Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
An der Art und Weise, wie ein Mensch bestattet wird, zeigt sich normalerweise viel von seinem Leben. Das galt in biblischen Zeiten, und das gilt auch heute noch. Wenn viele zur Beerdigung kommen, dann hatte der Verstorbene eine große Familien oder einen großen Bekanntenkreis, dann war er bei seinen Mitmenschen beliebt und geachtet gewesen. Und wenn trotz aller Traurigkeit Lob‑ und Danklieder gesungen werden, wenn der Trost der Auferstehung über der bedrückenden Begegnung mit dem Tod triumphiert, dann war der Verstorbene ein lebendiges Glied am Leib Christi, ein treues Mitglied seiner Kirche und Gemeinde gewesen. Ja, an der Art und Weise, wie ein Mensch bestattet wird, zeigt sich viel von seinem Leben – normalerweise.
Aber es gibt Ausnahmen. Eine große und himmelschreiende Ausnahme ist unser Herr Jesus Christus selbst. Denn was für eine Beerdigung hätte der Rabbi Jesus von Nazareth, der König der Juden, verdient? Und was für eine Beerdigung hat er stattdessen bekommen? Unter welchen Umständen ist er gestorben und begraben worden? Darum geht es in den Versen aus Jesajas viertem Knecht-Gottes-Lied, die wir heute bedenken.
„Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen“, so beginnt dieser Abschnitt. Luthers Übersetzung kann allerdings missverstanden werden: „Angst“ meint hier nicht das bedrückende Gefühl an sich, sondern das, was dieses Gefühl auslöst: die schlimmen Misshandlung, die der Gottesknecht Jesus Christus erlitten hat. Jesaja hat hier die schrecklichen Umstände von Jesu Sterben betont, nicht die Tatsache, dass er es endlich überstanden hat. Ein großer Kenner des Alten Testaments, August Pieper, hat vor hundert Jahren direkt aus dem Hebräischen wunderschön übersetzt: „Durch Zwang und Richterspruch war er hinweggerafft.“ Genau das ist gemeint: Unter missbräuchlich ausgeübter Gewalt hat man Jesus durch einen ungerechten Richterspruch aus seinem Leben herausgerissen. Aber der Herr litt nicht nur unter der Macht seiner Feinde, sondern auch unter denen, die bisher auf seiner Seite gestanden und ihm massenhaft zugejubelt hatten. Luther übersetzte: „Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen…“ Bei August Pieper heißt es wieder deutlicher: „Und sein Geschlecht, – wer unter ihnen hat’s beklagt, dass aus dem Land der Lebenden er weggerissen ward?“ Die Hosianna-Rufe des Volkes vom Palmsonntag schlugen am Karfreitag in Kreuzig-Rufe um und in verächtlichen Spott. Die meisten Jünger verkrochen sich. Nur ganz wenige harrten beim sterbenden Jesus am Kreuz aus und beweinten ihn. Dann starb der Messias, und es hätte nicht viel gefehlt, und sein Leichnam wäre wie die Körper der mitgekreuzigten Verbrecher am Hügel Golgatha verscharrt worden. Bei Jesaja heißt es: „Man gab ihm sein Grab bei Gottlosen.“
Aber es ist dann doch etwas anders gekommen. Der reiche Ratsherr Josef von Arimathäa stellte seine eigene noble Grabhöhle als würdigeren Beerdigungsort zur Verfügung. Das ist doch wenigstens etwas, auch wenn es keine prunkvolle Beerdigungsfeier geben konnte! „Man gab ihm sein Grab bei Reichen“, so hat Luther weiter übersetzt. Auch hier ist der hebräische Text schwierig, er kann auch so übersetzt werden: „Man gab ihm sein Grab bei Übeltätern.“ Läuft das aber nicht letztlich auf dasselbe hinaus? Denn egal ob Jesu Leichnam verscharrt oder herrlich einbalsamiert in eine stattliche Gruft gebettet wurde, dem Gottessohn angemessen ist beides nicht. Die Leiber, die da auf dem Friedhof der Reichen ruhten, waren in Gottes Augen zu ihren Lebzeiten nicht besser gewesen als die beiden Mitgekreuzigten; sie alle waren ja Sünder und hatten Gottes Zorn verdient. Nur einer gehörte nicht hierher: Jesus. Darin zeigte sich auch noch nach Jesu Tod: Er hat auf sich genommen, was wir verdient haben. Er wurde bei Sündern beerdigt – daran wird deutlich, dass er für Sünder gestorben ist. Wie schon mehrmals zuvor hat der Prophet Jesaja diese wunderbare Wahrheit auch in diesem Zusammenhang deutlich betont. Wir lesen: „Er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war.“ Und weiter: „Man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.“
Zur Erniedrigung und zum Leiden unsers Herrn Jesus Christus gehört ganz wesentlich dazu, dass er von seinen Mitmenschen entfremdet wurde. Auch diese Erkenntnis steckt drin in der Prophezeiung: „Er wurde aus dem Lande der Lebendigen weggerissen.“ Die Feinde taten ihm Gewalt an und verurteilten ihn ohne triftigen Grund zum Tode; seine Anhänger wandten sich von ihm ab oder wandten sich teilweise sogar gegen ihn. Nur wenige hielten es am Kreuz aus und trugen seinen Schmerz mit, und nur wenige kümmerten sich nach seinem Tod um eine halbwegs würdige Bestattung. Es war, wie gesagt, keine große Begräbnisfeier mit vielen ehrenwerten Trauergästen, es war eher ein hastiges Fortbringen des Leichnams in eine schöne Gruft. „Man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und Reichen“, oder auch: „bei Gottlosen und Übeltätern“.
Nun schließt sich ein ganz schwerwiegender Satz an: „So wollte ihn der Herr zerschlagen mit Krankheit.“ Da steht es ganz unmissverständlich: Der himmlische Vater hat dem Tod seines Sohnes nicht einfach ohnmächtig zusehen müssen, er hat ihn auch nicht gleichgültig nur zugelassen, sondern er hat ihn bewusst und willentlich herbeigeführt. Noch einmal: „So wollte ihn der Herr zerschlagen mit Krankheit.“ Ja, Gottes Wille ist mitunter ganz unbegreiflich. Noch in der Nacht zuvor hatte Jesus flehentlich gebetet: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“, hatte dann aber hinzugefügt: „…doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ (Matth. 26,39). Nun, nachdem alles vollbracht war, zeigte sich dieser Wille des Vaters: Er wollte seinen Sohn töten, er wollte ihn „zerschlagen mit Krankheit“. Mit welcher Krankheit? Mit der Ur-Krankheit, die seit Anbeginn hinter allem Leid der Welt steckt: mit der Sündenkrankheit. Diese Krankheit muss tödlich enden, so entspricht es Gottes heiligem und gerechtem Willen. Aber größer als Gottes unerbittliche Gerechtigkeit ist seine Liebe und Barmherzigkeit. Darum leitete er den tödlichen Ausgang der Sündenkrankheit von uns, die wir ihn verdient haben, ab, leitete ihn um auf seinen Sohn. „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“ Das ist das eine große Thema, das sich wie ein roter Faden durch das gesamt vierte Knecht-Gottes-Lied zieht, ja eigentlich durch die ganze Bibel.
Weil es so gekommen ist, wie Jesaja geweissagt hat, weil der Gottessohn bis hin zu seinem Begräbnis für unsere Sünde gestraft wurde, darum hat der Tod für uns seinen Stachel verloren, und darum kann ein christliches Begräbnis nichts abgrundtief Trauriges sein. Gebe Gott, dass wir das über den Särgen und Gräbern unserer Mitchristen nicht vergessen, sondern bezeugen, und sei es auch unter Tränen. Und gebe Gott, dass wir selbst in unserer letzten Stunde mit diesem Trost getröstet werden: „Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir, / wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür; / wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten / kraft deinerAngst und Pein.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |