Die Strafe liegt auf ihm

Predigt über Jesaja 53,4-5 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn jemand mit zu dünner Kleidung in der Kälte spazieren geht und sich dabei einen Schnupfen holt, dann kann man wohl sagen: Er ist selbst schuld, dass er leiden muss. Oder wenn jemand leichtfertig mit Alkohol oder Zigaretten um­geht und davon süchtig wird, muss man ebenfalls sagen: Er ist selbst schuld, dass er leiden muss. Oder auch wenn sich jemand leichtsinnig im Straßen­verkehr bewegt und dabei verletzt wird, gilt: Er ist selbst schuld, dass er leiden muss.

So war es schon von Anfang an. Adam und Eva wussten damals ganz genau, was Gott verboten hatte, aber trotzdem taten sie es. Adam hatte daraufhin im Schweiße seines Angesichts mit den Disteln und Dornen des Ackerbodens zu kämpfen, und Eva brachte unter Schmerzen Kinder zur Welt, so hatte Gott es über sie verhängt. Ja, sie waren selbst schuld, dass sie leiden mussten.

In der Geschichte gibt es unzählige Beispiele von Menschen, die selbst­verschuldet gelitten haben, nicht zuletzt auch im Alten Testament. Das hat die Einstellung der Menschheit grundlegend geprägt. So kam es, dass man in Israel und anderswo in jedem Leid eine Folge von Schuld sahen. Als der fromme Hiob von vielfachem Leid heimgesucht wurde, da meinten seine Freunde, das habe er bestimmt selbst verschuldet mit irgendwelchen verborgenen Sünden. Lepra-Kranke und Behinderte wurden in Israel von der Gottesdienst­gemeinde aus­geschlossen, weil man dachte, dass Gott mit ihrem besonderen Leid besondere Sünden bestrafte. Und als Jesus und seine Jünger einem blind Geborenen begegneten, da fragten die Jünger ihn, ob diese Blindheit eine vorweg­genommene Strafe seiner eigenen Sünde sei oder ob Gott seine Eltern mit einem blind geborenen Kind gestraft hat. Solche Gedanken gingen von der selbst­verständ­lichen Annahme aus, dass jedem Leid eine bestimmte Schuld zugrunde liegen muss.

Nun wissen wir heute, dass man das nicht so einfach sagen kann. Manche Leiden können wir zwar auf bestimmte Schuld zurück­führen, andere jedoch nicht. Denn viele Menschen leiden ja unter dem, was andere ihnen Böses angetan haben. Und oft kann man den Zusammenhang von Leid und Schuld überhaupt nicht erkennen. Trotzdem hängt alles Leid in der Welt irgendwie damit zusammen, dass wir Menschen Sünder sind. Man kann sagen: Wir leben in einem Geflecht von Leid und Schuld. Darum können wir uns nicht bei Gott beschweren, wenn wir leiden müssen, ebensowenig wie Hiob sich damals beschweren konnte. Aufs Ganze gesehen besteht ja tatsächlich dieser verhängnis­volle Zusammen­hang: Wir Menschen sind selbst schuld daran, dass wir leiden müssen.

Es werden auch viele von denen, die das Leiden und Sterben Jesu miterlebten, gedacht haben: Eine schwere Schuld muss auf diesem Mann am Kreuz liegen, wenn Gott ihn so leiden lässt. Jesaja hat diesen Gedanken in seinem vierten Knecht-Gottes-Lied voraus­gesagt; es klingt bei ihm so: „Wir hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.“ Der Gekreuzigte leidet so wie einer, über den sich Gottes geballter Zorn entlädt. Der Gekreuzigte leidet so wie einer, der eine schwere Schuld auf sich geladen hat.

Genauso ist es auch: Jesus hat eine schwere Schuld auf sich geladen. Aber es ist nicht seine eigene Schuld, sondern eine fremde Schuld – unsre Schuld. „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen… Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zer­schlagen.“ Achten wir darauf, wie sich in diesen Sätzen die Wörter „wir“ und „er“ vertauschen: „Wir hielten ihn für den, der geplagt war, aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet.“ Dieser unfassliche Tausch und Wechsel ist die Ursache für unser Heil. Der Apostel Paulus bezeugte: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor. 5,21). Und Johann Heermann dichtete: „Der Fromme stirbt, der recht und richtig wandelt, / der Böse lebt, der wider Gott misshandelt; / der Mensch verwirkt den Tod und ist entgangen, / Gott wird gefangen.“ Am Kreuz von Golgatha gilt nicht mehr der Grundsatz: Der Mensch ist selbst schuld, dass er leiden muss, sondern es gilt: Der Mensch ist schuld, dass der Gottessohn leiden muss. Der Prophet Jesaja hat dieses Unfassliche bereits rund 800 Jahre vorher geweissagt.

Hier im vierten Knecht-Gottes-Lied schlägt das Herz des Evangeliums. Das Evangelium aber ist das Herz der Bibel, die Bibel aber ist das Buch der Bücher, Gottes Wort für uns, Gottes offenbarter Wille. Und diese beiden Verse in der Mitte, die wir heute bedenken, sind wiederum das Herz des vierten Knecht-Gottes-Liedes. Mit Recht sind diese Worte in unseren Bibeln fett gedruckt; man müsste sie eigentlich so groß und fett drucken, dass sie die ganze Seite ausfüllen. Mit Recht sind diese Worte auch in unsrer Kirche stets gegenwärtig unter dem Altarbild mit dem dorn­gekrönten Christus. Und mit Recht beginnen diese Worte mit einer besonders feierlichen Einleitung: „Fürwahr!“ Dieses „Fürwahr“ taucht im Alten Testament nur an wenigen Stellen auf. Es betont besonders: Diese Botschaft ist fest gegründet in Gottes Willen, sie ist sein ewig un­verbrüch­licher Ratschluss. „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“ In diesem „Fürwahr“ klingt bereits eine andere feierliche Redewendung an, die Jesus selbst mehrfach benutzt hat: „Wahrlich, ich sage euch!“, oder mit dem ur­sprünglichen Wort: „Amen, ich sage euch!“ Die Bedeutung ist: Ja, das gilt fest und un­verbrüch­lich.

Am Kreuz setzte Jesus den verhängnis­vollen Zusammenhang von Schuld und Leid außer Kraft. Er nahm das Leid auf sich, das wir mit unserer Sünde verschuldet haben. Er löffelte die Suppe aus, die wir eingebrockt haben. Er leitete den göttlichen Zornesblitz ab, der uns treffen müsste. Er stellte sich unter den Fluch unserer Entfremdung von Gott. Und wozu tat er es? Der letzte Satz unsers Abschnitts sagt es klar: „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Jesus hat die Strafe auf sich genommen, damit wir anstelle dieser Strafe das bekommen, was wir nicht verdient haben: Frieden mit Gott und ewiges Heil. Es ist der Friede, den der heimkehrende Verlorene Sohn empfand, als der Vater ihn wieder liebevoll in seine Arme schloss. Und es ist das Heil, das der tödlich verletzte Stephanus empfand, als er ausrief: „Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen!“ (Apostel­gesch. 7,56)

Nun dürfen wir uns allerdings nichts vormachen: Auch heute noch leiden Menschen. Auch heute noch fügen Menschen sich selbst Leid zu, oder sie haben unter der Bosheit anderer zu leiden, oder sie bekommen ganz allgemein zu spüren, dass sie in einer sünden­verfallenen Welt leben. Auch Menschen, die getauft sind und an Christi Erlösung glauben, sind nicht ausgenommen vom Leid. Und auch wir selbst müssen leiden, du und ich. Was bedeutet denn dann, dass Christus unsre Krankheit trug und unsre Schmerzen auf sich lud? Was bedeutet denn dann, dass er um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen ist? Es bedeutet, dass wir, auch wenn wir immer noch zu leiden haben, an unserm Leid nicht mehr zerbrechen müssen. Es ist nämlich bereits ein anderer an unserm Leid zerbrochen. Christi Leib wurde gebrochen und sein Blut wurde vergossen, damit das Leid nicht das letzte Wort über uns behält. Zwar müssen wir noch leiden, aber wir können es zu­versichtlich tun und dabei sogar „Freude in allem Leide“ empfinden. Dabei haben wir die Zuversicht, dass Gott uns in dem Maß, wie er uns Leiden zumutet, auch Kraft gibt, sie zu tragen. Und wenn unter solchen Leiden und unter solchem Trost unser Glaube reift, dann können wir vielleicht sogar wie der Apostel Paulus bekennen: „Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlich­keit, die an uns offenbart werden soll.“ Fürwahr, ja, amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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