Stärker als der Tod

Predigt über 2. Könige 4,18-37 (verlesener Text: 2. Könige 4,30a) zum 16. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn uns der Tod begegnet, erschüttert er uns, aber wir wissen: Jesus ist stärker als der Tod. Wenn wir von Todesopfern hören in Kriegen, Katastrophen und Unfällen, dann erschüttert uns das. Besonders erschüttert es uns, wenn junge Menschen sterben. Und vor allem erschüttert es uns, wenn wir vom Tod nahe­stehender Menschen erfahren. Aber wir wissen: Jesus ist stärker als der Tod.

Die biblische Geschichte, die wir jetzt betrachen wollen, handelt von einer Mutter, die ihren einzigen Sohn verloren hat. Diese Er­schütterung ist kaum zu überbieten: Ein Kind stirbt, das dieser Frau so nahe gestanden hat wie kein anderer Mensch. Mehrfach können wir in der Bibel von solcher Er­schütterung lesen: Naemi verlor beide Söhne; David und Batseba verloren ihr erstes Kind; Jairus verlor seine Tochter; die Witwe aus Nain verlor ihren jugendlichen Sohn. Hier ist es nun eine reiche Frau aus Schunem, die solches erleidet. Die Geschichte ist wenig bekannt, aber sie ist bedeutsam. Denn diese Frau erfährt durch den Gottesmann Elisa: Gott ist stärker als der Tod. Und weil wir wissen, dass die Propheten des Alten Testaments Vorboten von Gottes Herrschaft in Jesus Christus sind, bestärkt die Geschichte uns darin, dass Jesus stärker ist als der Tod.

Lange Zeit war das reiche Ehepaar in Schunem kinderlos gewesen. Sie hatten bereits die Hoffnung aufgegeben, dass Gott sie noch einmal Eltern werden lässt. Der Prophet Elisa hielt sich öfters in Schunem auf; deshalb hatte er ein Zimmer im Haus der Schune­miterin. Als er von ihrem Kummer erfuhr, konnte er ihr im Namen Gottes die Geburt eines Kindes ankündigen. Und so kam es dann auch: Die Frau brachte einen Sohn zur Welt und war über­glücklich. Der Sohn wuchs heran und half seinem Vater bereits bei der Feldarbeit. Eines Tages klagte er dabei über un­erträgliche Kopf­schmerzen. Der Vater ließ ihn nach Hause zu seiner Mutter bringen. Die nahm ihn auf den Schoß und versuchte ihn zu trösten, und da geschah das Er­schütternde: Der Junge starb in ihren Armen.

Was machte die Frau? Fing sie an zu weinen? Oder war sie wie versteinert? Oder wurde sie hysterisch? Nichts dergleichen: Sie verhielt sich ruhig und besonnen. Es geschieht nicht selten, dass Gott einem Menschen in kritischen Situationen genug Kraft schenkt, um ruhig und besonnen zu handeln. Die Frau dachte sogleich an Elisa, den Mann Gottes, und an sein Zimmer in ihrem Haus. Er war gerade nicht da, er hielt sich am Berg Karmel auf. Sie brachte den toten Jungen in dieses Zimmer und legte ihn auf das Bett des Propheten. Sie wird dabei gebetet haben. Und sie hatte die Hoffnung: Wie Gott ihr vormals durch Elisa geholfen und ein Kind geschenkt hatte, so würde er vielleicht auch jetzt wieder durch den Gottesmann ein Wunder tun. Seltsamer­weise informierte sie ihren Mann nicht vom Tod des Jungen – vielleicht aus Rücksicht, weil sie annahm, dass er das nur schwer verkraften würde? Das sind ja manchmal schwierige Situationen, in die auch wir geraten können und die uns vor die Frage stellen: Reden wir offen über er­schütternde Ereignisse oder behalten wir sie lieber für uns? Wir müssen dann von Fall zu Fall entscheiden, was eher der Liebe entspricht: Die Offenheit oder die Schonung der Mitmenschen.

Die Schune­miterin erbat sich von ihrem Mann ein Reittier und einen Knecht zur Begleitung, um möglichst schnell zu Elisa zu gelangen. Den Grund für ihren überstürzten Aufbruch nannte sie immer noch nicht. Als sie am Berg Karmel eintraf, kam ihr Elisas Knecht entgegen und fragte, wie es ihr geht. „Gut!“, antwortete sie, denn auch ihm wollte sie nicht mitteilen, was passiert war. Das ist ver­ständlich. Wenn uns jemand nach unserem Ergehen fragt, sagen wir oft einfach nur „Gut!“, denn eine ausführliche Beschreibung unserer Situation wäre womöglich fehl am Platz oder könnte den Fragenden überfordern. „Gut!“ ist nicht gelogen, denn was auch immer uns für ein Kummer plagt, wenn wir Gottes Nähe spüren und seiner Liebe vertrauen, dann haben wir es ja eigentlich immer gut.

Als die Mutter den Propheten sah, ging sie zielstrebig auf ihn zu, kniete sich zu seinen Füßen nieder und umschlang seine Beine. Dem Knecht missfiel das; er hielt ihr Verhalten für un­angemessen. Er wollte sie wegreißen, aber Elisa wehrte ihm. Elisa hatte sofort gemerkt, dass seine Zimmerwirtin aus Schunem von einem großen Kummer gequält wird. Allerdings wusste er nicht, was dieser Kummer war. Auch ein Prophet weiß nicht alles, sondern nur so viel, wie Gott ihm offenbart.

Dann begann die Frau zu reden. Ihre Stimme klang bitter, fast vorwurfs­voll. Sie sagte zu dem Gottesmann: „Wann habe ich einen Sohn erbeten von meinem Herrn? Sagte ich nicht, du solltest mich nicht täuschen?“ Jetzt war die Schune­miterin schwer enttäuscht von Elisa. Damals hatte sie sich doch schon fast abgefunden mit der Tatsache, dass sie niemals Mutter sein würde. Dann hatte Elisa ihr dieses Gottes­geschenk angekündigt, und sie wurde schwanger. Jetzt war das Kind tot – und das war viel schlimmer, als wenn sie es nie bekommen hätte. Jede Mutter wird das verstehen; auch bei einer Totgeburt oder Fehlgeburt verhält es sich so. Man kann eine derart bekümmerte Mutter deshalb nicht trösten, indem man sagt: Nimms nicht so schwer, vorher hattest du doch auch kein Kind! Denn hier versagt die Logik, hier versagt die Mathematik: Wenn ich etwas gewinne, das mir sehr lieb ist, und wenn ich es dann wieder verliere, dann ist das Ergebnis nicht gleich null, dann fühle ich mich hinterher nicht so, als hätte ich es nie gehabt, sondern dann trauere ich über den Verlust.

Elisa ließ sich erzählen, was vorgefallen war. Aber er wusste noch nicht genau, was Gott vorhatte. Gott war der Herr über Leben und Tod; er konnte den Jungen wieder lebendig machen – oder auch nicht. Für Beides gibt es Beispiele in der Bibel. Der Gottesmann wusste nur, dass er die Sache Gott im Gebet anbefehlen musste und dass Gott dann durch ihn (oder auch ohne ihn) seinen Willen geschehen ließ. Aber Elisa wollte angesichts der er­schütterten Mutter nicht tatenlos bleiben. So schickte er seinen Diener mit seinem Stab los trug ihm auf: Geh schnell nach Schunem, halte dich unterwegs mit niemandem auf, und dann lege meinen Stab auf den Jungen; vielleicht erweckt Gott ihn wieder zum Leben. Ein Prophet ist kein Zauberer und sein Wanderstab ist kein Zauberstab; aber Gott kann unter den merk­würdigsten Umständen Wunder tun. Auch die Art und Weise, wie Jesus Leute gesund machte, war mitunter sehr merkwürdig. Und wenn biblische Menschen miterleben könnten, wie moderne Mediziner behandeln und operieren, dann fänden sie das wahr­scheinlich ihrerseits sehr merkwürdig. Aber egal ob das Skalpell eines Chirurgen oder der Stab eines Propheten zum Einsatz kommt: Der Ausgang der Behandlung und das Leben des Patienten stehen immer ganz in Gottes Hand.

Nachdem Elisas Diener aufgebrochen war, blieb die Mutter des toten Kindes noch bei Elisa. Sie war noch nicht zufrieden, sie hatte noch etwas auf dem Herzen. Inständig beschwor sie den Propheten: „So wahr der Herr lebt und so wahr du lebst: Ich lasse nicht von dir!“ Da merkte Elisa: Sie wollte, dass er persönlich kam und etwas unternahm. Er hätte ihr jetzt erklären können, dass es gar nicht auf seine Nähe und sein Handeln ankommt, sondern allein auf Gottes Nähe und Gottes Handeln. Aber er wollte dieser Frau jetzt nicht noch mehr zumuten. Und er erkannte: Eigentlich suchte die Frau nicht seine menschliche Nähe, sondern sie suchte Gottes Nähe. Dazu war ja ein Prophet da: Anderen Menschen Gottes Nähe zu vermitteln durch sein Wort. Dasselbe gilt auch für heutige Gottes­männer, für Pastoren: Sie sind dazu da, dass sie anderen Menschen Gottes Nähe vermitteln. Sie tun es, indem sie predigen, die Sakramente verwalten, Sünden vergeben und in der Seelsorge Trost zusprechen. Oft sind diese Diener Gottes ähnlich unsicher wie Elisa damals; sie wissen zwar, dass Gott helfen und sogar Tote auferwecken kann, aber sie wissen im Einzelfall meistens nicht, wann und wie Gott hilft. Dennoch sind Diener Gottes bereit, Menschen zu begleiten und ihnen damit deutlich zu machen: Gott lässt dich nicht im Stich.

So begleitete Elisa die Frau nach Schunem. Unterwegs kam ihnen Elisas Diener entgegen, der sich schon wieder auf dem Rückweg befand. Elisa sah es schon von weitem an seinem Gesicht: Der Heilungs­versuch mit dem Stab hatte nicht geklappt. Der Diener sagte: „Der Knabe ist nicht aufgewacht.“ Als sie dann in Schunem ankamen, ging Elisa in sein angemietetes Zimmer, verschloss die Tür hinter sich und war mit dem toten Kind auf seinem Bett allein. Aber eigentlich war er nicht allein, Gott der Herr war bei ihm – der Herr, der ihm als seinem Diener manches Schwere zumutete, der ihn aber niemals im Stich ließ. Und dann tat Elisa das Wichtigste und zugleich das Einfachste, was man in so einer Situation tun kann: Er betete. Da erhörte Gott ihn, erfüllte ihn mit seinem Heiligen Geist und gab ihm ein, was er nun machen sollte: Er sollte sich über den Leichnam legen und ihn mit seiner Körperwärme erwärmen. Elisa tat es, lag eine Weile auf dem Kind und erhob sich dann wieder. Nichts war geschehen; Gott stellte die Geduld seines Dieners auf eine harte Probe. Das wissen alle ernsthaften Beter: Oft muss man lange warten, bis man merkt, dass Gott zugehört hat. Elisa tat ein zweites Mal, was der Geist ihm eingegeben hatte: Er legte sich noch einmal über den Leichnam. Da begann das kleine Herz wieder zu schlagen; der Junge nieste und öffnete dann seine Augen. Jawohl, so steht es in der Bibel: „Da nieste der Knabe siebenmal.“ Warum hat man das wohl überliefert? Wohl deshalb: Der Schöpfer schenkte dem ersten Menschen Adam Leben, indem er ihm seinen Lebensodem in die Nase blies – so steht es im Schöpfungs­bericht. Das Niesen erinnert an Gottes Lebensodem in der Nase, und die Zahl Sieben erinnert an die Zahl der Schöpfungs­tage. So erkennen wir: Dass Gott dem Kind das Leben neu schenkte, war sein Schöpfer­werk. Elisa konnte den lebendigen Jungen nun seiner über­glücklichen Mutter zurückgeben. Da war sie voller Freude und Dank.

Liebe Brüder und Schwestern, wenn uns der Tod begegnet, erschüttert er uns. Besonders erschüttert er uns, wenn es junge Menschen trifft und wenn sie uns sehr nahe gestanden haben. Die größte Er­schütterung haben wir freilich noch vor uns: Unser eigenes Sterben. Keiner kann mit Sicherheit sagen, wie das sein wird. Aber eines wissen wir: Jesus ist stärker als der Tod. Denn Jesus ist der Sohn des lebendigen Gottes, des Schöpfers Himmels und der Erden. Jesus ist der Sohn des himmlischen Vaters, der Adam einst das Leben einblies sowie auch dem Sohn der Schune­miterin und manchem anderen. Auch Jesus selbst hat manchen Menschen aus dem Tod ins irdische Leben zurück­geholt. Das Wichtigste aber: Er hat selbst den Tod geschmeckt, um allen, die an ihn glauben, das ewige Leben zu schenken. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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