Gerecht und gesund

Predigt über Matthäus 9,1-8 zum 19. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn man einen durch­schnitt­lichen Deutschen fragen würde, welche zwei Sorten Christen es gibt, würde er vermutlich antworten: evangelische und katholische. Aber man könnte diese Frage auch so beantworten: Leib-Christen und Geist-Christen – und zwar je nachdem, was sie von Gott erwarten.

Leib-Christen erhoffen sich von Christus vor allem Hilfe für ihr gegen­wärtiges Leben im Diesseits. Wenn sie krank sind, beten sie zu ihm und wünschen sich, dass er sie wieder gesund macht. Sie haben diese Hoffnung nicht nur im Hinblick auf normale leibliche Krankheiten, sondern auch im Hinblick auf kranke Beziehungen, auf Armut und überhaupt auf pro­blematische Lebens­situationen. Wenn Leib-Christen an ihre Erlösung denken, dann sehen sie sich in erster Linie als befreite Opfer – befreit von allem, was sie an einem glücklichen und erfüllten Leben gehindert hat. An der Kirche schätzen sie besonders die diakonische Hilfe; sie schätzen das sogenannte praktische Christentum, das un­kompliziert und ohne Vorurteile zupackt und hilft, wo Hilfe nötig ist. Der Gelähmte aus unserem Predigttext ist ein typisches Vorbild für Leib-Christentum: Er war Opfer einer körperlichen Behinderung, suchte zusammen mit seinen Freunden Jesu Hilfe und wurde dann tatsächlich auch gesund.

Geist-Christen erhoffen sich von Christus vor allem Hilfe zu einem Leben nach dem Tod im Jenseits. Wenn sie sich angesichts ihrer Sünden ängstlich fragen, wie sie einst vor Gottes Gericht bestehen können, dann wenden sie sich im Gebet an Jesus und wünschen, dass er ihnen ihre Sünden vergibt. Sie sind sich bewusst, dass die Sünde die Wurzel allen Übels ist, und lassen sich darum die Vergebung in der Beichte und im Heiligen Abendmahl immer wieder gewiss machen. Wenn Geist-Christen an ihre Erlösung denken, dann sehen sie sich vor allem als begnadigte Täter – begnadigt wegen des Opfertodes des Herrn Jesus Christus am Kreuz. An der Kirche schätzen sie besonders die missio­narische Verkündi­gung, also das Evangelium, das alle Menschen zur Umkehr ruft, damit sie ihre Sündenschuld los werden. Der Gelähmte aus unserem Predigttext ist auch ein typisches Vorbild für Geist-Christentum: Er war ein Sünder wie du und ich, aber Jesus vergab ihm seine Sünden, und er wurde geistlich rein – „gerecht“ vor Gott, wie die Bibel es ausdrückt.

Ja, es gibt sie beide: die Leib-Christen und die Geist-Christen. Es gibt christliche Hoffnung sowohl im Blick auf den Alltag als auch im Blick auf den Jüngsten Tag, sowohl im Blick auf das Diesseits als auch im Blick auf das Jenseits, sowohl im Blick auf körperliche Heilung als auch im Blick auf Sünden­vergebung. Die einen sehen sich als hilfe­bedürftige Opfer, die anderen als vergebungs­bedürftige Täter. Den einen liegt vor allem die Diakonie am Herzen, den anderen die Mission. Die Leib-Christen möchten in erster Linie gesund werden, die Geist-Christen in erster Linie gerecht.

Der Gelähmte aus unserem Predigttext ist, wie gesagt, ein typisches Vorbild für beides. Das ist das Bemerkens­werte an dieser Geschichte, und sie ist darin einzigartig: Am selben Ort, zur selben Stunde und für denselben Mann tut Jesus gewisser­maßen ein Doppel­wunder; er vergibt ihm die Sünden und er heilt sein körperliches Gebrechen. Nach unserem Leib-Geist-Schema könnten wir nun fragen: Was von beidem ist denn wichtiger? Was hat dem Gelähmten mehr geholfen? Und was hat bei der zuschauenden Menge wohl einen stärkeren Eindruck hinter­lassen? Darüber erfahren wir allerdings nichts in unserem Predigttext. Stattdessen stellte Jesus eine weitere Frage: Was ist denn leichter – das Sünden­vergeben oder die Heilung? Aber auch diese Frage bleibt un­beantwortet. Einfach nur zu sagen: „Dir sind deine Sünden vergeben“ ist natürlich leicht, denn niemand kann nachprüfen, ob das dann tatsächlich auch geschieht. Das wirkliche Sünden-Vergeben dagegen ist schwer. Lähmungen und andere körperliche Gebrechen können in gewissen Grenzen auch Ärzte mit ihrer menschlichen Kunst heilen, aber die Sünde betrifft unmittelbar die Beziehung zwischen Mensch und Gott, und darum kann nur Gott selbst sie Ordnung bringen. Wenn Jesus einfach nur ein jüdischer Rabbi gewesen wäre, dann wäre es Anmaßung gewesen, dem Gelähmten seine Sünden zu vergeben, und dann hätten die Schrift­gelehrten Recht mit ihrer Meinung: „Dieser lästert Gott.“

Damit sind wir beim Kern der Geschichte angelangt, und zugleich bei der Frage, was von der Spannung zwischen Leib-Christentum und Geist-Christentum zu halten ist. Der Kern der Geschichte ist Jesus selbst und sein Handeln. Achten wir genau darauf, was er sagt und tut! Er blickt den Gelähmten und seine Freunde an, die trotz schwieriger äußerer Bedingungen voll Vertrauen zu ihm gekommen sind und auf seine Hilfe hoffen. Dann sagt er zum Gelähmten: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Wir müssen dabei bedenken, dass Jesus nur etwa dreißig Jahre alt war; der Gelähmte kann nicht viel jünger gewesen sein, vielleicht war er sogar älter als Jesus. Trotzdem sagt Jesus „mein Sohn“ zu ihm, und er sagt: „Sei getrost“, also: „Fürchte dich nicht“. So pflegt der himmlische Vater mit seinen Menschen­kindern zu reden, und so lässt er seine Engel zu ihnen sprechen. Wir merken daran: Jesus vergibt hier nicht Sünden in mensch­licher, sondern in göttlicher Vollmacht. Er handelt nicht eigen­mächtig, sondern im Auftrag seines Vaters. Darum sind seine Worte auch kein leeres Gerede, sondern sie bewirken tatsächlich, was sie sagen: In diesem Moment ist die Schuld, die bisher zwischen dem Gelähmten und Gott stand, wirklich weggenommen. So weit die erste Hälfte des Doppel­wunders. Die zweite Hälfte leitet der Herr mit seiner Frage ein, was denn schwerer sei, und schließt dann den bemerkens­werten Satz an: „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden die Sünden zu vergeben…“ Unmittelbar danach heilt er den Gelähmten.

„Damit ihr wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat…“ Dieses Wort verbindet die beiden Wunder und weist zugleich auf den hin, der Herr und Kern der ganzen Geschichte ist: der Menschensohn und Gottessohn Jesus Christus. Das Wunder der Sünden­vergebung steht an erster Stelle, das Wunder der leiblichen Heilung aber folgt aus ihm und bestätigt es: So wahr der bis dahin Gelähmte nun wieder laufen kann, so wahr sind ihm auch seine Sünden vergeben. Beide Wunder gehören also eng zusammen. Jesus zeigt: Es ist letztlich unsinnig, beide Wunder auseinander­zureißen und gegen­einander aus­zuspielen. Es ist unsinnig zu fragen, was denn leichter oder wichtiger oder be­eindrucken­der ist, denn beide Wunder gleichen den beiden Seiten derselben Münze. Jesus ist gekommen, um den Menschen ganz und gar zu helfen, an Leib und Geist. Wenn der Mensch von seiner Sündenschuld befreit wird, der Wurzel allen Übels, dann ergibt sich daraus die Heilung des ganzen Menschen, auch seines Leibes. Wer gerecht wird, der wird auch gesund.

Wir lernen mit dieser Geschichte, dass richtige Christen immer beides sind, sowohl Leib-Christen als auch Geist-Christen. Wir kommen zu Jesus sowohl als Täter, die gegen Gottes Willen gesündigt haben, als auch als Opfer, die unter den Folgen der Sünde leiden – sowohl eigener als auch fremder Sünde. Wir bekennen dem Herrn unsere Sünde und bitten um Vergebung; wir klagen dem Herrn all unsere leibliche Not und bitten um Hilfe. Gottes Gesetz macht uns klar, dass wir seine Vergebung nötig haben, und Gottes Evangelium macht uns klar, dass er uns in jeder Beziehung helfen will durch seinen eingeborenen Sohn. Wir wissen, dass unser neues Leben mit der Taufe angefangen hat und deshalb schon in dieser Welt jeder Tag ein Tag der Gnade ist. Zugleich wissen wir, dass das Beste noch kommt: Die ewige Seligkeit im Himmel.

Die Bibel nennt Jesu Wunder nicht Wunder, sondern Zeichen. Ein Zeichen will uns etwas zeigen beziehungs­weise deutlich machen, das ohne Zeichen nicht so offen­sichtlich ist. Das gilt auch für unser Doppel­wunder. Jesus zeigt da in einem kurzen Augenblick, was normaler­weise ein lebenslanger Prozess ist. Zwar gilt Gottes Sünden­vergebung vollständig in dem Augenblick, wo sie uns zugesprochen wird, aber dennoch haben wir mit der Sünde unser Leben lang zu kämpfen. Zwar gibt es immer wieder erstaunliche Gebets­erhörungen und Heilungen sowie viel göttliche Hilfe in allerlei leiblichen Nöten, aber einen vollkommenen Leib und eine neue Welt werden wir erst nach der Auferstehung erlangen. Das Christen­leben ist in dieser Welt kein Gerecht-Sein, sondern ein Gerecht-Werden, kein Gesund-Sein, sondern ein Gesund-Werden, so hat es bereits Martin Luther ausgedrückt.

Schließlich sollten wir noch auf das Ende der Geschichte achten. Da heißt es: „Als das Volk das sah, fürchtete es sich und pries Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat.“ Sie fürchteten sich in ihrer Eigenschaft als Täter – so wie jeder Sünder, der Gottes Macht begegnet. Aber sie priesen Gott in ihrer Eigenschaft als Opfer, weil mit Jesus offenbar wird, wie mächtig Gott unter den Menschen hilft und heilt. Wir sehen: Auch die Reaktionen auf das Doppelwunder zeigen sowohl etwas vom Leib-Christentum als auch vom Geist-Christentum. Wir aber, in unserer Eigenschaft als ganzheitlich erlöste Christen, greifen das Gotteslob auf und sprechen mit Psalm 103: „Lobe den Herrn, meine Seele, der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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