Gerechtfertigt

Predigt über Lukas 18,14a zum 11. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wir versetzen uns in die Lage eines Flüchtlings, der in Deutschland Asyl sucht. Nehmen wir an, der junge Mann heißt Patrick. Patrick kommt aus Afrika, vielleicht aus Eritrea oder Somalia. Schon als Kind hatte er viel Leid erfahren. Fast jeden Abend ging er hungrig schlafen, und oft war am nächsten Morgen kein Frühstück da. Sauberes Trink­wasser oder gar eine Dusche waren ein seltener Luxus für ihn. Eine Schule, wie sie uns vertraut ist, hat Patrick nie kennen­gelernt. Stattdessen lernte er kennen, was brutale Gewalt ist: Er musste mit ansehen, wie Leute ermordet wurden, sogar seine Eltern. Auch Patrick selbst war schon mehrmals mit dem Tod gedroht worden. Arbeit gab es für ihn nicht, nicht einmal eine unbezahlte sinnvolle Beschäfti­gung, der er täglich hätte nachgehen können. So machte sich Patrick auf den Weg nach Europa. Viele Monate lang war er unterwegs. Viel Un­gerechtig­keit widerfuhr ihm da, vieles Schreckliche musste er mit ansehen. Er sah, dass Menschen wie Vieh auf schrottreife Boote getrieben wurden, und dann sah er einige von ihnen ertrinken. Endlich erreichte Patrick das Land seiner Träume: Deutschland. Er stellte einen Asylantrag; es folgten Monate des Hoffens und Bangens. Aber dann kam der große Freudentag: Patrick hielt das offizielle Bewilligungs­schreiben in den Händen. Seinem Asylantrag ist stattgegeben worden; er darf nun in Deutsch­land bleiben und kann sich Arbeit suchen. Den Bescheid mit amtlichem Siegel hütet er wie einen Schatz, er kommt ihm beinahe so vor wie eine Eintritts­karte in das Paradies.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, wenn wir uns in diesen jungen Mann hinein­versetzen, können wir das wichtigste Wort in der heutigen Evangeliums­lesung besser verstehen. Da erzählt Jesus das bekannte Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner, die beide im Tempel beten. Das wichtigste Wort in diesem Gleichnis befindet sich im Schluss­satz, darum wende ich mich mit der heutigen Predigt besonders diesem Schlusssatz zu. Ich lese ihn noch einmal: „Dieser (nämlich der Zöllner) ging gerecht­fertigt hinab in sein Haus, nicht jener (nämlich der Pharisäer).“ Das wich­tigste Wort in diesem Satz und in dem ganzen Gleichnis heißt „gerecht­fertigt“. Es gehört darüber hinaus zu den wich­tigsten Begriffen in der ganzen Bibel und in der gesamten christlichen Glaubens­lehre. Dieses Wort „gerecht­fertigt“ ist Gottes Bescheid an uns: Du darfst für immer in meiner Gegenwart bleiben. Dieses Wort „gerecht­fertigt“ ist gewisser­maßen das amtliche Siegel auf Gottes Bewilligungs­schreiben, dass wir bei ihm Asyl finden in unserer kaputten und kranken Welt. Dieses Wort „gerecht­fertigt“ braucht uns nicht bloß so vorzukommen wie eine Eintritts­karte in das Paradies, sondern es ist die Eintritts­karte in das Paradies.

Martin Luthers wichtigste theologische Erkenntnis bestand darin, dass er herausfand, was die Bibel mit Gottes Gerech­tigkeit meint. Luther fand über dem fleißigen Studium des Römerbriefs heraus: Gottes Gerechtig­keit meint nicht die aus­gleichende Gerechtig­keit des Gesetzes, die das Gute belohnt und das Böse bestraft. Gottes Gerechtig­keit meint auch nicht das recht­schaffene Leben, das wir Menschen unserem Schöpfer schuldig sind. Gottes Gerechtig­keit meint viel­mehr die Erlösung von der Sünden­schuld, die Gott allen Menschen durch Jesus schenken möchte. Wer erkennt, dass alle Versuchen der Selbst­erlösung vergeblich sind, wer vor Gott den geistlichen Bankrott erklärt und wer dann alle Hilfe von ihm erwartet, der empfängt Gottes Gerechtig­keit als unverdientes Geschenk. So war es beim Zöllner im Tempel, der seine Augen niederschlug und betete: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Da gewährte Jesus ihm ewiges Asyl in Gottes Reich und sagte: „Dieser ging gerecht­fertigt hinab in sein Haus.“ Was Gott dem Zöllner schenkte, genau das meint die Bibel mit Gottes Gerechtig­keit.

Der umkehr­willige Zöllner ging also gerecht­fertigt hinab in sein Haus. Warum „hinab“? Weil er vorher „oben“ war, oben auf dem Berg Zion nämlich, auf dem Felsplateau in Jerusalem, wo der Tempel stand. Das war für das alte Bundes­volk Israel der gewiesene Ort der Gottes­begegnung. Da hatte Gott versprochen, Gebete zu erhören; da legte er seinen Segen auf das Volk; und dorthin brachte man auch die Dankopfer. Für uns, das neue Bundesvolk Israel, hat Zion keine bestimmten Geo-Koordinaten mehr, sondern es ist überall da zu finden, wo ein paar Leute im Namen Jesu versammelt sind. Also: Hier im Gottesdienst ist unser Tempel. Hier sagen wir wie der Zöllner: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“, und: „Kyrie eleison!“ Hier haben Selbst­gerechtig­keit und Eigenruhm noch weniger als anderswo ihren Platz. Auch wenn wir hier möglichst schön singen, orgeln oder predigen wollen, dürfen wir uns darauf keinesfalls etwas einbilden, sondern müssen uns so realistisch einschätzen wie der Zöllner: Wir haben von uns aus nichts vorzuweisen, was uns zum Aufent­halt in Gottes Reich berechtigt, wir kommen vielmehr als Asyl­bewerber, Bittsteller und Sünder, die neu beginnen möchten. Und wir kommen nicht vergeblich: Gott hört, Gott tut auf, Gott lässt finden, Gott gibt. Mit seinem Wort, mit seinem Heiligen Mahl und mit seinem Segen macht er uns immer wieder gewiss, dass wir „gerecht­fertigt“ sind, für immer aufgenommen in sein Reich durch die Gerechtig­keit, die Christus am Kreuz erworben hat. Ja, darauf zielt letzt­lich jeder Gottesdienst ab: nicht bloß, dass wir ein bisschen Freude, Trost und fromme Stimmung tanken, sondern vor allem, dass wir vom Ort der Gottes­begegnung gerecht­fertigt hinabgehen wie der Zöllner – mit diesem herrlichen Gottes­bescheid, dass uns jetzt und für immer der Aufenthalt in seinem Reich garantiert ist, ja mehr noch, dass wir volles Bürgerrecht ge­nießen.

Der umkehr­willige Zöllner ging gerecht­fertigt hinab in sein Haus. Wo sollte er auch sonst hingehen? Nach dem Tempel­besuch ging er nach Hause, in seinen Alltag, in seine vertraute Umgebung – so wie wir nach dem Sonntags­gottesdienst nach Hause gehen oder fahren. Auch wenn jeder Gottesdienst uns verändern will, bedeutet das nicht, dass wir jeden Sonntag ein völlig neues Leben anfangen sollen. Nein, Gott möchte, dass wir uns gerade in unserem „Haus“ als gerecht­fertigte Sünder verhalten, in unserer alltäglichen Umgebung. Und gerade dieses Prädikat „gerecht­fertigt“ gibt uns die Fähigkeit dazu, die nötige Kraft und Liebe und Geduld. Jeder Christ soll das Umfeld bejahen, in das Gott ihn gestellt hat. Jeder Christ vertraue darauf, dass sein Stand und sein „Haus“ genau das Richtige für ihn ist, und packe die ent­sprechenden Aufgaben fröhlich an. Denn das Wichtigste ist ja nun klar, und es wird immer wieder neu klar, heute und in jedem Gottes­dienst: Wir finden Asyl in Gottes Reich, wir bekommen seine Gerechtig­keit ge­schenkt, wir sind gerecht­fertigt. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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