Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Einmal stellte Jesus den Pharisäern eine knifflige Frage. Das heißt, eigentlich begann er mit einer ganz einfachen Frage; die lautete: „Was denkt ihr von dem Christus? Wessen Sohn ist er?“ Also: Von wem stammt der Messias ab, der Erlöserkönig, den die Propheten verheißen haben und auf den man damals sehnsüchtig wartete? Klar, dass die Pharisäer antworteten: „David!“ Die Worte der alten Propheten lassen nämlich keinen Zweifel daran, dass der Messias aus der Familie des großen Königs David kommt. Schon dem David selbst wurde verheißen, dass einer seiner Nachkommen ewig regieren werde, dass er Gottes Volk beschützen und recht richten werde. Auf die einfache Frage aber folgte dann die knifflige. Jesus sagte: „Wie kann ihn dann David durch den Geist ‚Herr‘ nennen, wenn er sagt: ‚Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde unter deine Füße lege‘? Wenn nun David ihn ‚Herr‘ nennt, wie ist er dann sein Sohn?“ (Matth. 22,41‑45) Der zitierte Satz ist der Anfang des 110. Psalms, eines Psalms von David. David hat unter dem Einfluss des Heiligen Geistes also gesagt: „Gott der Herr redete mit meinem Herrn“, und der, den David hier „mein Herr“ nennt, ist niemand anders als der versprochene Erlöser, der zur Rechten Gottes regieren wird. Mit anderen Worten: David nennt seinen zukünftigen Sohn, den verheißenen Davidssohn, in diesem Psalm seinen Herrn. Wie reimt sich das zusammen: Ist er nun Davids Sohn oder Davids Herr? Keiner von den Pharisäern konnte damals diese knifflige Frage Jesus beantworten, und er selbst hat sie auch nicht beantwortet. Erst als Jesus dann gen Himmel gefahren war und sich zur Rechten Gottes gesetzt hatte, wurde diese Frage ausdrücklich beantwortet: Petrus verkündete in seiner Pfingstpredigt, dass der auferstandene Jesus dieser Herr ist, von dem David im 110. Psalm geweissagt hatte. Jesus ist nicht nur der Davidssohn, sondern zugleich auch Gottes Sohn, und deswegen nannte König David ihn prophetisch seinen Herrn.
Mehrere andere Stellen im Neuen Testament greifen dieses Psalmwort auf und beantworten die knifflige Frage Jesu ebenso, unter anderem auch der Hebräerbrief. Im fünften Kapitel beginnt ein langer Satz mit Psalmzitaten, und das Ende dieses langen Satzes ist unser Predigttext: „…genannt von Gott ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks.“ Darin klingt ein Wort an, das ebenfalls im 110. Psalm steht und in dem ebenfalls Gott der Herr den Messias anredet, den Gottessohn und Davidssohn. Vollständig heißt dieser Satz im Psalm so: „Der Herr hat geschworen, und es wird ihn nicht gereuen: ‚Du bist ein Priester ewiglich nach der Weise Melchisedeks.‘“ (Psalm 110,4). Da haben wir die nächste knifflige Frage: Wer war Melchisedek, und wieso wird Christus ein Priester nach der „Weise“ oder „Ordnung“ Melchisedeks genannt?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir weit in die Vergangenheit zurückgehen – 4000 Jahre zurück, in die Zeit Abrahams. Da lebte ein bedeutender Mann genau an dem Ort, wo David später König war: in Jerusalem. Dieser Mann war dort ein König, und er war zugleich ein Priester. Melchisedek hieß er, auf Deutsch: „König der Gerechtigkeit“. Niemand kann sagen, woher er stammte und zu welchem Volk er gehörte; er war einfach da: Er beschützte sein Volk, er richtete, er betete und er opferte. So eine Personalunion von König und Priester hat es später im Volk Israel nie gegeben: David und die meisten Könige gehörten zum Stamm Juda, aber alle Priester waren nach Gottes Willen Nachkommen von Aaron aus dem Stamm Levi. Israel hatte in seiner Königszeit also stets eine Doppelspitze: Da gab es einmal den König, der das Volk beschützte und richtete, und da gab es auf der anderen Seite den Hohenpriester, der für Israel betete und opferte. Und nun kommen wir auf unsere geheimnisvolle Weissagung zurück: „Du bist ein Priester ewiglich nach der Weise Melchisedeks.“ Was kann damit anderes gemeint sein, als dass der verheißene Erlöser König und Priester in Personalunion ist – eben wie dieser sagenhafte Priesterkönig zu Abrahams Zeit? Als König und Mensch ist er Davids Sohn wie alle Könige der Juden, aber als Priester und Gottessohn hat er keine irdische Herkunft, sondern kommt von seinem himmlischen Vater her. Er steht deshalb auch nicht in der Tradition der alttestamentlichen Priester, die alle von Aaron abstammten; vielmehr hat mit ihm eine ganz neue Art von Priestertum begonnen: Gottes neuer Bund.
Nun erkennen wir, wie sich alles wunderbar zusammenfügt und wie sich die kniffligen Fragen einfach auflösen. „…genannt von Gott ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks“, heißt es in unserem Predigttext. Man kann auch übersetzen: „begrüßt oder ausgerufen von Gott“. Im ursprünglichen Psalmtext heißt es sogar: „Der Herr hat geschworen, und es wird ihn nicht gereuen…“ Mit einem ewig unvergänglichen Eid hat Gott seinen Gesalbten als den Priester und den König ausgerufen. Jesus Christus betet und opfert als großer Hoherpriester des neuen Bundes. Er bittet: „Vater, vergib ihnen!“, und er bringt sich selbst als Sündopfer dar. Zugleich beschützt und richtet er als der ewige König in Gottes Reich: Er beschützt uns vor der Macht des Teufels, und er richtet uns nach seiner Gerechtigkeit.
Diese letzte Aussage müssen wir ganz dick unterstreichen: Er richtet uns nach seiner Gerechtigkeit. Christus ist ein Melchisedek im wahrsten Sinne des Wortes, ein „König der Gerechtigkeit“. Aber was ist das für eine Gerechtigkeit? Ist es die Art von Gerechtigkeit, die der 110. Psalm so beschreibt: „Der Herr zu deiner Rechten wird zerschmettern die Könige am Tages seines Zorns; er wird richten unter den Heiden, wird viele erschlagen, wird Häupter zerschmettern auf auf weitem Gefilde“ (Psalm 110,5‑6)? Das ist in der Tat die Gerechtigkeit des Davidssohns, die seine Feinde zu spüren bekommen werden; sie werden im Jüngsten Gericht ein schreckliches Urteil hören. Was aber ist dann mit uns? Benehmen wir uns mit unserer Sünde nicht auch immer wieder feindlich gegenüber Gott? Übertreten wir nicht immer wieder die Gesetze des höchsten Königs?
Da kommt nun eine andere Art von Gerechtigkeit in den Blick, eine größere Gerechtigkeit: die priesterliche Gerechtigkeit, die barmherzige Gerechtigkeit des Hohenpriesters Jesus Christus. Von ihr redet der Vers unmittelbar vor unserem Predigttext. Da heißt es: „Als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.“ Wer Glaubensgehorsam hat, wer ihm also vertraut, der findet Heil bei ihm. Dieses Heil ist Gottes ganz besondere Gerechtigkeit – eine Gerechtigkeit, die anders ist als die Gerechtigkeit der Welt. Unser Hoherpriester opfert sich selbst für unsere Schuld und bringt damit alles in Ordnung, was uns vor unserem König anklagt. Er selbst trägt die Strafe, die er verhängt hat, und nimmt sie damit uns ab, die wir sie eigentlich verdient haben. Dies ist die eigentliche und tiefe Bedeutung von Gottes Gerechtigkeit in der Bibel. Es ist keine Gerechtigkeit, die wir uns selbst verdienen können; wir können sie nur geschenkt bekommen. Es ist eine Gerechtigkeit, die man anziehen kann wie einen Mantel, der einem gegeben wird, und die man anlegen kann wie wertvollen Schmuck, den man sich nie leisten könnte. Darum heißt es im 110. Psalm auch vom Messias: „Wenn du dein Heer aufbietest, wird dir dein Volk willig folgen in heiligem Schmuck.“ Und die Kirche singt: „Christi Blut und Gerechtigkeit, / das ist mein Schmuck und Ehrenkleid. / Damit will ich vor Gott bestehn, / wenn ich zum Himmel werd eingehn.“ Ja, so ist Christus unser König und unser Hoherpriester zugleich: Er beschützt und richtet uns, er betet für uns und hat sich für uns aufgeopfert. Ja, er ist ein rechter Melchisedek, unser „König der Gerechtigkeit“, in alle Ewigkeit. Amen.
PREDIGTKASTEN |