Er wird das Licht schauen und die Fülle haben

Predigt über Jesaja 53,11-12 zum Karfreitag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es geht bergauf, aber in Wahrheit geht es bergab.

Es geht hinauf auf den Hügel Golgatha an die Hinrichtungs­stätte. Jesus quält sich ab mit dem Kreuzes­balken und bricht irgendwann unter dieser Last zusammen. Das ist aber erst der Anfang, es warten noch schlimmere Qualen auf ihn, Qualen für Leib und Seele. Man behandelt ihn wie einen Schwer­verbrecher. Er hat keine Rechte mehr und muss alles über sich ergehen lassen. Der Jubel des Palmsonntag ist verstummt, seine Anhänger sind abgrundtief enttäuscht. Sie sehen mit Jesus ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben sterben. Um den, der sich als Licht der Welt bezeichnet hat, wird es dunkel; das Licht der Welt verlischt. Und wenn das Licht gestorben ist, bleibt nur Finsternis – so schwarz wie die Altarbehänge am Karfreitag. Es geht bergauf nach Golgatha, aber in Wahrheit geht es bergab.

Das ist kein un­gewöhnliches Geschehen. So lange es Menschen gibt, machen sie solche Erfahrungen. Wir jagen unseren Träumen nach, wir wollen unsere Pläne ver­wirklichen, aber oft scheitern wir daran. Manchmal trösten wir uns damit, dass das Glas wenigstens noch halb voll ist, aber manchmal müssen wir auch ehrlich zugeben: Das Glas ist fast leer. Wieviel Mühe stecken die Mächtigen der Welt in ihre Pläne und Ver­handlungen, welche Hoffnungen begleiten ihr Tun! Und doch stellt sich am Ende immer wieder heraus: Je mehr geplant und verhandelt wird, desto weniger Lösungen finden sich für die bedrückenden Probleme. Es geht bergauf, aber in Wahrheit geht es bergab.

Und dann ist da unser Lebensweg. Wir arbeiten, wir mühen uns ab, wir freuen uns an Erfolgen und an den schönen Stunden des Lebens, aber früher oder später merken wir: Freuden vergehen, Freunde sterben, unsere Kräfte nehmen ab. Die Lebenszeit, die wir dann noch zu erwarten haben, ist kurz. Bis dann schließlich auch in dieser Hinsicht unser Glas fast leer und der Tod ganz nah ist. Es geht mit der Anzahl der Lebensjahre bergauf, aber in Wahrheit geht es bergab.

Manche Leute trösten sich damit, dass Jesus das auch durchgemacht hat. Aber kann uns wirklich der bloße Gedanke trösten, dass sich da jemand am Kreuz abquälte, litt und starb – auch wenn er Gottes Sohn war? Nein, letztlich hilft uns dieser Gedanke nicht weiter. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir tiefer blicken und das Einzigartige erkennen, das da am Kreuz geschah. Jesajas Prophezeiung vom Gottesknecht öffnet uns dafür die Augen. Was bedeutet es, dass Jesus hier Gottes Knecht genannt wird? Bedeutet es, dass er dem himmlischen Vater gedient und sich für ihn abgequält hat? Das auch, aber das ist nicht das Ent­scheidende. Es bedeutet vor allem, dass der himmlische Vater seinen eingeborenen Sohn für uns zum Knecht gemacht hat. Jesus ist vom Vater beauftrag worden, ein Knecht der Menschen zu werden – das bedeutet „Knecht Gottes“. Er selbst hat wiederholt betont: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Matth. 20,28). Und Jesaja prophezeite von ihm: „Er wird den Vielen Gerechtig­keit schaffen, denn er trägt ihre Sünden.“ Unser Lastenträger ist er, dieser Gottes­knecht. Er leidet nicht nur für sich selbst und für seinen himmlischen Vater, sondern er leidet in erster Linie für uns Menschen, denn er trägt unsre Sünden.

Wir können Jesus mit einem Sherpa vergleichen. Ein Sherpa ist ein Lastträger bei Expeditionen auf den höchsten Berg der Welt, den Mount Everest. In ein paar Wochen beginnt dort wieder die Saison, dann werden viele dieser Knechte das Gepäck der Leute schleppen, die einmal in ihrem Leben auf dem höchsten Gipfel stehen wollen. Ohne Sherpas könnten sie das niemals schaffen, die körperlichen Strapazen wären einfach zu groß. Die Sherpas aber sind in dieser Gegend aufgewachsen und das Bergsteigen gewohnt, darum können sie den Leuten ihre Lasten abnehmen.

Unsere Hauptlast heißt Sünde. Wenn wir an den Gipfel erfüllten Lebens gelangen wollen, dann können wir das nur ohne diese Last. Wenn es nicht nur scheinbar, sondern in Wahrheit bergauf gehen soll, muss uns jemand unsere Sündenschuld abnehmen. Wenn wir selig werden wollen, brauchen wir die Hilfe des Gottes­knechts Jesus Christus. Denn erfülltes Leben und ewige Seligkeit finden wir nur, wenn wir in guter Gemeinschaft mit unserem Schöpfer stehen. Das kann nur dann gelingen, wenn unsere Sünde nicht mehr dazwischen steht. An den Gipfel der ewigen Seligkeit wird nur der gelangen, der im letzten Gericht sagen kann: Herr, ich habe zwar nicht gerecht und richtig gelebt vor deinen Augen, aber dein Knecht Jesus Christus hat meine Last auf sich genommen und mir dafür seine Gerechtig­keit geschenkt; so hoffe ich auf deine Gnade. All das hat der große Prophet Jesaja wunderbar voraus­gesehen und vorher­gesagt: „Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtig­keit schaffen, denn er trägt ihre Sünde.“ Seine „Erkenntnis“ meint die Einsicht in Gottes Heilsplan, von dem Jesaja vorher gesagt hat: „Des Herrn Plan wird durch seine Hand gelingen.“ Jesus hat erkannt, dass des Vaters Wille gut und richtig ist, hat sich ein­verstanden erklärt und diesen schweren Dienst auf sich genommen. Er hat damit alles richtig gemacht; er ist der vollkommen Gerechte. „Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtig­keit schaffen, denn er trägt ihre Sünde.“

Dass der Gottesknecht unsere Sünde abnimmt und trägt, zieht sich in mehrfachen Wieder­holungen wie ein roter Faden durch das ganze Knecht-Gottes-Lied und darüber hinaus durch die ganze Bibel. Da heißt es: „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“ Da heißt es: „Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Da heißt es: „Der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.“ Da heißt es: „Er war für die Missetat meines Volks geplagt.“ Und da heißt es am Schluss, dass er für die Übeltäter gebeten hat. Als man ihn ans Kreuz nagelte, sagte er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34). Und da meinte er nicht nur die römischen Soldaten, da meinte er auch uns.

Ja, Gottes Sohn hat sich für uns zu Gottes Knecht gemacht, der Gerechte zum Sünden-Träger. So ist Jesus unser Sherpa geworden beim Aufstieg zum höchsten Gipfel des Lebens: zum Frieden mit Gott und zur ewigen Seligkeit. Aber wir erkennen bei Jesus etwas, das nicht zum Vergleich mit einem Sherpa passt, ja, für das es eigentlich überhaupt keinen passenden Vergleich gibt, denn es ist einzigartig. Ein Sherpa ist stark und erfüllt seinen Dienst, indem er die Last bis ganz nach oben trägt. Jesus aber erweist sich schwach in seinem Dienst, er bricht unter der Last zusammen. Nicht nur der Kreuzsbalken erdrückt ihn auf dem Weg nach Golgatha, sodass ein anderer ihn weitertragen muss. Nein, auch die Last unserer Sünde erdrückt ihn und macht ihn schließlich kaputt. Jesus müht sich nicht nur ab mit unserer Sünde und leidet unter ihr, sondern er stirbt auch daran. Scheinbar ist es mit seiner Mission bergab gegangen – so tief, bis es nicht mehr weitergeht.

Aber das ist nur scheinbar so. Denn in Wahrheit hat Jesus damit die große Wende gebracht. Wenn jemand zu Jesus gehört, dann gilt nicht mehr: Es geht bergauf, aber in Wahrheit bergab, sondern dann gilt umgekehrt: Es geht bergab, aber in Wahrheit bergauf. Die scheinbare Niederlage des Gottes­knechts am Kreuz ist in Wahrheit der Sieg des Königs aller Könige. Jesaja weissagte: „Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben.“ Der menschlichen Vernunft ist völlig un­verständlich, dass da jemand im Zusammen­brechen, Untergehen, Leiden und Sterben etwas Positivis bewirkt, denn die menschliche Vernunft will Macht und Kraft und Erfolge sehen. Die göttliche Weisheit aber handelt genau umgekehrt: Gerade durch Leiden und Sterben werden Sünde und Tod besiegt; gerade in der finstersten Stunde wird uns das ewige Licht angezündet; gerade der tiefste Punkt eröffnet den Weg zum Gipfel.

Kurz vor seinem Tod sagte Jesus: „Es ist vollbracht.“ Der Gottesknecht hat seinen Auftrag erfüllt: Er hat die Sündenlast der ganzen Menschheit auf sich genommen und ist unter ihr zusammen­gebrochen. Aber gerade deswegen ist das Glas der Erlösung nicht leer und auch nicht nur halb voll, sondern es ist ganz voll, angefüllt bis an den Rand: „Es ist vollbracht.“ Auch all die Propheten­worte, die das lange vorher angekündigt haben, sind nun erfüllt, auch Jesajas wunderbare Weissagung: „Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben.“ Es geht bergab, aber in Wahrheit bergauf.

Das helle Licht des Ostermorgens zieht herauf. Wir ahnen es schon und freuen uns darauf: Übermorgen wird der Altar weiß behangen sein, wo heute noch Schwarz hängt. Dann wird Gottes Knecht als Gottes Herr trium­phieren, dann wird er sich als mächtigster König zeigen, mächtiger sogar noch als der Tod. Alle Machthaber dieser Welt sind dem Tod unterworfen und fürchten ihn; sie äußern sich stets entsetzt und betroffen, wenn sie mit ihm konfrontiert sind. Alle Starken der Welt sind schwach und machtlos angesichts des Todes. Aber der, der unter der Last unserer Sünde zusammen­gebrochen und für uns gestorben ist, erweist sich als Herr über den Tod. Damit ist er allen anderen Mächten überlegen. Wie ein mächtiger antiker König feindliche Könige besiegte und die Kriegs­gefangenen als Beute heimbrachte, so herrscht Jesus nun über alles, was Macht hat, im Himmel und auf Erden. Gott ließ durch Jesaja verkündigen: „Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleich­gerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.“ Wir können froh und dankbar sein, dass wir zu dieser „Beute“ Jesu dazugehören, dass wir seine „Kriegs­gefangenen“ sind – oder besser: von ihm zum Leben Befreite.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, ich wünsche euch dieselbe Erkenntnis, die der Gottesknecht Jesus Christus auch hatte: die Einsicht in Gottes Heilsplan und die vertrauens­volle Zustimmung zu diesem Plan. Denn wer Jesus und seinem Sünden-Träger-Dienst vertraut, der wird von ihm mitgenommen zur Fülle des Lebens. Das gilt auch dann, wenn es in dieser Welt in vieler Hinsicht bergab geht, denn in Wahrheit geht es bergauf – hin zum Gipfel, zur ewigen Seligkeit. Wie Jesus nach seinem Tod am Kreuz die Fülle hatte und zu ewiger Herrlichkeit auferstand, so werden wir durch ihn auch die Fülle haben. Wörtlich steht da bei Jesaja „Vollheit“ (im Sinne des ganz vollen Glases) oder „Sattheit“ im Sinne von Psalm 17. Da heißt es am Ende: „Herr, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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