Jesus und die Heilige Schrift

Predigt über Matthäus 5,17-20 zum Sonntag Reminiszere

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Einmal in der Woche übe ich mit Flüchtlingen Deutsch lesen und schreiben. Vielen von ihnen sind unsere Buchstaben unbekannt, und sie müssen sie wie Erstklässler üben. Da kommt es dann darauf an, kein Pünktchen oder Häkchen zu übersehen. Zum Beispiel unter­scheidet sich das kleine a vom kleinen o nur durch ein Häckchen, aber dieses Häkchen kann einen großen Unterschied bedeuten: Wenn man es vergisst, kann aus „Hase“ „Hose“ werden.

Auch bei der Bibel kommt es darauf an, dass wir jeden Buchstaben und jedes Häkchen ernst nehmen. Jesus sagte: „Bis Himmel und Erde vergehen, wid nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz.“ Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass Jesus nicht nur von den Geboten der Bibel redete, sondern von der Heiligen Schrift insgesamt – zu seiner Zeit umfasste sie natürlich erst das Altes Testament. Man nannte die alt­testament­lichen Schriften damals zusammen­fassend „das Gesetz und die Propheten“, kurz „das Gesetz“. Wenn wir Jesus vertrauen und ihm nachfolgen, dann sollten wir ihm auch in dieser Einsicht folgen: Mit jedem einzelnen Buchstaben, mit jedem einzelnen Häkchen und „Tüpfel­chen“, ist die Bibel Gottes nie veraltendes, ewig gültiges Wort. Diese Erkenntnis ist deshalb so wichtig, weil der Inhalt der Bibel so wichtig ist. Die Bibel beantwortet nämlich drei wesentliche Fragen: Was soll ich glauben? Was muss ich tun? Was darf ich hoffen? Lasst uns jetzt Jesu Wort über „das Gesetz“ im Hinblick auf diese drei wichtigen Fragen betrachten.

Erstens: Was soll ich glauben? Was ich mit meiner eigenen Erfahrung und Vernunft heraus­kriege, oft auch mithilfe der Erfahrung anderer Leute, das brauche ich nicht zu glauben, denn das weiß ich. Was aber über meine Erfahrung und Vernunft hinausgeht, davon weiß ich nichts, aber Gott kann es mir zeigen, offenbaren, aufdecken. Das tut er in der Heiligen Schrift. Dort finde ich alle Infor­mationen über Gott, Engel, Himmel, Hölle, Zorn, Gnade, Schöpfung und den Jüngsten Tag, die mein Verstand nie heraus­kriegen könnte, die mir der Schöpfer aber aufdeckt. Diese Dinge soll ich einfach glauben – genauso, wie sie in der Bibel stehen. Denn Jesus selbst hat bezeugt, dass jeder Buchstabe davon gilt und ewig gültig bleibt. Bei anderer Gelegenheit sagte er: „Die Schrift kann nicht gebrochen werden“ (Joh. 10,35). Für diesen Sachverhalt haben frühere Theologen den Begriff „Verbal­inspiration“ gefunden, auf Deutsch: „wörtliche Ein­gebung“. Damit ist nicht gemeint, dass Gott den Schreibern wie im Schlaf Wort für Wort diktiert hat. Verbal­inspiration meint vielmehr, dass Gott uns mit jedem Wort, jedem Buchstabe und jedem „Tüpfelchen“ der Bibel offenbart, was wir glauben sollen. Leider hat sich in der Theologie eine Tendenz ein­geschlichen, die dies in Frage stellt und meint, die Bibel müsse wie jedes Menschen­buch gedeutet werden. Diese sogenannte historisch-kritische Schrift­auslegung ist Schuld daran, dass heute manche Theo­logen die Wahrheit vieler biblischer Aussagen in Frage stellen. Lassen wir uns nicht von ihnen verwirren, sondern halten wir unbeirrt an dem fest, was Jesus gelehrt hat: Die ganze Heilige Schrift gilt mit all ihren Buchstaben und Tüpfelchen – bis zum Jüngsten Tag.

Jesus hat das unter anderem deshalb so betont, weil die Pharisäer ihn ver­dächtigten, er wolle Gottes Gesetz abschaffen. Dieser Eindruck konnte durchaus entstehen. Zum Beispiel ist Jesus manchmal sehr frei mit dem Sabbat-Gebot umgegangen. Und in der Bergpredigt hat er den Geboten des Alten Testaments mehrmals den Satz gegenüber­gestellt: „Ich aber sage euch…“ Damit wollte er jedoch keineswegs das Alte Testament und dessen Gesetze für ungültig erklären und durch etwas revolutionär Neues ersetzen. So ist der neue Bund nicht gemeint, den er gestiftet hat. Aus diesem Grund erklärte Jesus un­missverständ­lich: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Es ist bemerkens­wert, dass er dies gerade am Anfang der Bergpredigt sagte. Wer also auf Jesus hört und ihm nachfolgt, der beantwortet die Frage „Was soll ich glauben?“ so: Ich glaube all das, was Gott in der Heiligen Schrift offenbart hat.

Ich komme zur zweiten Fragen: Was muss ich tun? Da geht es um das Gesetz im engeren Sinne, also um die biblischen Gebote, Anweisungen und Bestimmun­gen. Auch hier müssen wir uns vor dem Miss­verständnis hüten, als würden Jesus und der neue Bund Gottes Gesetz ungültig machen. Die Verkündigung des Apostels Paulus ist öfters in dieser Weise miss­verstanden worden, etwa wenn Paulus schreibt: „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Römer 10,4). Das ist allerdings nicht so zu verstehen, als würde Gott seine Gebote zurück­nehmen, sondern es ist vielmehr so zu verstehen, dass der tödliche Fluch des Gesetzes für all diejenigen aufgehoben ist, die an Jesus glauben. Jesus selbst hat eindeutig gelehrt, dass niemand auch nur das aller­kleinste Gebot der Bibel für ungültig erklären soll.

Was die Zehn Gebote betrifft, so leuchtet uns das ein: nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht lügen – das muss nach wie vor gelten. Aber was ist mit den kom­plizierten Opfer­vorschriften des Alten Testaments? Oder was ist mit den grausamen Be­strafungen, die das Alte Testament an einigen Stellen fordert? Wie steht es denn zum Beispiel mit dem Gesetz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“? Hat Jesus ihm nicht in der Bergpredigt ausdrücklich die Nächsten­liebe gegenüber­stellt? Die Pharisäer versuchten damals, sämtliche Bestimmungen des Alten Testaments akribisch genau einzuhalten. Das sind nicht wenige, das sind mehrere hundert. Die Schrift­gelehrten konnten oft stundenlang darüber diskutieren, was erlaubt ist und was nicht. Zum Beispiel: Wie klein muss eine Zwischen­mahlzeit sein, dass man sie ohne Tischgebet zu sich nehmen darf? Oder: Bezieht sich das Gebot, zehn Prozent aller Einnahmen an den Tempel abzuführen, auch auf das kleine Sträußchen Dill, das man in seinem Kräuter­garten erntet? Jesus hat solche Spitz­findigkeiten ausdrücklich verworfen und die Pharisäer deswegen Heuchler genannt. Warum Heuchler? Weil sie einerseits so taten, als würden sie Gottes Willen besser als jeder andere erfüllen, dabei aber andererseits das wichtigste Gebot übertraten: das Liebesgebot nämlich.

Was sehen wir daran? Wir sehen: Wenn wir die Bibel richtig verstehen wollen, geht es nicht mit einer spitz­findigen wörtlichen Auslegung, sondern vielmehr nur mit einer Wort-getreuen Auslegung – einer Auslegung also, die den wahren Sinn von Gottes Gesetz erkennt und anerkennt. Wer zum Beispiel das Gebot „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ in seinem alt­testament­lichen Zusammenhang bedenkt, der merkt, dass es eigentlich ein Gebot der An­gemessen­heit ist: Niemand sollte sich in blinder Wut an jemandem rächen, der ihm ein Leid getan hat, denn dabei wird er meistens über das Ziel einer angemessenen Strafe hinaus­schießen. Vielmehr sollte Israels Volks­gemeinschaft darauf achten, dass Strafen angemessen bleiben, also dass sie dem Übeltäter nicht unverhältnis­mäßig viel mehr Leid zufügen, als er seinem Opfer zugefügt hat. In diesem Sinn gilt das Gebot noch heute; wir finden es in jedem modernen Staat wieder. Wir verzichten auf Lynch-Justiz und überlassen das Strafen den staatlichen Organen. Dabei muss gewähr­leistet sein, dass die Höhe der Strafen den jeweiligen Straftaten angemessen ist. In solchem Verständnis zeigt sich auch an diesem Gebot Fürsorge und Liebe, nämlich eine wohl ausgewogene Liebe zu Opfer, Täter und Gesell­schaft. Auch wenn wir viele Anweisungen des Alten Testaments heute nicht mehr wörtlich umsetzen, so gelten sie doch weiterhin als Gottes Wille und können uns auf die eine oder andere Weise verstehen helfen, was das größte und wichtigste Gebot ist: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele; und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das ist, zusammen­gefasst, die Antwort der Bibel auf die Frage: Was muss ich tun?

Ich komme zur dritten Frage: Was darf ich hoffen? Oder anders gefragt: Darf ich hoffen, selig zu werden und in den Himmel zu kommen? Oder mit Luther: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Jesus sagte: „Wenn eure Gerechtig­keit nicht besser ist als die der Schrift­gelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Das klingt im ersten Moment depri­mierend: Wer kann das schaffen – das Gesetz noch besser erfüllen als die Pharisäer, die sich mit allem Ernst und Eifer darum bemühten? Wir haben gesehen, dass ihnen dabei das Wichtigste fehlte, die Liebe nämlich; aber wer kann schon so vollkommen lieben, wie es das höchste Gebot fordert?

Nun zeigt uns Gottes Wort aber einen wunderbaren Weg, wie wir trotzdem selig werden können. Dieser Weg ist in jenem merkwürdigen Satz enthalten, den Jesus gesagt hat: „Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut oder lehrt, der wird groß heißen im Himmel­reich.“ Mancher mag sich wundern, dass es überhaupt „Große“ und „Kleine“ im Himmelreich gibt. Vor ein paar Wochen haben wir diese Sache in unserem Gesprächs­kreis behandelt unter dem Thema „Rang­unterschiede im Himmel“. Da stellten wir fest, dass es tatsächlich Unterschiede in Gottes ewigem Reich gibt, sowohl unter den Engeln als auch unter den seligen Menschen. Irdisch gesprochen gibt es da sowohl Türhüter als auch Regierende auf Thronen. Der Himmel ist nämlich kein langweiliger Einheitsbrei aus lauter gleich­artigen Menschen, sondern das Gottesvolk hat eine Struktur, eine Vielfalt von Positionen. Dennoch werden alle gleich glücklich sein, nämlich zu hundert Prozent. Niemand wird neidisch zu einem anderen aufschauen, und ebenfalls wird niemand verächtlich auf einen anderen herab­schauen. Nun zurück zu Jesu Aussage: Wer kleine Gebote Gottes auflöst, wird der Geringste im Himmelreich sein. Das bedeutet: Er kann da dennoch hinein­kommen. Er kann gerettet werden – wenn auch „so wie durchs Feuer hindurch“, wie Paulus es formulierte (1. Kor. 3,15). Ja, auch der Sünder hat eine Chance, selig zu werden. Diese Chance findet sich freilich nicht im Gesetz, sondern sie findet sich im Evangelium. Das Evangelium sagt: Christus hat stell­vertretend für dich alle Gerechtig­keit erfüllt, darum wird jeder, der an ihn glaubt, gerecht und selig. In dieser Weise hat Gott das Heil gebracht, das Gott bereits zu alt­testament­lichen Zeiten vorbereitete und ankündigte. Eben das ist der tiefe Sinn dieses Jesus-Wortes: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ So wird durch das Evangelium die Hoffnung auf Erlösung zu einer Gewissheit für alle, die Jesus und seinem Heilswerk vertrauen.

Was soll ich glauben? Alles, was Gott durch die Heilige Schrift offenbar gemacht hat. Was muss ich tun? Gott über alles lieben und meinen Nächsten wie mich selbst, so wie ich es in allen Geboten der Schrift erkennen kann. Und was darf ich hoffen? Dass Gott mir Sünder gnädig ist und mir um Christi willen vergibt, wo ich an Gottes Gesetz schuldig geworden bin. Ja, so bezeugt es das Evangelium, die Haupt­botschaft der Bibel, Gottes letztes Wort an uns Menschen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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