Die Sache mit der Sünde

Predigt über 1. Johannes 1,10 – 2,6 zum 8. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich kenne niemanden, der sagt, dass Gott ein Lügner ist. Die Leute, die ich kenne, halten Gott entweder für die Quelle der Wahrheit, oder aber sie denken, dass es ihn überhaupt nicht gibt. Trotzdem trifft auch heute noch auf manche zu, was der Apostel Johannes so formuliert hat: „Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, denn sein Wort ist nicht in uns.“ Wie ist das zu verstehen?

Gottes Wort sagt klar und un­missverständ­lich, dass alle Menschen Sünder sind. Alle Menschen haben sich von ihm entfremdet; allen mangelt es an Gottesfurcht und Liebe; alle stellen sich selbst und ihre eigenen Interessen an erste Stelle – auch, wenn sie das mit einem Anschein von Selbst­losig­keit oder Frömmigkeit tarnen. Der weise König Salomo sagte zur Einweihung des ersten Jerusalemer Tempels: „Es gibt keinen Menschen, der nicht sündigt“ (1. Könige 8,46). Im 14. Psalm heißt es: „Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.“ Der Apostel Paulus kommt im Römerbrief zu dem Schluss: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhms, den sie bei Gott haben sollten“ (Römer 3,23). Und kurz vor unserem Predigttext heißt es im 1. Johannes­brief: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ Wer dieses pauschale Urteil anzweifelt, der prüfe sich ehrlich am Maßstab der Zehn Gebote, dann wird er schon merken, wie er Gottes Willen verfehlt hat. Wer aber auch dann noch keine Schuld bei sich findet, etwa weil er zu ober­flächlich geprüft hat, der halte sich das Doppelgebot der Liebe vor, das Jesus als höchstes und wichtigstes bezeichnete: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften… Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Markus 12,30‑31) Falls jetzt noch jemand behauptet: Ich bin kein Sünder!, dann macht er damit faktisch Gott zum Lügner, denn er erklärt damit, dass Gottes Maßstab für Sünde nicht gilt und Gottes Urteil über ihn nicht zutrifft.

Wenn es ums Sündersein geht, können wir uns nicht auf unser Bauchgefühl verlassen, sondern müssen uns unter Gottes Urteil beugen. Das ist nicht angenehm. Darum entwickeln manche Christen­menschen Strategien, um die Last dieses Urteils abzuwerfen oder wenigstens zu erleichtern. Einige sagen gleich­gültig: So ist das nun mal; wir sind eben alle Sünder und bleiben es auch; damit müssen wir uns abfinden. Diese Haltung führt dann dazu, dass die Sünde verharmlost wird als kleine Schwäche, als liebenswerter Fehler – wie wenn einer mal ein Stück Torte mehr isst, als ihm gut tut, oder wie wenn einer mal mit dem Auto etwas zu schnell unterwegs war. Auch der, der die Sünde verharmlost, macht Gott letztlich zum Lügner, denn er leugnet damit, dass jede Sünde nichts Geringeres ist als Rebellion gegen den Schöpfer. Diese falsche Einstellung weist der Apostel Johannes mit dem nächsten Satz zurück: „Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt.“ Ganz behutsam spricht der Apostel hier, mit väterlicher Liebe und Milde. Als „meine Kinder“ redet er die Christen an, denn er dient ihnen als Hirte und Prediger. Es wäre fatal, wenn uns die allgemeine Sünden­erkenntn­is dazu verleitete, Sünde nicht mehr ernst zu nehmen und ohne Reue immer wieder in dieselben Fettnäpfe zu tappen.

Aber auch die gegenteilige Einstellung ist nicht richtig, nämlich wenn Menschen im Kampf gegen die Sünde ver­zwei­feln. So ging es Martin Luther im Kloster, wo er feststellen musste, dass er trotz größter Anstrengung und Selbst­diszi­plin immer noch sündigte. Später fand Luther heraus: Auch der, der an seiner Sünde verzweifelt, macht Gott zum Lüg­ner, denn er glaubt ihm nicht, wenn er ihm Erlösung von der Sünde verspricht. Hier gilt der nächste Rat des Apostels Johannes: „Wenn jemand sündigt, so haben wir eine Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist.“ Und Johannes fährt fort: „Er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.“ Sein Namens­vetter, Johannes der Täufer, bezeugte von Jesus: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (Joh. 1,29). Und Jesus selbst verkündigte von sich: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen ein­ge­borenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3,16). Wir sehen: Wie die ganze Welt von Sünde verseucht ist, so kann auch die ganze Welt von Sünde entseucht werden, denn Jesus hat die Strafe für alle Sünden der Welt auf sich genommen. Jeder, der diese Botschaft als Gottes Wahrheit annimmt, weiß: Auch wenn meine Sünde noch so schwer wiegt und sich noch so hartnäckig in meinem Verhalten zeigt, trennt sie mich doch nicht mehr von Gott.

So haben wir mit Jesus und seinem Evangelium einen dritten Weg, um mit der Sünde umzugehen. Wir brauchen sie we­der zu verharmlosen noch an ihr zu verzweifeln, sondern wir können sie reumütig vor Gott bringen und dürfen wis­sen, dass der Vater im Himmel sie uns um seines eingeborenen Sohnes willen vergibt. Zugleich schenkt er uns auch sei­nen Heiligen Geist, der uns hilft, die Sünde künftig zu meiden. Wer aus der Kraft des Evangeliums lebt, der hält sich da­rum an Gottes Gebote – nicht, damit Gott ihn annimmt, sondern weil Gott ihn angenommen hat. Der Gebots­gehor­sam, der aus dem Glauben fließt, ist nicht Ursache unserer Erlösung, sondern Zeichen für die Erlösung, die Christus uns geschenkt hat. Der Apostel Johannes hat das so ausgedrückt: „Daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten.“

Mit dem folgenden Satz legt uns Johannes dann aber noch ein dickes Problem vor, fast eine Zwickmühle. Er schreibt: „Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht.“ Also: Wer Jesus vertraut und weiter sündigt, der ist ein Lügner. Am Anfang des Abschnitts jedoch hat Johannes gesagt: Wer abstreitet, dass er gesündigt hat, der ist ein Lügner! Wie denn nun? Sind wir in jedem Fall Lügner, egal, ob wir unsere Sünde erkennen oder ob wir sie abstreiten? Erst die nächsten Sätze bringen Licht in die Sache. Da heißt es: „Wer sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.“ Wir merken: Johannes schreibt hier vom Idealfall des Christen – so, wie er lebt, wenn die Liebe Gottes in ihm „vollkommen ist“. Er stellt uns diesen Idealfall als Ziel vor Augen, als Vorbild, dem wir nacheifern sollen: Erst wenn einer so vollkommen Gott fürchtet, liebt und vertraut wie Jesus, dann ist die Sünde endgültig aus seinem Leben ver­schwunden. Und erst wenn einer dieses Ideal erreicht hat, kann er ohne zu lügen sagen: Jetzt lebe ich so, wie ein Christ leben sollte; jetzt ist da kein Widerspruch mehr zwischen meinem Glauben und meinem Leben. Wenn wir aber darauf sehen, wie wir tatsächlich leben, dann müssen wir ehrlicher­weise zugeben: Dieses Ideal haben wir noch nicht erreicht, ja, wir sind noch weit davon entfernt. So ist unser Christsein im Hinblick auf unser Verhalten erst ein Christ-Werden, unser Heiligsein ein Heilig-Werden und unsere Gottes­kindschaft etwas, das sich erst ansatzweise zeigt.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, machen wir uns nichts vor. Lasst uns nicht abstreiten, dass wir noch Sünder sind. Lasst uns unsere Sünde weder verharmlosen noch daran verzweifeln. Halten wir uns an Christus, der unsere Sünde gesühnt hat wie alle Sünde der Welt. Und lasst uns unter­einander und der Welt zeigen, dass wir aus der Kraft der Vergebung leben, aus der Kraft des Heiligen Geistes. Wenn uns das noch nicht besonders gut gelingt, wollen wir uns immer wieder trösten mit der Gewissheit: „Wir haben einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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