Er trank den Kelch der Gottesferne

Predigt über Matthäus 27,33‑66 zum Karfreitag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Zweimal hat man Jesus bei seiner Kreuzigung ein Getränk angeboten, das erste am Anfang, das zweite kurz vor seinem Tod. Das erste Getränk lehnte Jesus ab, das zweite nahm er an. Warum hat Jesus das erste Getränkt abgelehnt? Es heißt beim Evange­listen Matthäus: „Als er‘s schmeckte, wollte er nicht trinken.“ Es klingt so, als ob er das Getränk nicht mochte. Wer aber würde in dieser schreck­lichen Situation bei quälendem Durst wählerisch sein? Jesus hatte einen anderen Grund: Das Getränk, das man ihm anbot, war ein Schmerz­mittel. „Wein mit Galle vermischt“, übersetzte Luther. Mit „Galle“ ist der galle­bittere Geschmack von Myrrhe gemeint, die zusammen mit dem Alkohol des Weines eine betäubende Wirkung hat. Jesus aber wollte kein Schmerz‑ und Betäubungs­mittel, er wollte die Sünden­schuld der ganzen Welt mit vollem Bewusstsein ertragen. Er wollte dem Leidens­kelch nicht ausweichen, den sein himmlischer Vater ihm zumutete. In Gethsemane hatte er noch gebetet: „Mein Vater, ist‘s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ (Matth. 26,39). Nun wusste er: Es ist des Vaters Wille, dass er den Leidens­kelch trinken soll. Deshalb verzichtete er auf den Betäubungs­trank.

Jesu Verhalten beschämt uns. Wie oft sind wir un­angenehmen Dingen aus­gewichen, die wir nach Gottes Willen hätten auf uns nehmen und ertragen sollen. Wenn eine Krankheit oder ein anderes Leid über uns kam, dann haben wir es oft nicht demütig aus des Vaters Hand genommen und gesagt: „Dein Wille geschehe.“ Vielleicht haben wir sogar ein wenig mit ihm gehadert oder an seiner Liebe gezweifelt. Oder wenn eine unangenehme Arbeit auf uns wartete, haben wir sie immer wieder hinaus­geschoben und versucht, uns vor ihr zu drücken – vielleicht ein Dienst an Mit­menschen, der schwierig oder belastend ist und der nicht mit Dank oder Anerkennung vergolten wird. Oder wenn jemand durch eigene Schuld in eine missliche Situation geraten ist, dann haben wir oftmals nicht angepackt, um die Folgen seines Fehlers wieder­gutzu­machen, sondern haben gedacht: Soll der doch die Suppe selbst auslöffeln, die er sich eingebrockt hat. Ja, Jesu Verhalten bei der Kreuzigung beschämt uns: Da hat er nämlich eben die Suppe aus­gelöffelt, die wir uns mit unserer Sünde eingebrockt haben. Da hat er sich nicht gedrückt vor dem bitteren Kelch des Leids, hat es sich nicht einmal durch Einnahme eines Schmerz­mittels leichter machen lassen. Und er hat nicht mit seinem Vater im Himmel gehadert, sondern sich demütig dessen Willen ergeben.

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„Mein Gott!“, sagen viele Menschen, wenn sie genervt oder bestürzt sind. Oft meinen sie nicht, was sie sagen: Oft ist dieser Ausruf kein Gebet, sondern nur eine Redensart; oft fühlen sich die, die so reden, dem All­mächtigen gar nicht in einer Weise verbunden, dass sie ihn wirklich ihren Gott sein lassen. Bei Jesus war das anders: Er wusste sich mit seinem himmlischen Vater so eng verbunden, wie man das überhaupt nicht beschreiben kann. Anders als bei uns trübte auch nicht die kleinste Sünde und der leiseste Zweifel diese Beziehung. „Mein Gott, mein Gott“, betete Jesus am Kreuz – und dann die Frage: „Warum hast du mich verlassen?“ Dieser Ausruf ist der Dreh‑ und Angelpunkt der ganzen Leidens­geschichte des Herrn und zugleich der Schlüssel zu ihrem Ver­ständnis. Ja mehr noch, dieser Satz ist der Schlüssel zur ganzen Geschichte Jesu, zur ganzen Bibel und zum Kern des christ­lichen Glaubens. Lasst uns darum das, was vorher auf Golgatha geschah, auf dieses Wort unsers Herrn beziehen. Und lasst uns das, was dann folgte, als Auswirkung und Folge dieses Ausrufs verstehen.

Wenn wir an Jesu Leiden denken, dann denken wir meistens zuerst an seine körper­lichen Qualen. Die waren auch wirklich ganz schrecklich gewesen. Aber sie waren nicht einzig­artig. Bis zum heutigen Tage werden in vielen Ländern Menschen auf ähnliche Weise gequält und gefoltert. Wir wissen, dass in diesen Tagen die Krieger des sogenannten „Is­lamischen Staates“ viele Leute wegen ihres Glaubens foltern, erschießen, enthaupten oder auch tatsächlich kreuzigen. Ja, man muss sagen, dass sich eine grausame Spur von Folter und gewaltsamem Tod durch die gesamte Menschheits­geschichte zieht.

Ebenso schlimm wie körperliche Qualen kann seelische Grausamkeit sein – unter Umständen sogar schlimmer. Es ist ein Leiden an den Mit­menschen, mit denen man eigentlich im Frieden leben will, mit denen man eigentlich gute Gemein­schaft haben will, die man vielleicht sogar sehr lieb hat. Was uns Matthäus und die anderen Evange­listen von Jesu Kreuzigung berichten, sind zum über­wiegenden Teil solche seelischen Grausam­keiten. Die Soldaten des Hin­richtungs­kommandas nehmen Jesus mit seinen Kleidern das letzte Bisschen Menschen­würde; er wird völlig nackt ans Kreuz geschlagen. Diesen Römern sind die Kleidungs­stücke wertvoller als die Menschen­würde des Ver­urteilten; sie teilen diesen letzten Besitz Jesu unter sich auf und verlosen ihn. Ganz nah sind diese Männer neben dem Kreuz, und trotzdem Lichtjahre von Jesus entfernt. Am aller­nächsten sind Jesus aber die beiden anderen Ge­kreuzigten – zwei Schwer­verbrecher, zu deren Gesell­schaft der sündlose Herr nun wirklich nicht passt. In all ihrer eigenen Qual haben sie noch genug Kraft, um den „König der Juden“, der zwischen ihnen hängt, zu verhöhnen. Nur einer von ihnen hält später inne und bittet Jesus um Hilfe. Die Verspottung des ge­kreuzigten Herrn greift in diesen Stunden um sich wie eine ansteckende Krankheit. Fast alle, die vorbei­kommen, haben einen Spruch auf den Lippen, den sie äußerst witzig finden – sogar die führenden Juden, Mitglieder des Hohen und Rats und Angehörige des hohen­priester­lichen Leitungs­gremiums. „Komm doch runter vom Kreuz, wenn du wirklich so mächtig bist, wie du immer behauptet hast!“, rufen sie ihm zu, und: „Er hat doch immer allen geholfen, da soll er sich jetzt mal selbst helfen!“, und: „Wenn der jetzt vom Kreuz springen würde, dann würde ich an ihn glauben!“ Aber so schlimm diese seelischen Grausam­keiten waren, so waren doch auch sie nicht einzig­artig. Auch heute noch werden Tag für Tag unzählige Menschen mit spöttischen Worten verletzt, gequält, gemobbt und nicht selten zur Ver­zweiflung gebracht.

Das schlimmste und einzig­artige Leiden Jesu kündigt sich mit einer un­erklär­lichen Finsternis an. Sie war ein göttliches Wunder­zeichen, denn sie trat von der sechsten bis zur neunten Stunde ein, also etwa von zwölf bis fünfzehn Uhr. Eine Sonnen­finsternis ist aus­geschlos­sen, denn die Juden feierten das Passafest stets zur Zeit des Vollmonds. Da dringt es wie ein scharfes Schwert mitten in die Seele unsers Herrn, und er schreit laut auf. Nicht die körper­lichen Qualen lassen ihn schreien, auch nicht die Rohheit und der Spott seiner Mit­menschen, das hat er alles stumm erduldet. Nein, etwas anderes verletzt ihn jetzt viel tiefer, und er schreit es heraus in die Finsternis: „Eli, Eli, lama asabtani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Zum ersten Mal in seinem Leben erfährt er, was es heißt, ganz und gar vom himmlischen Vater verlassen zu sein. Nun schmeckt er den bitteren Kelch der Gottes­ferne, nun schmeckt er das Gift der Hölle. Und er trinkt diesen Kelch ganz aus, so wie er auch den Essigtrunk nimmt, den ihm jemand mit einem Schwamm zum Mund reicht. Er trinkt den bitteren Kelch der Höllenqual bis zum letzten Tropfen aus und stirbt. Er hat es getan, um ihn uns zu ersparen. „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen ein­geborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh. 3,16).

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Achten wir nun auf die Folgen – auf das, was nach Jesu Tod geschah: Im Jerusalemer Tempel zerreißt der Vorhang, der den aller­heiligsten Raum vom Rest des Gebäudes abteilt. Das Aller­heiligste galt als Thronsaal Gottes, und nur einmal im Jahr durfte allein der Hohe­priester diesen Raum betreten. Jesu Tod aber hat allen Menschen einen ständigen Zugang zu Gottes Thron verschafft, weil sein Blut ein für alle Mal unsere Sünde gesühnt hat. Dass wir jederzeit vertrauens­voll zum himmlischen Vater gehen und ihn bitten dürfen, dass wir auch jederzeit mit seiner Gegenwart und Hilfe rechnen können, das ist die Frucht von Jesu Leiden und Sterben.

Und dann bebt die Erde, und dann tun sich Grabhöhlen auf, und dann werden Tote lebendig, und dann gehen sie in die Stadt Jerusalem und werden von vielen erkannt. Es geschieht das, was Jesus einst mit Lazaraus gemacht hat, und mit dem jungen Mann aus Nain, und mit der Tochter des Synagogen­vorstehers Jairus. Jesu Macht erweist sich stärker als der Tod. Daran zeigt sich ebenfalls die Frucht von Jesu Leiden und Sterben, und er will, dass sie sich auch bei uns auswirkt. Ja, Jesus will, dass sich einmal auch unsere Gräber auftun, in denen wir un­weigerlich landen werden, und dass wir dann zu neuem Leben heraus­treten dürfen in Gottes herrliche neue Welt. Denn alles, was uns vom Himmel trennt, alles, was uns vor Gottes Richter­tisch zum Tod verurteilt, hat Jesus auf sich genommen mit dieser Erfahrung, die ihn schreien ließ: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Danach erfahren wir noch, wie verschieden die Menschen auf Jesu Tod reagieren. Auch diese Reaktionen sind beispielhaft und zeigen sich als Frucht von Jesu Sterben bis zum heutigen Tag. Da gibt es die Menschen, die, überwältigt von den Ereig­nissen, glauben und bekennen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn!“ So ging es dem Hauptmann des römischen Hin­richtungs­kommandos. Es ist mein sehnlicher Wunsch, dass es auch euch allen so geht. Und da gibt es die Menschen, die Jesus lieb behalten und ihm treu dienen. So war es bei Jesu Jüngerinnen und bei Josef von Arimathäa, der für ein würdiges Begräbnis von Jesu Leichnam sorgte. Es ist mein sehnlicher Wunsch, dass auch ihr Jesus stets lieb behaltet und ihm gern dient – euer ganzes Leben lang. Und dann gibt es da auf der anderen Seite die Feinde Jesu, die alles daran setzen, um das Evangelium zu unter­drücken und Gottes Wundermacht zu verleugnen. So war es bei den führenden Juden, die Pilatus dazu über­redeten, das Grab Jesu versiegeln und bewachen zu lassen, damit niemand den Leichnam stehlen und behaupten könne, er sei auf­erstanden. Es ist mein sehnlicher Wunsch, dass ihr euch von den Feinden Jesu niemals verführen oder auch nur irre machen lasst. Denn der Herr ist ja dann wirklich auf­erstanden, trotz aller Gegen­maßnahmen seiner Feinde.

Aber das ist ein anderes Thema. Darüber wird übermorgen zu reden sein, wenn wir Ostern feiern. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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