Macht und Ohnmacht des Glaubens

Predigt über Markus 9,17-27 zum 17. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn wir wissen wollen, was Glaube ist, dann können wir das gut mit der eben gehörten biblischen Geschichte lernen. Allerdings ist sie nicht ganz leicht zu verstehen und beantwortet die Frage nach dem Glauben nicht sofort Hören. Darum wollen wir diese Geschichte jetzt gleich noch dreimal hören – jawohl, dreimal, nämlich aus drei ver­schiedenen Blick­winkeln: wie sie ein Jünger erlebt haben mag, wie der Vater und wie der geheilte Sohn.

Versetzen wir uns zunächst in die Lage eines Jüngers, vielleicht des Jüngers Thomas. Der könnte Folgendes berichten:

Jesus war gerade mal weg. Er hatte sich mit Petrus, Jakobus und Johannes zum Beten zurück­gezogen. Wir andern neun Jünger ruhten uns ein bisschen aus. Aber die Pause dauerte nicht lange: Plötzlich kamen viele Leute zu uns. Sie waren sehr aufgeregt. An der Spitze lief ein Mann, der uns seinen kranken Sohn brachte. Der Vater erzählte uns, dass der Teufel den Jungen oft übel quält: Er kriegt furchtbare Anfälle, wälzt sich dann in Krämpfen auf dem Boden, knirscht mit den Zähnen und hat Schaum vor dem Mund. Außerdem konnte er nicht sprechen und verstand auch nicht, was man ihm sagte. Eigentlich wollte der Vater den jungen Mann zu Jesus bringen, aber der war ja nun nicht da. So fragte der Vater uns Jünger, ob wir helfen können. Klar doch, sagten wir, schließlich gehören wir zu Jesus und glauben an ihn. So legten wir dem Kranken unsere Hände auf und sagten, dass der böse Geist von ihm ausfahren soll. Aber kaum hatten wir das gesagt, da bekam er einen seiner Anfälle. Es hatte nicht funktio­niert, wir konnten ihn nicht heilen. Das war mir sehr unangenehm. Wie standen wir nun da mit unserem Glauben und unserer Jesus-Nachfolge? Es sah so aus, als ob wir dem Leid und Elend dieser Welt ebenso hilflos ausgeliefert sind wie alle anderen Menschen. Ich konnte den Vater des Kranken gar nicht anschauen, so traurig und enttäuscht war er. Die andern Leute aber wurden wütend und beschimpften uns. Schwindler nannten sie uns und Scharlatane. Sie sahen so aus, als wollten sie uns gleich verprügeln. Aber dann kam Jesus vom Beten zurück. Alle wurden still und schauten ihn erwartungs­voll an. Der Vater des jungen Mannes erzählte ihm alles, was passiert war. Da wurde Jesus ärgerlich und sagte: „Was für ungläubige Leute! Wie lange soll ich euch noch ertragen?“ Und dabei schaute er in meine Richtung und in die Richtung der anderen acht Jünger, die nicht mit ihm weg gewesen waren. Ich muss sagen: Diese Worte trafen mich wie ein Ohrfeige. Ungläubig? Wir glaubten doch alle, dass Jesus der Messias ist! Er hatte doch unser vollstes Vertrauen! Dann sagte Jesus: „Bringt den Jungen her zu mir!“ Da ahnte ich, was bei uns schief gelaufen war. „Zu mir“ sagte Jesus. Natürlich, Hilfe gibt es bei ihm, nur bei ihm! Er ruft die Mühseligen und Beladenen zu sich. Ohne ihn können wir nichts tun und niemandem helfen. Nun verstand ich unser Glaubens­problem: Wir hatten den Kranken eigenmächtig gesund machen wollen, im Bewusstsein unserer geistlichen Kraft und Fähigkeit. Es war derselbe Fehler, den Mose einst gemacht hatte, als er den Israeliten Wasser aus dem Felsen verschaffte: Da hatte er auch gemeint, er könne das in seiner Eigenschaft als Mann Gottes, und hatte nicht Gott die Ehre gegeben, der doch allein Wunder tut. Dafür hatte Gott Mose dann bestraft. Jesus, der Gottessohn, war milder mit uns: Er strafte uns nicht für unser eigen­mächtiges Selbst­vertrauen, sondern machte uns nur deutlich, dass das kein Gott­vertrauen ist, kein echter Glaube. Echter Glaube überlässt alles Jesus und begnügt sich damit, die notleidenden Menschen zu Jesus zu bringen. Jesus hat den Kranken dann wirklich gesund gemacht. Vorher sprach er noch mit dem Vater und sagte ihm: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Nun wusste ich, wie er das meinte: Nichts ist dem Glaubenden selbst­ständig möglich durch seine Glaubens­kraft, aber alles ist ihm möglich, wenn er an den wahren Gott glaubt. Bei dem ist ja kein Ding unmöglich, das steht mehrfach in den Heiligen Schriften. Also: Der Glaubende kann von sich aus nichts – ebensowenig wie jeder andere Mensch – , aber er vertraut dem großen Gott und seinem eingeborenen Sohn, der alles kann. Ich habe aus der Sache gelernt: Das größte Glaubens­hindernis bin ich selbst, wenn ich mir einbilde, dass ich mit meinem Glauben etwas Großartiges ausrichten kann.

Soweit Thomas, einer der Zwölf. Betrachten wir nun zweitens die Geschichte aus dem Blickwinkel des Vaters. Der könnte Folgendes berichten:

Was hatte ich nicht alles unternommen, um Heilung für meinen Sohn zu finden! Unzählige Male hatte ich zu Gott gebetet, aber er hatte nicht geholfen. Unzählige Male hatte ich meinen Sohn zu den Priestern gebracht, aber sie hatten mich stets ziemlich kühl abgefertigt. Sie meinten, Gott werde schon seinen Grund haben, warum er mich mit diesem Sohn gestraft hat. Dann aber hörte ich von Jesus. Ich hörte, dass er von Dorf zu Dorf zog, böse Geister austrieb und Kranke gesund machte. Ich erfuhr, dass viele glaubten, er sei der Messias, der versprochene Erlöser für Israel. Da keimte neue Hoffnung in mir: Vielleicht würde Jesus meinen sehnlichsten Wunsch erfüllen und den Jungen gesund machen. So machte ich mich mit ihm auf den Weg zu Jesus. Viele Leute gingen mit; sie wollten Jesus erleben und ein Wunder sehen. Als ich ankam, wo Jesus angeblich sein sollte, wurde ich enttäuscht: Es waren nur ein paar seiner Jünger da; er selbst hatte sich zurück­gezogen. In meiner Not wandte ich mich an diese Jünger, ob sie mir vielleicht helfen können. Sie versuchten es, aber es gelang ihnen nicht. Stück für Stück, wie meine Hoffnung gewachsen war, zerbrach sie nun wieder. Auch als Jesus schließlich selbst erschien, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, dass es Hife für meinen Sohn gab. Trotzdem erzählte ich ihm alles, und er ließ den Jungen vortreten. Gerade in diesem Augenblick bekam er wieder einen Anfall. Es war fürchterlich – vor Jesus und all den Leuten! Mir krampfte sich jedesmal der Magen zusammen, wenn ich mein Kind so leiden sah. Jesus fragte mich, seit wann es ihm so schlecht geht, und ich antwortete: „Von Kind auf.“ Dann schilderte ich ihm, wie ihn diese Krankheit schon mehrmals in Lebensgefahr gebracht hat. Danach nahm ich allen Mut zusammen und bat Jesus: „Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Daraufhin sagte Jesus etwas Merkwürdiges zu mir. Er sagte: „Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Wollte er damit andeuten, dass mein Sohn schon längst gesund wäre, wenn ich nur stark genug an Gott glauben würde? Steckte womöglich ein geheimer Vorwurf in seinen Worten, so wie ich ihn von den Priestern immer wieder gehört hatte: Dein Glaube ist nicht in Ordnung; du bist wahr­scheinlich ein ziemlich gottloser Mensch, sonst würde Gott dich nicht mit diesem Sohn strafen? Ich war ziemlich verwirrt und wusste schon selbst nicht mehr, ob ich glaubte oder ob ich womöglich tatsächlich gottlos war. Aber ich sehnte mich doch so sehr nach Hilfe! Ich wollte doch nur, dass Jesus meinen Jungen heilt! So schrie ich: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Tatsächlich fühlte ich mich hin‑ und hergerissen zwischen Glaube und Unglauben. Ob Jesus so einem Menschen hilft? Oder nur einem, der stark und un­erschütter­lich gegen allen Augenschein glaubt, so wie unser Vater Abraham? Aber erstaunlicher­weise half Jesus auch mir, dem Zweilfer, dem Hin‑ und Her­gerissenen: Er gebot dem bösen Geist, der meinen Sohn gefangen hielt, auszufahren. Da schrie mein Sohn auf, fiel noch einmal hin und lag reglos da, sodass die Leute schon dachten, er sei gestorben. Aber das war nicht der Fall. Jesus fasste ihn bei der Hand und richtete ihn auf. Da konnte ich es sehen, und alle anderen sahen es auch: Mein Sohn war geheilt. Nun hörte er alles und konnte vernünftig antworten. Seitdem hat er nie wieder einen Anfall bekommen. So hat Jesus mir und meinem Sohn geholfen – er, der starke Gottessohn, mir dem schwachen Zweifler. Ich habe aus der Sache gelernt: Es kommt nicht darauf an, wie stark man glaubt, sondern dass man an den Richtigen glaubt, an Jesus.

Soweit der Bericht des Vaters. Betrachten wir nun schließlich die Geschichte aus dem Blickwinkel des Sohnes. Der könnte Folgendes berichten:

Ich glaube, mein Vater hat unter meiner Behinderung stets mehr gelitten als ich selbst. An die Anfälle kann ich mich selbst gar nicht erinnern, ich weiß nur von anderen, wie dramatisch das immer gewesen sein muss. Ich meinerseits merkte hinterher nur den Muskelkater und die blauen Flecken; auch habe ich mir auf diese Weise ein paar Zähne abgebrochen. Dass ich die anderen Leute zum größten Teil nicht verstand und dass ich mich selbst nur schwer verständlich machen konnte, daran hatte ich mich gewöhnt. Natürlich wäre ich lieber gesund gewesen, denn wer wird schon gern von einem bösen Geist gequält? Aber auf der anderen Seite bin ich Gott dankbar, dass er mich stets behütet hat; er hat mir das Leben bewahrt, als ich einmal ins Feuer fiel und ein anderes Mal ins tiefe Wasser. Dann kam der Tag, an dem mein Vater mich schnappte und sagte: Los, Jesus ist in der Nähe, da müssen wir hin; vielleicht kann er dich gesund machen. Zunächst fanden wir nur ein paar Jünger von Jesus vor. Sie gaben sich viel Mühe, aber es nützte nichts: Sie konnten mich nicht heilen. Dann erschien Jesus, rief mich herbei und schaute mich ganz ruhig an. Ich war gespannt, was passieren würde. Aber danach bekam ich gar nicht mehr viel mit; erst hinterher hat man mir alles genau erzählt. Mir wurde schwarz vor Augen; ich hatte wieder einen Anfall. Dass Jesus sich mit meinem Vater über mich und über den Glauben unterhielt, habe ich erst später erfahren; ebenso, dass ich nach Jesu Anrede laut schrie und dann wie tot dalag. Aber ich erinnere mich noch genau daran, dass Jesus dann meine Hand nahm und mir auf die Beine half. In diesem Moment wusste ich: Jetzt bin ich völlig gesund. Jeder wird verstehen, dass ich Jesus unendlich dankbar für die Heilung bin. Aber es ist mehr als Dankbarkeit: Ich bin zum Glauben an ihn gekommen. Und ich weiß nun, dass Gott mit meiner Behinderung und Heilung vielen Menschen zeigen wollte: Jesus ist sein eingeborener Sohn und der Erlöser für die ganze Welt. Denn was mit mir geschehen ist, darin bildet sich das Leben aller Gläubigen ab: Durch Jesus werden sie gesund, von allen bösen Mächten befreit. Und wenn sie auch in dieser Welt noch unter mancher Behinderung und Not zu leiden haben, so ist der himmlische Vater doch da und bewahrt ihre Seele, so wie er meinen Leib im Feuer und im Wasser bewahrt hat. Und auch wenn am Ende der Tod das letzte Wort über sie zu behalten scheint, so wird Jesus sie doch bei der Hand nehmen und am Jüngsten Tag auferwecken zum ewigen Leben, so wie er mich nach vollendeter Heilung aufgerichtet hat. Ich habe aus der Sache gelernt: Gott begleitet mich in Leidens­zeiten und behühtet mich; durch Jesus erlöst er mich von allem Bösen und schließlich auch von allem Leid an Leib und Seele.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, lasst auch uns diese drei Dinge lernen. Mit den Jüngern lernen wir: Das größte Glaubens­hindernis bin ich selbst, wenn ich mir einbilde, dass ich mit meinem Glauben etwas Großartiges ausrichten kann. Mit dem Vater lernen wir: Es kommt nicht darauf an, wie stark man glaubt, sondern dass man an den Richtigen glaubt, an Jesus. Und mit dem Geheilten lernen wir: Gott begleitet mich in Leidens­zeiten und behühtet mich; durch Jesus erlöst er mich von allem Bösen und schließlich auch von allem Leid an Leib und Seele. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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