Naheliegend

Predigt über 5. Mose 30,11-14 zum 18. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Manche Leute strengen sich gewaltig an, um Gott zu finden und seinen Willen zu erfahren. Manche meditieren stundenlang oder suchen die religiöse Ekstase, um sich im Geist von der Erde zu lösen und in himmlische Sphären vor­zudringen. Unnötig! Denn die Bibel sagt von Gottes Wort: „Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es holen, dass wir’s hören und tun?“ Andere nehmen weite Wege in kauf, pilgern für viel Geld nach Mekka oder wandern mühsam auf dem Jakobsweg. Unnötig! Denn die Bibel sagt von Gottes Wort: „Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns übers Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun?“

Der Prophet Mose rief am Ende seines Lebens den Israeliten Gottes Wort und Gesetz in Erinnerung, das er selbst viele Jahre zuvor am Berg Sinai empfangen hatte. Das Wichtigste davon steht in den Zehn Geboten. Sie waren auf Steintafeln ein­gemeißelt, und diese Tafeln befanden sich in einem Kasten im heiligen Zelt mittendrin im Volk Israel. Darum konnte Mose sagen: „Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern… Es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ Kurz: Es ist im wahrsten Sinne des Wortes naheliegend, Gottes Gesetz zu kennen und zu halten.

Auch für uns heute gilt: Es ist naheliegend, Gott zu lieben, denn Gott liebt uns. Seine Liebe begegnet uns im Alltag. Sie erweist sich zum Beispiel, wenn wir satt werden oder wenn wir uns an vielen schönen Dingen freuen können. Gottes Liebe ist so nahe wie der Stadtpark oder wie der nächste Wald, wo man auf Schritt und Tritt die Werke des Schöpfers bestaunen kann. Gottes Wort ist so nahe wie die Bibel im Bücher­schrank – ein Griff, und wir können lesen, was er für uns tut und was er von uns erwartet. Ja, es ist naheliegend, Gott zu lieben und ihm das auch zu sagen. Wir tun es mit Dankgebeten und Lobliedern alltags und gemeinsam auch sonntags. Es ist naheliegend, sich dafür Zeit zu reservieren, denn Gott schenkt uns allen ja viel Zeit: jeden Tag 24 Stunden, jedes Jahr 365 Tage.

Es ist auch naheliegend, dass wir unsere Mitmenschen lieben, denn sie sind ebenso wie wir Gottes geliebte Geschöpfe. Dabei erwartet Gott nicht, dass wir zu Millionen und Milliarden Menschen auf der ganzen Welt gleich große Sympathie entwickeln; er erwartet lediglich, dass wir unseren „Nächsten“ lieben: den Haus­genossen, den Nachbarn, den Verwandten, den Arbeits­kollegen, den Mitschüler oder einfach den, der uns so unvermittelt begegnet wie der Verletzte dem Barmherzigen Samariter. Gottes Gebot sagt es schlicht und klar: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Und Gottes Gebot sagt damit nichts Un­gewöhnliches oder Fremdes, sondern das, was wir auch in unserem Herzen und Gewissen fühlen. Es ist naheliegend, dass wir für unsere Mitmenschen da sind und dass wir auch genug Zeit für sie haben. Das gilt besonders für die Aller­nächsten: für den Ehepartner, für die Kinder, für die Eltern. Solche Nächsten­liebe ist lebens­freundlich. Wenn Familien, Nachbarn und ganze Völker dieses naheliegende Gebot beherzigen, werden sie eine schöne und friedliche Gemeinschaft erfahren.

Ebenso naheliegend sind die anderen Gebote. Wenn ein Mann und eine Frau sich ineinander verlieben und beschließen zusammen­zubleiben, dann möchten sie, dass nichts und niemand ihre Ehe kaputtmacht. Gottes Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ ist nichts weiter als eine hilfreiche Erinnerung an diese Absicht für den Fall, dass einer von beiden oder beide mal an ihrem gemeinsamen Weg irre werden sollten. Oder wenn jemand im Schweiße seines Angesichts Geld verdient und sich ein bisschen Wohlstand erarbeitet hat, dann sollte niemand ihm davon etwas wegnehmen, weder gewaltsam noch hinter­listig. Oder wenn man mal mitbekommen hat, wie weh böse Worte und Ver­leumdungen tun können, dann wird man sich davor hüten, falsch Zeugnis wider seinen Nächsten zu reden. Oder wenn man dankbar und zufrieden mit dem lebt, was Gott einem zugedacht hat, wird man nicht neidisch auf das schielen, was der Nächste hat, sondern ihm alles Gute gönnen. Das alles ist, wie gesagt, naheliegend: Unsere Herzen und Gewissen lehren es uns, und Gottes allseits bekannte Gebote bestätigen es uns. Der Apostel Johannes hat geschrieben: „Seine Gebote sind nicht schwer“ (1. Joh. 5,3).

Merkwüdiger­weise gelingt es uns aber nicht, das Naheliegende nun auch wirklich zu tun und uns entsprechend zu verhalten. Zwar sind Gottes Gebote nicht schwer, aber wir schaffen auch das Leichte nicht. Zwar sind uns Gottes Gebote nah (sowohl in der Bibel als auch in unserem Herzen), aber wir ertappen uns immer wieder dabei, dass wir uns gegen unser eigenes Gewissen entscheiden. Gottes Gesetz verspricht uns Leben, aber wir verfehlen diese Verheißung, weil wir das Gesetz verfehlen. Es ist tatsächlich so, wie Martin Luther klar und nüchtern festgestellt hat: Das Gesetz verheißt zwar Leben, kann uns Sündern dieses Leben aber letztlich nicht geben.

Nun ist Gottes Gesetz jedoch nur die eine Seite von Gottes Wort. Es gibt noch eine andere, und die heißt Evangelium; auf deutsch „gute Nachricht“. Dabei handelt es sich freilich um ein Wort, das uns nicht von Natur aus ins Herz geschrieben ist wie das Gesetz. Dass Gottes Sohn am Kreuz sterben musste, um unsere Schuld zu sühnen und uns das ewige Leben zu erwerben, befremdet den natürlichen Menschen­verstand. Bereits der Apostel Paulus wusste das und hat darum gesagt: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden“ (1. Kor. 1,18). Heißt das nun, dass Gottes erlösendes Evangelium im Gegensatz zum Gesetz fern ist? Heißt das, dass man es erst mit kom­plizierten theo­logischen Argumenten vom Himmel herabholen muss? Nein, das heißt es nicht. Denn auch wenn das Wort vom Kreuz uns von Natur aus nicht so nahe liegt wie das Gesetz, so ist es uns doch von sich selbst aus nahe­gekommen. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, verkündete der Evangelist Johannes (Joh. 1,14), und auch Paulus hat das in seinen mitunter kompli­zierten theo­logischen Gedanken­gängen bestätigt. Im Römerbrief hat er sogar Moses Aussage aus unserem Predigttext zitiert und sie ausdrücklich auf das Evangelium bezogen. Da heißt es: „Die Gerechtig­keit aus dem Glauben spricht so: ‚Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?‘ – nämlich um Christus herabzuholen – , oder: ‚Wer will hinab in die Tiefe fahren?‘ – nämlich um Christus herauf­zuholen – , sondern was sagt sie? ‚Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.‘“ (Römer 10,6‑8) Wer getauft ist und an Jesus glaubt, für den ist das Wort von der Erlösung nicht fern im Himmel, sondern durch Christus und den Heiligen Geist nah und vertraut in seinem Herzen.

Christus tat, was für ihn selbst keineswegs naheliegend war: Er verließ die Herrlichkeit des Vaters, nahm Menschen­gestalt an, lebte in der Welt, litt unter seinen Feinden, starb für aller Menschen Sündenschuld und ist dann wieder von den Toten auf­erstanden. Aber gerade so ist er uns nahegekommen und hat uns die Liebe des Vaters nahe­gebracht. Seither ist uns diese Botschaft nahe; sie wird überall in der Welt verkündigt. Sie steht in unsern Bibeln, wird jeden Sonntag in der Kirche verkündigt, kann bei der Beichte im Zuspruch der Sünden­vergebung erfahren werden und ist im Heiligen Abendmahl sogar essbar. Wir brauchen uns diese Botschaft nicht durch schwierige Meditations­übungen vom Himmel herabzuholen und auch keine weiten Pilgerreisen zu unternehmen, um an sie heran­zukommen, wir brauchen sie einfach nur zu glauben. Wenn wir es tun, dann erfahren wir beglückt: Diese Botschaft verheißt uns nicht nur Leben wie das Gesetz, sondern sie schenkt es uns auch. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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