Nächstenliebe an Fremden

Predigt über 3. Mose 19,33-34 zum 13. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Der 13. Sonntag nach Trinitatis hat die Nächsten­liebe zum Thema, darum wird er in vielen Gemeinden als Diakonie-Sonntag gefeiert. Auch wir werden heute unsere Kollekte für das Diakonische Werk unserer Kirche sammeln. Aber Nächsten­liebe äußert sich nicht nur in organi­sierter Diakonie und in Spenden­geldern, sondern Nächsten­liebe hat auch noch ganz viele andere Gesichts­punkte. Ein Gesichts­punkt, der heute in unserm Land besonders aktuell ist, betrifft den Umgang mit Migranten – also mit Ausländern, die bei uns sesshaft werden wollen. Schon im Alten Testament, im Gesetz des Mose, heißt es dazu: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Ein­heimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“

In einem ersten Gedanken­schritt stellen wir einfach fest: Die Nächsten­liebe ist uns nicht nur für Menschen aufgetragen, die uns nahestehen, sondern auch für Fremde. Jesus sagte in der Bergpredigt: „Wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?“ (Matth. 5,47‑48). Und für das heutige Evangeliums­gleichnis wählte Jesus bewusst einen Samariter als Vorbild der Nächsten­liebe – einen Samariter, für den der unter die Räuber gefallene Jude ein Fremder und Anders­gläubiger war. Der Wochenspruch handelt davon, dass liebevolle Hilfe für die „geringsten Brüder“ ein Dienst an Jesus selbst ist, und in demselben Zusammenhang sagte Jesus: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“ (Matth. 25,35).

Das ist ein klarer und einfacher Grundsatz der Nächsten­liebe: Wenn ich einem Menschen begegne, der Hilfe braucht, und wenn ich ihm helfen kann, dann soll ich ihm helfen – egal ob es sich um einen Verwandten handelt oder einen Nachbarn oder einen unbekannten Deutschen oder einen Ausländer. Der Nächsten­liebe sind die politischen und gesell­schaftlichen Probleme, die damit zusammen­hängen, zunächst einmal egal; die Nächsten­liebe handelt stets ohne Ansehen der Person. Sie tut es, weil sie von Gott kommt.

Es ist nicht unwichtig, dass es am Ende unseres Predigt­textes heißt: „Ich bin der Herr, euer Gott.“ Dieser Satz muss mit allen Geboten der Bibel zusammen­gedacht werden: Wenn wir nach Gottes Geboten handeln, dann zeigen wir damit, dass wir zu Gott gehören. Nun hat Gott selbst alle Menschen ohne Ansehen der Person lieb; es gibt bei ihm keine bevorzugten Lieblinge, und er will auch nicht, dass irgend jemand verloren geht. Jesus selbst hat entsprechend gehandelt und ist am Kreuz für die gesamte Menschheit zum Barmherzigen Samariter geworden.

Im zweiten Gedanken­schritt kommen wir nicht darum herum, einige politische Überlegungen anzustellen. Zwar hat Partei­politik in der Kirche nichts zu suchen, aber wenn wir unser Christsein nicht als Privatsache verstecken, sondern wirklich christlich leben wollen, dann kann das nicht ohne Einfluss auf unsere politische Meinungs­bildung bleiben. Da stellen sich dann folgende Fragen: Warum wollen Fremde bei uns leben? Sollen wir sie ins Land lassen oder sollen wir uns abschotten? Wie benehmen sich die Fremden bei uns? Und wie behandeln wir sie?

Unser Bibeltext sagt nichts zu den Gründen, warum Fremde im alten Israel leben wollten. Nun verlässt kaum einer aus purer Abenteuer­lust seine Heimat, sondern es stecken meistens gewichtige Gründe dahinter. An anderen Stellen der Bibel wird klar, was das damals für Gründe waren. Es sind eigentlich dieselben Gründe, die auch heute viele Menschen zur Migration bewegen; im wesentlichen der Hunger, der Krieg und die Liebe. Da gab und gibt es Dürre­katastrophen und Hungersnöte, die Menschen zur Flucht zwingen. So war es damals, als Josefs Familie nach Ägypten zog, und so ist es heute, wenn hungrige Afrikaner in Europa Brot und Arbeit suchen. Auch Kriege treiben Menschen in die Flucht, oder Besiegte werden gefangen genommen und ins Land der Sieger verschleppt, um dort als billige Arbeits­kräfte zu dienen. So ging es damals den Israeliten in der Babylo­nischen Gefangen­schaft, und so ging es den Zwangs­arbeitern im Zweiten Weltkrieg. Die Gast­arbeiter, die vor vierzig Jahren nach Deutschland zogen, kamen zwar freiwillig, aber sie wurden doch gezielt angeworben, um ebenfalls als billige Arbeits­kräfte zu dienen: Die Türken in der Bundes­republik und die Vietnamesen in der DDR verrichteten für wenig Geld Arbeiten, die die Deutschen nicht gern selber taten. Die Nachkommen dieser Menschen leben als „Personen mit Migrations­hintergrund“ noch immer unter uns. Und schließlich wandert der Eine oder die Andere um der Liebe willen aus – nicht immer nur, weil sie sich verliebt haben, sondern manchmal auch aus für­sorglicher Liebe. So war das bei der Moabiterin Rut, als sie ihrer verwitweten Schwieger­mutter nach Israel folgte und sagte: „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen“ (Rut 1,16).

Sollen wir die Fremden, die an unseren Grenzen anklopfen, hereinlassen oder uns lieber abschotten? Das ist eine schwierige Frage; eigentlich ist es sogar eine falsche Frage. Niemand wird nämlich sagen, dass wir alle Herbei­strömenden unbesehen hereinlassen sollten, und niemand wird sagen, dass wir uns ausnahmslos gegen alle abschotten müssten. Man braucht daher gute Regeln und ver­antwortungs­volle Ent­scheidungen, um das für jeden Einzelfall zu klären. Bei der Europäischen Union kommt erschwerend hinzu, dass sich viele Länder auf eine gemeinsame Außengrenze geeinigt haben; nun müssten diese Länder eigentlich auch gemeinsame Regeln finden, wen sie diese Grenze passieren lassen und wen nicht. Aber wie auch immer solche Regeln gefunden und dann angewandt werden: Es muss dabei der Grundsatz der Nächsten­liebe gelten, ohne Ansehen der Person. Unser deutsches Grundgesetz hat diesen Grundsatz fein aufgenommen, wenn es feststellt: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Un­versehrt­heit“ (Artikel 2,2); und: „Niemand darf wegen seiner Ab­stammung…, seiner Heimat und Herkunft… benach­teiligt oder bevorzugt werden“ (Artikel 3,3).

Wenn wir nun Leute herein­gelassen haben und sie unter uns leben, dann kommt es natürlich darauf an, wie sie sich hier benehmen. Viele Einheimische erwarten, dass sie sich den Regeln und Sitten unseres Landes anpassen und sich integrieren. Diese Erwartung ist berechtigt; sie steckt auch in unserem Bibelwort drin. Da heißt es ja: „Ein Fremdling… soll bei euch wohnen wie ein Ein­heimischer.“ Das hebräische Wort, das Martin Luther mit „Fremdling“ übersetzt hat, bezeichnet einen Menschen, der sich einem anderen Volk anschließt. Gott hatte bereits Abraham geboten, dass männliche Personen, die zu seiner Sippe gehören, beschnitten werden sollen – und zwar ein­schließlich der „Fremd­linge“, die gar nicht mit ihm verwandt waren (1. Mose 17,12). Die Beschneidung war das Zeichen, dass sie dauerhaft zu diesem Volk dazugehörten – etwa so, wie ein Adoptivkind oder ein Pflegekind zu einer Familie dazugehört, obwohl es nicht bluts­verwandt ist. Auch an Ruts Beispiel erkennen wir Integrations­willen, denn sie bezeugte ihrer Schwieger­mutter: „DeinVolk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ Solcher Integrations­wille kann auch heute noch von allen erwartet werden, die dauerhaft bei uns leben wollen. Wenn dagegen Migranten ihre eigenen Sitten und Gesetze im fremden Land durchsetzen wollen, dann sind sie eigentlich keine Fremdlinge im biblischen Sinne, sondern dann sind sie eher Ein­dringlinge. Vor solchen Ein­dringlingen muss sich jedes Land schützen und seine Grenzen bewachen; auch das lehrt die Bibel klar.

Die Fremdlinge aber, die integrations­willig sind, sollen wir gut behandeln – so gut wie unsere eigenen Landsleute. Auch sollen wir uns in ihre Lage versetzen und berück­sichtigen, dass viele von ihnen Schweres durchgemacht haben. In unserem Predigttext heißt es: „Ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägypten­land.“ Als Gott diese Wort seinem Volk durch Mose vorlegte, war das noch gar nicht lange her gewesen. Die Israeliten waren in Ägypten als billige Arbeits­kräfte ausgebeutet und unterdrückt worden. Auch hatten sie den Hass der Ägypter zu spüren bekommen, weil die Ägypter Angst vor einer Überfremdung durch das große und schnell wachsende Volk der Hebräer hatten. Diese Erfahrung sollten die Israeliten nicht vergessen, wenn sie selbst im eigenen Land wohnten und Fremde unter ihnen waren.

Ich möchte noch einen dritten und letzten Gedanken­schritt anschließen. Abrahams Beschneidung war auch ein Zeichen dafür, dass seine Nachkommen Gottes Volk waren, das Eigentums­volk des Herrn, des einen wahren Gottes. Rut sagte zu ihrer Schwieger­mutter aus Israel nicht nur: „dein Volk ist mein Volk“, sondern auch: „dein Gott ist mein Gott“. So lässt sich das, was hier von den Fremden gesagt ist, auch auf Gottes Reich übertragen, heute also auf die christliche Kirche und Gemeinde. Da sollte es nun wirklich keinerlei Grenzen und Vorbehalte geben, sondern da sollte jeder willkommen sein, der ein Christ werden will. Die Taufe entspricht dabei der Be­schneidung, wie auch Paulus lehrt, und der Glaube entspricht dem Integrations­willen. Wer glaubt und getauft wird, gehört ohne Wenn und Aber dazu zu Gottes Volk. Machen wir damit Ernst und leben wir entsprechend – auch in unserer Gemeinde! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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