Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Alle wollen zunehmen – nur beim Körpergewicht nicht, da sind Diätrezepte und Schlankheitsmittel nach wie vor sehr beliebt. Alle wollen zunehmen an Stärke: Man joggt, man geht ins Fitness-Studio, man treibt anderweitig Sport. Alle wollen auch zunehmen an Wohlstand und Reichtum: der Arbeitslose genauso wie der Anwalt, der Lokführer genauso wie der Lufthansa-Pilot, der Rentner genauso wie der Rendite-Jäger auf dem Kapitalmarkt. Und alle wollen zunehmen an Erkenntnis: Bildung wird in unserm Land ganz groß geschrieben, und Erwachsene aller Altersstufen lassen sich durch die Massenmedien stets aktuell informieren. Ja, alle wollen zunehmen – nur beim Körpergewicht nicht.
Ums Zunehmen und Starkwerden geht es auch in unserem Predigttext – freilich um ein etwas anderes Zunehmen als dem eben beschriebenen. Dem Apostel Paulus lag nämlich besonders das geistliche Zunehmen der Christen am Herzen. Mit dem eben gehörten Abschnitt aus seinem Brief an die Christen in Ephesus bekommen aber wir zunächst einen kleinen Einblick in seine Gebetswerkstatt.
Paulus schreibt: „Ich beuge meine Knie vor dem Vater.“ Paulus betete im Knien. Man kann natürlich auch im Stehen beten oder im Sitzen oder notfalls sogar im Liegen. Aber wenn man beim Beten kniet, dann hilft diese äußere Haltung zur richtigen inneren Einstellung: Ich beuge mich vor dem großen Gott; ich komme demütig im Bewusstsein meiner Sünde; ich ehre den Allmächtigen mit meinem Beten. In meiner eigenen Gebetswerkstatt habe ich zu diesem Zweck eine Kniebank; da verrichte ich jeden Morgen meine Gebetsarbeit für die Gemeinde und für viele Anliegen darüber hinaus. Das Beten ist eine der wichtigsten Tätigkeiten eines Pastors, es gehört zum Gemeindeleiten wesentlich dazu. Aber nicht nur Kirchenprofis sollten beten, sondern jeder Christ sollte seine eigene Gebetswerkstatt haben. Beten ist ja nicht nur ein inneres Bedürfnis, sondern auch ein Arbeitsauftrag Gottes. Ja, wir alle sollen regelmäßig vor dem himmlischen Vater unsere Knie beugen – wenn schon nicht äußerlich, dann doch wenigstens durch eine entsprechende innere Haltung.
Danach gibt Paulus Einblick in den Inhalt seiner Gebete. Ganz wichtig ist ihm die Bitte darum, dass die Christen zunehmen – nicht an Körpergewicht und nicht an allgemeinen menschlichen Qualitäten, sondern geistlich. Er betet darum, dass der himmlische Vater seinen Kindern „Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid. So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle.“ Wer das aufmerksam hört oder liest, der erfährt, was geistlich zunehmen heißt: erstens ein Zunehmen an Kraft(nicht der Muskeln, sondern des Glaubens), zweitens ein Zunehmen an Liebe(also am Streben nach dem Wohlergehen anderer, nicht nur nach eigenem Wohlergehen), drittens ein Zunehmen an Erkenntnis (nicht von Bildungsgütern und Nachrichten aus dem Weltgeschehen, sondern von Gott). Wie Gott solches Beten erhört und solches dreifache Zunehmen schenkt, wollen wir uns uns jetzt nacheinander vor Augen führen.
Erstens: Geistliches Zunehmen ist ein Zunehmen an Kraft. Innere Kraft haben wir alle nötig. Ich habe manchmal den Eindruck, dass heutzutage viele Menschen schlapp und antriebslos sind; schon kleine seelische Belastungen werfen sie aus der Bahn, schon kleine Anstrengungen erschöpfen sie. Es ist so wie bei einem Radfahrer, der sich eine Steigung hinaufquält: Die Lunge pustet, die Muskeln schmerzen, und dabei wird man immer langsamer. Dieser erschöpfte Radfahrer erlebt nun, dass ihn ein anderer überholt – ganz ohne Anstrengung und Atemnot. Woran liegt das? Ist der andere besser trainiert? Hat der was, was ich nicht habe? Das hat er allerdings: Er hat ein E-Bike. Diese Fahrräder mit elektrischem Hilfsmotor sind in den letzten Jahren sehr populär geworden. Und wer mal eins ausprobiert hat, muss zugeben: Damit kommt man mühelos voran, sogar bergauf und bei Gegenwind. Das Geheimnis ist der Akku: Da nimmt man fremde Energie mit, die der eigenen Schwachheit aufhilft. Ebenso funktioniert das mit dem geistlichen Zunehmen an Kraft: Man nimmt Gottes Energie mit ins Leben, die er durch den Heiligen Geist gibt. Das Einzige, worauf man achten muss, ist dies: Dass der Akku immer wieder aufgeladen wird. Das geschieht in täglichen Andachten, im Gottesdienst, in der Beichte und beim Heiligen Abendmahl. Wer sich da mit Gottes Kraft beschenken lässt, der macht seelisch nicht so schnell schlapp wie einer, der sich nur auf menschliche Kräfte verlässt.
Zweitens: Geistliches Zunehmen ist ein Zunehmen an Liebe. Die christliche Liebe hat viele verschiedene Seiten und Gesichter. Sie besteht nicht nur aus Mitgefühl und Verantwortungsbewusstein, sondern auch aus Großzügigkeit und Gelassenheit. Wer liebt, der freut sich nicht nur, wenn es ihm selbst gut geht, sondern der freut sich ebenso, wenn es anderen gut geht. Es kommt ihm nicht so sehr darauf an, selbst reich zu werden und in Wohlstand zu leben, sondern es ist ihm mindestens ebenso wichtig, andere zu beschenken und dabei mitzuhelfen, dass auch sie ein gutes Leben haben. Wer liebt, ist nicht ängstlich darauf bedacht, das größte Stück vom Kuchen zu ergattern, sondern er gibt sich auch mal mit dem kleinsten zufrieden, denn er weiß: Das kleinste schmeckt genauso gut wie das größte. Ähnlich wie bei der geistlichen Kraft verhält es sich aber auch bei der christlichen Liebe so, dass sie nicht zu unserer natürlichen Grundausstattung gehört. Auch hinsichtlich der Liebe sind wir darauf angewiesen, dass Gott unseren Akku immer wieder auflädt. Oder mit einem anderen Bild – dem Bild, das Paulus uns hier vor Augen malt: „…dass ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid.“ Seit unserer Taufe sind wir gewissermaßen Pflanzen in Gottes Garten und nehmen durch unsere Wurzeln alles Gute aus der Erde auf: Wasser und Nährstoffe. Dieser herrliche Boden ist nichts anderes als die Liebe Christi: Er hat sich für uns aufgeopfert, er geht uns nach, er beschenkt uns reichlich, er hat viel Geduld mit uns. Mit diesem Bild erkennen wir, dass Christus viel mehr ist als ein Vorbild der Liebe – er ist der Urgrund und Nährboden für alle wirkliche Liebe. Wenn wir in enger Gemeinschaft mit Christus leben, dann werden wir ganz automatisch an Liebe zunehmen; wir werden als Gottes Pflanzen wachsen und gedeihen.
Drittens: Geistliches Zunehmen ist ein Zunehmen an Erkenntnis. Paulus schreibt: „So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle.“ Wir sollten also nicht zu bescheiden sein, was unsere Gotteserkenntnis und unser Glaubenswissen betrifft. Es gibt Christen, die sind fast stolz auf ihre geistliche Ignoranz. Sie sagen so: Mir genügt es zu wissen, dass es da irgendwo einen Gott gibt, all die Lehren von Christus und der Sünde und den Engeln und den Sakramenten interessieren mich nicht. Während auf anderen Gebieten die Bildung kaum groß genug geschrieben werden kann, steht es um das allgemeine christliche Wissen eher schlecht. Dabei gehört es doch von Anfang an zum Wesen der christlichen Kirche, in der Lehre der Apostel zu bleiben und zu wachsen! Dabei fordert uns die Schrift doch selbst auf, nicht bei geistlicher Babynahrung stehenzubleiben, sondern weiter fortzuschreiten zu fester Nahrung! Paulus betet ausdrücklich für eine reifere Gotteserkenntnis bei den Ephesern und anderswo. Also weg mit den Scheuklappen des Geistes, die uns einfach nur stur geradeaus durchs Leben trotten lassen. Schauen wir auch nach rechts und links, lassen wir uns von Gott den rechten Weg weisen! Achten wir nicht nur auf die Länge, sondern auch auf die Breite! Nur wer sich in die Bibel und in die christliche Lehre vertieft, wird zur rechten Zeit gute Entscheidungen treffen und die Weichen seines Lebensweges richtig stellen können, unbeeinflusst vom Zeitgeist und von zweifelhaften Bauchgefühlen. Zur Erkenntnis der Länge und der Breite soll dann schließlich noch die Erkenntnis der Höhe und der Tiefe treten, denn Gott hat unsere Welt dreidimensional geschaffen. Wir sollten über das Unten Bescheid wissen, die dunklen Kräfte der Finsternis und des Todes, um uns vor ihnen in Acht zu nehmen. Und wir sollten über das Oben Bescheid wissen, die guten Kräfte des Lichtes und des Lebens. Dann erfahren wir, wie lieb Gott uns hat und wie er uns zu sich zieht – auch und gerade in schwierigen Lebensphasen. Wer an Gotteserkenntnis zunimmt, der findet in seinem Glauben Gewissheit, durch die Gewissheit aber Trost und Zuversicht.
Zum Schluss zeigt uns Paulus in seinem Gebetslabor noch das Schönste: Es ist die Anbetung, der Lobpreis. Das ist ja eigentlich unser Lebenszweck: dass wir etwas sind zur Ehre Gottes. Paulus schreibt: „Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Ja, um Gottes Ewigkeit geht es, und darum, dass wir an ihr Anteil haben. Gott schenkt uns durch Christus ja ewiges Leben. Alles weltliche Zunehmen kehrt sich irgendwann um in ein Abnehmen: Wenn der Mensch älter wird, dann nehmen seine Kräfte wieder ab, auch wenn er das nicht wahrhaben will. Sein Wohlergehen und seine geistigen Fähigkeiten befinden sich ebenfalls irgendwann wieder auf dem Rückzug – niemand kann das aufhalten, auch wenn so mancher ältere Mensch verzweifelt dagegen ankämpft. Aber das geistliche Zunehmen, das mündet nicht in ein Abnehmen, sondern das mündet in der Vollendung, in der Fülle der göttlichen Herrlichkeit, in der ewigen Seligkeit! Und so ist bei Gott und beim geistlichen Zunehmen etwas möglich, das bei den Menschen sonst unmöglich ist: nämlich dass die Bäume in den Himmel wachsen. Amen.
PREDIGTKASTEN |