Obwohl er es gar nicht nötig hätte

Predigt über Lukas 15,8‑10 zum 3. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Eine arme griechische Rentnerin macht sich Sorgen um ihr Erspartes. Es ist ja nicht viel: Tausend Euro hat sie auf dem Sparkonto. Aber wenn im Zuge einer Staatspleite ihre Bank insolvent wird, dann ist das Geld weg; das wäre eine Katastrophe. So entschließt sie sich, etwas zu tun, was viele in diesem Tagen machen: Sie geht zur Bank und hebt ihr ganzes Sparguthaben ab. Sorgfältig zählt sie nach: Tatsächlich, zehn Hundert-Euro-Scheine hält sie in ihren Händen, die vor Aufregung ein wenig zittern. Zu Hause weiß sie nicht so recht, wie sie das kleine Vermögen sicher aufbewahren soll: Im hintersten Winkel des Wand­schranks, ober unter der Matratze, oder in einem un­auffälligen Krug? Und dann passiert es: Während sie die ver­schiedenen Verstecke bedenkt und ausprobiert, fehlt plötzlich einer der zehn Scheine. Die Rentnerin zählt nach – einmal, zweimal, dreimal, aber sie findet tatsächlich nur noch neun Hundert-Euro-Scheine. Nun sind ja auch 900 Euro eine Menge Geld, aber wer insgesamt nicht mehr als 1000 Euro besitzt, für den ist der Verlust von 100 Euro sehr schmerzhaft. So beginnt die arme Frau, ihre ganze Wohnung auf den Kopf zu stellen, um das verlorene Geld wieder­zufinden. Denn auch und gerade, wenn Griechenland wieder die Drachme als Währung einführt, werden diese 100 Euro ganz wichtig für sie sein.

Mit dem Stichwort „Drachme“ springen wir nun in eine ganz ähnliche Geschichte – die Geschichte, die Jesus erzählt hat und die wir eben als Predigttext gehört haben. Drachmen gab es nämlich schon damals im alten Griechen­land, und durch Alexander den Großen waren sie im ganzen Orient verbreitet. In der Bibel werden allerdings nur an dieser einen Stelle Drachmen erwähnt, sonst nirgends. Die Frau aus Jesu Gleichnis besaß also zehn Drachmen und verlor einen von ihnen. Luther übersetzte das Wort „Drachme“ mit „Groschen“. Die Drachme war eine ziemlich kleine Silbermünze, etwa so groß wie unser Zehn-Cent-Stück. Für einen Reichen stellte sie keinen besonderen Wert dar, aber für eine arme Frau bedeuteten die zehn Silber­groschen beziehungs­weise Drachmen ein Vermögen. Es waren ihre gesamten Ersparnisse, ihr Notgroschen und vielleicht auch ihre Mitgift. Die Frau wird sehr traurig gewesen sein, als sie merkte, dass ihr eine der zehn Drachmen abhanden gekommen war.

Erstaunlich an diesem Gleichnis ist, dass Jesus seinen himmlischen Vater mit dieser armen Frau vergleicht. Dabei liegen doch Welten zwischen ihnen: Auf der einen Seite die Frau mit ihren kümmerlichen Erspar­nissen, auf der anderen Seite der allmächtige König, dem die ganze Welt gehört. Es gibt nur eine Gemeinsam­keit: die Traurigkeit über das Verlorene. Wie die arme Frau über die verlorene Drachme trauerte, so trauert Gott über jeden einzelnen Menschen, der sich von ihm entfremdet hat. Das sind nicht nur die Atheisten mit ihrer Überzeugung, dass es keinen Gott gibt. Das sind auch nicht nur die Neuheiden, die keine Ahnung von Gott haben. Das sind auch nicht nur laue Christen, die schon jahrelang nicht mehr im Gottesdienst waren. Nein, das sind auch äußerlich fromme Leute wie du und ich. Denn wie weit sind wir oft innerlich vom himmlischen Vater entfernt! Wie sehr lassen wir uns von anderen Menschen be­einflussen, oder von unseren schlechten Angewohn­heiten, oder von unseren Ängsten, wie wenig aber von Gott und seinem Wort! Darüber ist Gott traurig – so traurig wie die arme Frau über ihren verlorenen Silber­groschen traurig war. Nun könnte man sagen: Gott hat es doch gar nicht nötig, so traurig zu sein. Wenn ihm die ganze Welt gehört mit all den Milliarden von Menschen, dann könnte er doch auf den einen oder anderen leicht verzichten. Und selbst wenn alle Menschen von ihm wegliefen, dann könnte er sich doch neue erschaffen, bessere. Aber so denkt Gott nicht in seiner Liebe. Wenn eine junge Mutter ihr kleines Kind verliert, dann kann man sie nicht mit dem Argument trösten: Du kannst ja noch weitere Kinder kriegen. Seht, so hängt Gott an jedem Einzelnen von uns Menschen­geschöpfen, auch an dir und an mir. Er hängt so an uns, als ob wir ein wesentlicher Teil seines ganzen Besitzes sind – ebenso wie die eine Drachme ein wesentlicher Teil des ganzen Besitzes der armen Frau war.

Als die Frau den Verlust bemerkte, begann sie zu suchen. In ihrer Hütte war es dunkel. Fenster­scheiben gab es damals noch nicht, und Fensterläden zum Aufklappen konnte sich die Frau nicht leisten. So lag das Innere ihrer Hütte auch tagsüber im Dämmerlicht, nur durch die niedrige Türöffnung trat etwas Tageslicht ein. Darum zündete die Frau ein Licht an für ihre Suche. Diese Öllampe half ihr, in alle dunklen Winkel zu schauen. Aber die Drachme blieb weiter ver­schwunden. Kein Wunder, die Münze war ja auch wirklich sehr klein. Die Frau gab nicht auf: Sie holte sich einen Palmzweig, den sie als Besen zu benutzen pflegte, und fegte die ganze Hütte durch. Sie hoffte, dass der Silberling auf dem felsigen Untergrund ein klimperndes Geräusch von sich gibt. Fleißig war sie darauf bedacht, keine Stelle des Fußbodens auszulassen. Und am Ende hatte sie Erfolg: Sie fand den zehnten Groschen.

Ebenso wie die arme Frau macht es der große Gott: Er sucht „mit Fleiß“ – also sorgfältig und geduldig. Er lässt es nicht bei einem Versuch und einer Methode bewenden, um einen verlorenen Sünder zurück­zugewinnen, sondern er setzt viele Hebel in Bewegung. Seit Adams Sündenfall hat Gott den Menschen immer wieder seine Liebe erklärt. Erzväter und Propheten haben sein Wort gehört und es weiter­getragen. Durch manches Strafgericht hat Gott gemahnt und gewarnt, damit sich die Leute bekehren. Durch unzählige Segensgaben hat er gelockt und geladen, damit sich die Leute ihm vertrauens­voll zuwenden. Sogar seinen eingeborenen Sohn hat er in die Welt geschickt, um den neuen Bund auf­zurichten; durch ihn kann jeder Vergebung der Sünde und ewiges Leben finden. Die Apostel hat er mit dem Heiligen Geist ausgerüstet und mit dem Evangelium in die Welt geschickt. Die Taufe hat er uns gestiftet, das Schlüsselamt zur Sünden­vergebung und sowie auch Heilige Abendmahl. Und vergiss nicht, was er dir persönlich alles Gutes getan hat, sondern denke daran, wie er dir immer wieder begegnet ist – durch welche Menschen und Ereignisse in deinem Leben. Wie die arme Frau fleißig überall hinleuchtete mit ihrer Öllampe, so hat Gott das Licht seines Evangeliums angezündet in der ganzen Welt. Und wie die arme Frau fleißig jeden Winkel ihrer Hütte fegte, so fegt Gottes Heiliger Geist durch alle Lande – nur zu dem Zweck, dass verlorene Sünder umkehren.

Die Frau hatte nicht vergeblich gesucht; ihre Mühe wurde belohnt: Über­glücklich hielt sie die zehnte Drachme wieder in der Hand. Sie freute sich so sehr, dass sie spontan ihre Freundinnen und Nachbarn zu einer Party einlud. Sie sagte ihnen: „Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silber­groschen gefunden, den ich verloren habe.“

Auch bei Gott bricht solche Freude aus – immer wieder! Denn immer wieder geschieht das Herrliche: Gott findet das Verlorene. Menschen kommen zum Glauben, Menschen lassen sich taufen, Menschen bereuen ihre Sünden und empfangen Gottes Vergebung, Menschen fangen täglich neu mit Gott zu leben an. Was für eine Freude! Jesus rief aus: „So, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.“ Auch Gott kann seine Freude nicht für sich behalten, sondern feiert mit den Engeln im Himmel ein Freudenfest. Zu diesem Freudenfest sind wir mit eingeladen. Jeder Gottes­dienst, den wir hier feiern, ist ein Abglanz des himmlischen Freuden­festes über wieder­gefundene Menschen, die verloren waren. Darum hat es seinen Sinn, dass wir hier immer wieder Engelslieder anstimmen, zum Beispiel: „Allein Gott in der Höh sei Ehr“, oder: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth“. Aber eines Tages werden wir nicht mehr nur den irdischen Abglanz dieser Himmels­freude erleben können, sondern ganz mit hinein­genommen werden in die ewige Herrlichkeit Gottes, in das nie endende Freudenfest mit allen Engeln – und mit allen Menschen, die verloren waren, aber von Gott wieder­gefunden wurden. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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