt Haus­angestellte, also Knechte und Mägde. Das Wort „Familie“ geht auf den lateinischen Begriff „familia“ zurück; er wurde ursprünglich vor allem für Knechte und Mägde gebraucht. Sie waren normaler­weise fest an einen Haushalt gebunden, so wie Kinder fest an den Haushalt ihrer Eltern gebunden sind. Es wurde erwartet, dass diese Knechte und Mägde zusammen mit der Familie alle anfallenden Arbeiten erledigen; dafür stand ihnen dann Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und Schutz zu. Antike Knechte und Mägde befanden sich also in einem Abhängigkeits­verhältnis und werden deshalb manchmal auch „Sklaven“ genannt. Die Bibel sieht das grund­sätzlich wertneutral, sagt aber doch wenigstens an einer Stelle: Wenn ein Sklave die Möglichkeit hat, frei zu werden, dann soll er von dieser Möglichkeit ruhig Gebrauch machen (1. Kor. 7,21). In diesem gesellschaft­lichen Zusammenhang mahnt unser Bibelwort die Knechte, ihren Herren zu gehorchen, und zwar nicht mit einem geheuchelten Schein-Gehorsam, sondern von Herzen – auch dann, wenn der Herr gerade nicht da ist oder nicht hinsieht. Die Herren ihrerseits sollen die Knechte so behandeln, wie sie es vor Gott verantworten können: Sie sollen ihre über­geordnete Stellung nicht ausnutzen und auch nicht ihre Wut an den Untergebenen auslassen, sondern sie menschlich behandeln.

Zweitens lernen wir: Jeder ist für sein eigenes Verhalten ver­antwortlich, nicht für das Verhalten der Mitmenschen. Gottes Wort sagt den Kindern, wie sich Kinder verhalten sollen, den Eltern, wie sich Eltern verhalten sollen, den Knechten, wie sich Knechte verhalten sollen, und den Herren, wie sich Herren verhalten sollen. Wir können das noch weiter ausziehen und davon ableiten, wie Schüler und Lehrer sich verhalten sollen, Chefs und Angestellte, Regierende und Regierte: Jeder soll heraus­finden, was Nächsten­liebe für seinen Stand bedeutet, nicht für die anderen. Vielen mag das selbst­verständlich erscheinen, aber das ist es nicht. Denn es ist doch so: Wir hören nicht gern, was Gott von uns verlangt; wir hören lieber, was Gott von anderen verlangt, und reiben ihnen das dann unter die Nase. Aber es heißt eben nicht: Ihr Väter, besteht darauf, dass eure Kinder euch gehorchen; auch nicht: Ihr Kinder, verlangt von euren Vätern, dass sie euch nicht zum Zorn reizen. Vielmehr: Jeder achte darauf, dass er seine Lektion lerne; jeder kehre vor seiner eigenen Tür. Jesus hat es in der Bergpredigt mit einem eindrucks­vollen Bildwort ausgedrückt: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ (Matth. 7,3).

Drittens lernen wir: Es muss in der Gesellschaft beides geben, Herrschende und Gehorchende. Da gibt es in der heutigen Zeit nun viele Leute, die dem widers­prechen. Sie träumen von einer klassenlosen Gesellschaft und von der absoluten Gleichheit aller Menschen. Sie haben das Ideal, dass man in allen gesellschaft­lichen Bereichen als Team zusammen­steht, ohne Vorgesetzte und Anordnungen von oben. In der Familie sollen die Kinder über alles gleich­berechtigt mit­entscheiden. Am Arbeitsplatz soll niemand mehr der Chef sein. In der Politik sollen möglichst viele Fragen direkt per Volks­entscheid geklärt werden. Aber das entspricht nicht Gottes Willen, und so kann es auch nicht funktio­nieren. Die Erfahrung lehrt nämlich: Immer wenn man die völlige Gleichheit aller Menschen praktisch umsetzen will, finden sich ganz schnell neue Eliten, die die Führung übernehmen. Auch sind die meisten Menschen froh, wenn sie nicht für alles selbst ver­antwortlich sein müssen, sondern sich vertrauens­voll auf die Führung anderer verlassen können. Ohne Führungs­personen würde keine menschliche Gesellschaft funktio­nieren, ebensowenig wie ein Schiff ohne Kapitän.

Das bedeutet freilich nicht, dass einige Menschen wertvoller sind als andere. Bei Gott „gilt kein Ansehen der Person“, er hat alle gleich lieb. So muss auch für uns die Menschen­würde unantastbar sein und un­einge­schränkt für jeden Einzelnen gleich gelten, egal ob mächtig oder gering, reich oder arm, alt oder jung. Sogar das noch nicht geborene Kind im Mutterleib muss uns so wertvoll sein wie der mächtigste Mensch der Welt. In der Ver­antwortung aber und im Verhalten gibt es große Unter­schiede: Die Nächstliebe fordert nicht von allen dasselbe Verhalten, sondern sie mutet uns Unterschiede zu, je nach Ver­antwortungs­bereich und Position. Auch vor dem bürgerlichen Gesetz sind ja nicht alle Menschen völlig gleich, selbst wenn sie grund­sätzlich gleich­berechtigt sind. Das Gesetz kennt durchaus Unterschiede zwischen Erwachsenen und Minder­jährigen, Abgeordneten und Normal­bürgern, Arbeitgebern und Arbeit­nehmern, Vermietern und Mietern, Reichen und Armen, Männern und Frauen.

Drei Dinge hat uns unser Gotteswort gelehrt. Erstens: Ein Verhalten, das Gott gefällt, hängt vom Platz in der Gesellschaft ab. Zweitens: Jeder ist für sein eigenes Verhalten ver­antwortlich, nicht für das Verhalten der Mitmenschen. Und drittens: Es muss in der Gesellschaft beides geben, Herrschende und Gehorchende. Alle drei Lektionen hängen damit zusammen, dass wir Menschen Puzzleteile sind in Gottes großem Puzzle der Welt. Jeder von uns ist ein Einzelstück, einzigartig in Form und Aussehen, aber jeder ist zugleich Bestandteil des ganzen Bildes und hat darin seinen festen Platz und Stand. Puzzleteile haben gewöhnlich Nasen und Ein­buchtungen, mit denen sie sich gegenseitig zusammen­halten – so wie Menschen einerseits durch Führung und andererseits durch Unterordnung der Gesellschaft dienen.

Aber etwas anderes ist noch wichtiger für den Zusammenhalt des Puzzles: eine feste, ebene Grundfläche. Es kommt nicht nur darauf an, dass die Puzzleteile sich an ihren Rändern richtig verzahnen, sondern es kommt auch darauf an, dass sie mit ihrer Unterseite fest aufliegen. Übertragen auf das Puzzle des Lebens bedeutet das: Alle Menschen brauchen eine feste Lebens­grundlage. Diese Grundlage aber ist niemand anderes als Gott selbst, so wie er sich im Herrn Jesus Christus offenbart hat. In der Welt gibt es viele Väter und viele Herren, aber wie die Kinder und die Knechte sind auch sie dem einen Vater im Himmel und dem einen Herrn Jesus Christus unter­geordnet; dem sollen sie dienen und gehorchen. Unser Gotteswort betont das wiederholt: „Ihr Kinder,… seid gehorsam in dem Herrn“; „Ihr Väter, erzieht eure Kinder in der Zucht und Ermahnung des Herrn“; „Ihr Sklaven,… tut euren Dienst mit gutem Willen als dem Herrn und nicht den Menschen“; „Und ihr Herren,… wisst, dass euer und ihr Herr im Himmel ist“. Wo Menschen auf der Grundlage des Gott­vertrauens ihren Stand erkennen und nach Gottes Willen ausfüllen, da bringt das Segen für die ganze Gemein­schaft.

Wenn wir aber an dieser hohen Aufgabe scheitern und traurig merken, dass es uns sowohl an Gottesfurcht als auch an Nächsten­liebe mangelt, dürfen wir trotzdem getrost sein. Wir müssen uns ja nicht selbst tragen und erlösen, schon gar nicht die ganzes Welt, sondern der himmlische Vater trägt uns, erträgt uns auch mit unserer Sünde und vergibt uns durch den Herrn Jesus Christus. Er tut es so, wie der Tisch das ganze auf ihm liegende Puzzle trägt sowie jedes einzelne Puzzleteil. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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