Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
„Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit“, dichtete Wolf Biermann unter dem Eindruck von mancherlei enttäuschenden Erfahrungen, die er in den 60-er Jahren in der DDR gemacht hatte. Nun ist Biermann zwar kein Christ und das Gedicht kein Kirchenlied, aber diese Zeile sollten sich auch Christen hinter den Spiegel stecken: „Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit.“ Es ist gut und wichtig, trotz aller Enttäuschung an Welt und Kirche weiter zu lieben, Gott und die Menschen lieb zu behalten. Wie das gehen kann, möchte ich jetzt am Beispiel des Simon von Kyrene zeigen.
Wer war dieser Simon? Sein hebräischer Name weist darauf hin, dass er ein Jude war. Er trug sogar einen besonders beliebten hebräischen Namen: Allein in der Bibel begegnen uns etwa zwanzig verschiedene Simons oder Simeons, darunter nicht zuletzt auch der Jünger Simon Petrus. Der Name bedeutet „Erhörung“. Wir können uns vorstellen, dass Simons Eltern wie viele andere Eltern Gott um ein Kind baten, und dann, als ihr Gebet erhört wurde, den Sohn Simon nannten, „Erhörung“. Das muss in Kyrene gewesen sein, denn unser Bibeltext nennt ihn „einen Menschen aus Kyrene“.
Wo lag Kyrene? Kyrene war eine bedeutende Stadt in Nordafrika, im heutigen Libyen. Seit Alexander dem Großen hatten die Griechen dort das Sagen. Aber es lebten dort auch andere Bevölkerungsgruppen, nicht zuletzt Juden. Weil Kyrene in Afrika lag, behauptet eine alte Überlieferung, dass Simon von Kyrene ein Schwarzer war. Das ist durchaus möglich, denn etliche Schwarzafrikaner sind damals zum Judentum übergetreten. Sie stammten nicht leiblich von Israel ab, sondern waren sogenannten Proselyten, fremdländische Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft. Es kann aber auch gut sein, dass Simons Vorfahren jüdische Auswanderer oder Flüchtlinge waren. Sicher ist jedenfalls, dass die jüdische Gemeinschaft in der Zeit um Jesu Geburt einen schweren Stand in Kyrene hatte. Seitdem die Römer den gesamten Mittelmeerraum beherrschten, hatten die Juden in Kyrene nicht mehr dieselben Rechte wie die Griechen, sondern wurden von ihnen unterdrückt. In diesem Klima der Unterdrückung und des Völkerhasses ist der kleine Simon aufgewachsen. Wahrscheinlich wurde die Situation für seine Familie irgendwann so unerträglich, dass sie Kyrene verließ, nach Palästina zurückging und dort mühsam eine neue Existenz aufbaute.
Vor siebzig Jahren waren in Deutschland und Osteuropa ebenfalls viele Familien durch die politischen Verhältnisse gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Sie zogen unter schwersten Bedingungen Richtung Westen und bauten sich mühsam eine neue Existenz auf. Wohl dem, der sich durch diese Erfahrung nicht hat verhärten und verbittern lassen! Und auch heute sind wieder Millionen von Menschen auf der ganzen Welt unterwegs, weil sie es an ihrem angestammten Ort nicht mehr aushalten, weil sie dort ihres Lebens nicht mehr sicher sind oder weil man sie von dort vertrieben hat. Wohl denen unter ihnen, die sich nicht verhärten und verbittern lassen, sondern aufgeschlossen und positiv ihren neuen Lebensabschnitt in Angriff nehmen! Auch Simon von Kyrene ließ sich damals nicht verhärten und verbittern, sondern arbeitete im Jerusalemer Umland fleißig für seinen Lebensunterhalt. Er wurde ein Landmann, ein Feldarbeiter, ein Tagelöhner.
Als sein Lebensweg den Leidensweg unsers Herrn kreuzte, kam er gerade von der Arbeit. Wir können uns vorstellen, dass er müde und hungrig war. Er freute sich auf den Feierabend. Außerdem stand ein besonderes Wochenende bevor: das herrliche Passafest, der Höhepunkt des jüdischen Kirchenjahres. Wenn wir uns so in ihn hineinversetzen, dann merken wir, dass ihm die Sache mit Jesus und dem Kreuz äußerst lästig gewesen sein muss. Wieder einmal in seinem Leben kam ihm die Politik in die Quere. Jawohl, die Politik, denn es lag an einem Gesetz der Besatzungsmacht, dass Simon seinen Feierabend aufschieben musste. „Sie zwangen ihn, dass er ihm sein Kreuz trug“, heißt es. Römische Soldaten hatten das Recht, die Büger der besetzten Länder zu Transportleistungen heranzuziehen. Bis zu einer Meile mussten sie dann den Römern ihr schweres Gepäck tragen helfen, bis zu 1500 Meter. Von diesem Recht machte der Wachtrupp, der Jesus nach Golgatha begleitete, Gebrauch. Die Soldaten sahen den misshandelten und geschwächten Jesus, der sich kaum noch selbst auf den Beinen halten konnte und der mit dem schweren Kreuzesbalken nur mühsam vorankam. Und sie sahen den kräftigen Landarbeiter Simon von der Arbeit kommen; der kam ihnen gerade recht. Golgatha war nicht mehr weit, und so zwangen sie den Mann, Jesus jenes Holz hinterherzutragen, an dem er hingerichtet werden sollte.
Nun hätte Simon erst recht verhärten und verbittern können. Obwohl er hier im Land seiner Vorfahren lebte, wurde er immer noch unterdrückt, genauso wie in Kyrene. Er hätte eine Wut auf die Römer haben können, die ihn so demütigten und seinen Feierabend verdarben. Er hätte eine Wut auf Jesus haben können, dass der so ein Schlappschwanz war und sein Kreuz nicht selbst tragen konnte. Und er hätte eine Wut auf Gott haben können, dass der sein Volk nicht endlich vom Joch der Fremdherrschaft befreite und ihm zu altem Glanz verhalf wie zur Zeit des Königs David. Wenn man verhärtet und verbittert, dann können einem sehr viele Leute einfallen, die einem das Leben schwer machen, und man kann auf sie wütend werden. Die Frage ist nun: Ließ sich Simon durch diese Erfahrung verhärten und verbittern?
Wir wissen nicht viel von Simon. Eins aber wissen wir: Er wurde später Christ. Der Evangelist Markus hat von ihm berichtet, dass seine Söhne Alexander und Rufus hießen (Markus 15,21). Markus hielt das deshalb für erwähnenswert, weil man diese Leute in der Urgemeinde kannte. Simons Sohn Rufus ging dann später mit seiner Mutter, also mit Simons Frau, nach Rom und genoss dort einen guten Ruf in der christlichen Gemeinde. Der Apostel Paulus hat die beiden am Ende des Römerbriefs ausdrücklich grüßen lassen (Römer 16,13). Daran sehen wir: Simon hat sich durch das aufgezwungene Kreuztragen keineswegs verhärten und verbittern lassen, im Gegenteil: Er hat danach denjenigen lieb gewonnen, dessen Kreuz er da trug. Mehr noch: Simon erkannte in ihm seinen Erlöser, seinen Herrn, den Sohn des lebendigen Gottes. Unzählige Male wird er später davon erzählt haben, wie er den Herrn ein Stück weit auf seinem Leidensweg begleitet hat und wie ihm die große Ehre zuteil wurde, Jesus das Kreuz nachtragen zu dürfen – so wie es für alle rechten Jünger Jesu eine Ehre ist, ein Stück weit das Kreuz des Herrn zu tragen, auch wenn es mächtig schwer ist und hart drückt.
Die äußeren Lebensumstände des Simon von Kyrene waren dazu geeignet, ihn zu verhärten und zu verbittern. Dass es nicht dazu kam, ist Gottes Werk. Gottes Gnade fügte es, dass Simon seinen Erlöser traf. Der kann alle Sünde und Bitterkeit aus unseren Herzen nehmen und das Licht des Glaubens in uns anzünden. Der kann machen, dass Menschen auch nach schlimmsten Erfahrungen von Leid und Unrecht Liebe ausstrahlen – göttliche Liebe, die von diesem Glaubenslicht ausgeht. Diese Liebe kann ganz viel ertragen, auch Unrecht und Unterdrückung. Der Herr selbst hat seine Jünger in der Bergpredigt ja im Blick auf das Recht der Besatzer gelehrt: „Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei“ (Matth. 5,41).
Auf Golgatha angekommen, konnte Simon von Kyrene die Last des Kreuzesbalkens von sich abwerfen. An eben diesem Balken nahm dann der Gottessohn Simons Sündenlast auf sich, und auch meine Sündenlast, und auch deine. Das ist der eigentliche Grund, warum wir niemals zu verhärten und zu verbittern brauchen. „Tausend-, tausendmal sei dir / liebster Jesu, Dank dafür.“ Amen.
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