Wer ist verantwortlich für Jesu Tod?

Predigt über Matthäus 27,11‑26 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Manchmal erfahren wir im Zusammen­hang mit einem schreck­lichen Attentat, dass diese oder jene Terror-Organi­sation die Verant­wortung dafür übernimmt. Es handelt sich dabei meistens um politische oder religiöse Fanatiker, die zum Ausdruck bringen wollen: Wir sind die Täter; wir stehen zu dem, was wir getan haben; wir heißen die Folgen gut. Und manchmal erfahren wir von Gerichts­verhand­lungen, in denen der Angeklagte jede Verant­wortung von sich weist und wortreich erklärt, dass er nicht der Täter ist. Er will die un­angenehmen Folgen, die das für ihn mit sich brächte, vermeiden. Und manchmal erfahren wir von Personen, die sich wider besseres Wissen zu einer Ent­scheidung gedrängt sehen. Sie sagen dann denen, die sie drängen: Auf eure Verant­wortung!, denn sie wollen die befürch­teten Folgen nicht auf die eigene Kappe nehmen. All diese Varianten von über­nommener oder abgelehnter Ver­antwortung spielen auch im Prozess Jesu eine Rolle, der mit dem Todesurteil aus dem Mund von Pontius Pilatus endete.

Die ganze Nacht lang ist Jesus vor dem Hohen Rat verhört und von dessen Personal misshandelt worden. Am Freitagmorgen bringt man den ge­schundenen und über­nächtigten Angeklagten gefesselt zum Amtssitz des Statt­halters Pontius Pilatus. Der vertritt in Jerusalem und in ganz Judäa die Regierung des römischen Weltreichs; der hat hier die Macht und das letzte Wort in allen Angelegen­heiten. Der jüdische Hohe Rat darf zwar Todes­urteile verhängen, aber er darf sie nicht ohne Zustimmung des Statt­halters voll­strecken. Die Rats­mitglieder haben Jesus für schuldig erklärt, weil sie nicht glauben können, was Jesus ihnen freimütig bekannt hat: dass er der Christus ist, der ver­sprochene Messias, der lang ersehnte Erlöser Israels, und außerdem Gottes Sohn. Sie fühlen sich dafür ver­antwort­lich, diesen ver­meintlichen Lästerer aus Gottes Volk aus­zurotten. Allerdings können der Hohe­priester und seine Leute nicht damit rechnen, dass der Heide Pilatus für diese religiöse Begründung Verständnis hat. Darum müssen sie das Urteil so zurecht­biegen, dass es ihm ein­leuchtet. So sagen sie für „Christus“ beziehungs­weise „Messias“ einfach „König“: Jesus maße sich an, König der Juden zu sein, erklären sie dem Pilatus. Das ist nicht einmal falsch: Zur Zeit des Alten Testaments wurden die Könige Israels tatsächlich als „Gesalbte“ bezeichnet, und nichts anderes bedeutet „Christus“ beziehungs­weise „Messias“. Der Hohe Rat dachte so: Wenn Pilatus erfährt, dass Jesus sich ohne Erlaubnis aus Rom zum König macht, dann muss er ihn als Widerstands­kämpfer, Auf­ständischen und Separa­tisten­führer hinrichten lassen.

Unter dieser verdrehten Anklage läuft das ganze Verfahren vor Pilatus – bis hin zur Kreuzigung, bis hin zur schriftlichen Urteils­begründung, die als „INRI“-Schrift über dem Kreuz des Herrn bekannt geworden ist: „Jesus von Nazarreth, König der Juden“. Als Jesus zu Pilatus gebracht wird, will der zunächst wissen, wie Jesus selbst zu der Anklage steht. Darum fragt er ihn: „Bist du der König der Juden?“ Jesus bejaht die Frage: „Du sagst es.“ Pilatus erwartet nun, dass dieser Über­zeugungs­täter und Wander­prediger in einer flammenden Rede darlegt, warum er sich zum König gemacht hat und was er von den römischen Besatzern hält. Aber zu seiner Über­raschung verstummt der Angeklagte. Weder übernimmt er die Ver­antwor­tung für das, was man ihm vorwirft, noch weist er diese Ver­antwor­tung von sich. Auch hat er keinen Verteidiger mit­gebracht, der für ihn spricht. Der Angeklagte benimmt sich so, als hätte er es überhaupt nicht nötig, auf die Fragen des Statt­halters einzugehen.

Liebe Gemeinde, wir wissen: Es stimmt ja alles, was man Jesus vorwirft – und es stimmt zugleich nichts. Er ist wirklich Gottes Sohn – und darum kein Lästerer, wenn er das behauptet. Er ist wirklich der ver­sprochene Erlöser, der Christus, der Messias, der Gesalbte – und doch keiner, der den Römern ihre politische Macht streitig machen will. Er ist der König der Juden – und doch nicht bloß der Juden, sondern aller Menschen und der ganzen Welt, für alle Zeit; er ist auch unser König. Darum muss er sich vor niemandem ver­antworten, weder vor dem Hohen Rat noch vor dem Statthalter noch vor dem Kaiser in Rom noch vor sonst irgendeinem Machthaber. Zwar trägt er Ver­antwor­tung, zwar steht er für alle Folgen seines Verhaltens gerade, aber er braucht sich dafür vor niemandem zu recht­fertigen – außer vor seinem himmlischen Vater. Darum schweigt Jesus vor Pilatus.

Pilatus ist ein erfahrener Mann, ein Menschen­kenner. Schnell hat er sich seine Meinung über Jesus gebildet: Der ist ein harmloser Spinner, sonst würde er sich nicht so ungeschickt verhalten. Wenn er kein Spinner wäre, würde er die Anklage entweder abstreiten oder die öffentliche Verhandlung als Plattform zur Agitation nutzen. Pilatus gelangt zu der Über­zeugung: Jesus ist eigentlich nur das Opfer einer Intrige der jüdischen Machthaber. Da will sich der Römer lieber heraus­halten, da will er keine Ver­antwor­tung übernehmen. Hinzu kommt, dass er aus­drücklich gewarnt wird, den Angeklagten zu ver­urteilen. Die Warnung kommt von seiner Frau. Sie lässt ihm mitten in der Verhandlung Folgendes ausrichten: „Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinet­willen.“ Gott hat der Frau des Pilatus durch einen Traum deutlich gemacht, dass es allen, die sich gegen Jesus stellen, schlecht ergehen wird. Übrigens hat sich diese Vorahnung erfüllt: Der Statthalter wurde wenige Jahre später abgesetzt und verbannt; man erzählt sich, dass er sich dann umbrachte.

Aber zurück zum Prozess. Pilatus hat keinen Grund, Jesus zum Tod zu ver­urteilen, sondern allen Grund, ihn frei­zulassen. Das will er auch. Aber da sind die auf­gebrachten jüdischen Ratsherren, die Jesus unbedingt hin­gerichtet haben wollen. Pilatus versucht, das Problem mit einer List zu lösen. Bei ihm in Unter­suchungs­haft befindet sich ein gefähr­licher Terrorist, der denselben Namen trägt wie der Angeklagte: Jesus heißt er, Jesus Barabbas. Wie jedes Jahr zum Passafest hat Pilatus auch diesmal vor, sich bei den Juden beliebt zu machen, indem er einen Gefangenen freigibt. Er lässt nun das Volk ent­scheiden, welchem von den beiden Jesussen er die Freiheit schenken soll: dem Rabbi aus Nazareth oder dem Terro­risten. Pilatus rechnet fest damit, dass man den Un­schuldigen wählt, nicht den Schwer­verbrecher. Aber diesmal lässt den Statthalter seine Menschen­kenntnis im Stich: Über­raschender­weise brüllen alle, dass Barabbas freikommen und Jesus an Kreuz geschlagen werden soll.

Wie ist das möglich? Was hat das Volk von Jerusalem plötzlich gegen Jesus? Sie haben ihn doch noch vor wenigen Tagen mit Palmzweigen und Hosianna-Rufen wie einen König begrüßt. Der Prediger und Wunder­heiler hat sich doch bisher größter Beliebtheit erfreut. Der Evangelist Matthäus klärt uns auf: „Die Hohen­priester und Ältesten überredeten das Volk, dass sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten.“ Eine kleine einfluss­reiche Gruppe hat es geschafft, die Mehrheits­meinung umzusteuern und die Massen zu verblenden. Das kennen wir bis in unsere Zeit hinein – und zwar nicht nur vom national­sozialisti­schen Propaganda-Apparat und seinen schreck­lichen Erfolgen. So hat es eine kleine einfluss­reiche Minderheit auch geschafft, die Mehrheit unserer Gesell­schaft davon zu überzeugen: Es ist nicht schlimm, wehrlose Babys zu töten, wenn sie noch nicht geboren sind und wenn die Mütter das so wollen. Und eine andere einfluss­reiche Minderheit ist gerade dabei, die Mehrheit zu überreden: Eine Ehe muss nicht unbedingt aus einem Mann und einer Frau bestehen, sie kann auch aus zwei Männern oder zwei Frauen bestehen, und die können dann auch ohne Weiteres Eltern für adpotierte Kinder sein. Wenn kleine Minder­heiten genug Macht und Geld haben, dann fällt es ihnen meistens nicht schwer, in kurzer Zeit die Mehrheits­meinung auf ihre Seite zu bringen.

Auf solche Weise ist also der Plan des Pilatus ge­scheitert, Jesus auf dem Weg der Passa-Amnestie frei­zubekommen. All seine Überredungs­künste nützen nichts, die aufgeheizte Menge will Jesu Tod. Der Statthalter merkt: Wenn ich jetzt stur bleibe, dann kann es leicht zur Revolution kommen, zu einer blutigen Straßen­schlacht. Das würde in Rom ein ungünstiges Licht auf ihn werfen. So beschließt er, dem öffent­lichen Druck nachzugeben und Jesus zum Tod zu ver­urteilen. Er sagt dabei: Auf eure Verant­wortung!, und bekräftigt das mit einer eindrucks­vollen Zeichen­handlung. Er lässt eine Wasch­schüssel holen und wäscht sich vor allem Volk de­monstra­tiv die Hände. Damit will er zeigen: Meine Hände sind rein; ich habe keine Schuld am Tod dieses Un­schuldi­gen; ich bin nicht verant­wortlich für die Folgen. Damit können der Hohe Rat und die Menge gut leben. Sie antworten: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Mit diesem Satz übernehmen sie auch gleich für zukünftige Gene­rationen die volle Ver­antwor­tung für Jesu Tod. Jedenfalls sagen sie das so, damit Pilatus ihn nur ja endlich kreuzigen lässt.

Schon ein paar Monate später hat der Hohe Rat vergessen, was er da dem Pilatus bezeugt hat. Als die Apostel in Jerusalem zu predigen beginnen und dabei den führenden Juden vorwerfen, dass sie Jesus ans Kreuz gebracht haben, da erwidert der Hohe­priester entrüstet: „Seht, ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre und wollt das Blut dieses Menschen über uns bringen!“ (Apostel­gesch. 5,28) Hatte er nicht vor kurzem selbst in diesen Chor ein­gestimmt, ja eigentlich diesen Chor sogar angestimmt: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“? So kann es gehen, wenn Menschen Ver­antwor­tung übernehmen: Wenn es dann brenzlig wird, wollen sie davon nichts mehr wissen.

Aber auch für diese Sünde ist Jesu Blut am Kreuz geflossen. Und dafür, wenn wir irgendeine Ver­antwor­tung übernahmen, dann aber nicht die un­angeneh­men Folgen tragen wollten. Und dafür, dass wir uns zu bösen Meinungen haben verführen lassen und zu bösen Worten und zu bösen Taten – vom Teufel sowie auch von kleinen, einfluss­reichen Minder­heiten; von Menschen, die sich aufblasen, die aber doch eigentlich keine Macht haben, jedenfalls nicht im Vergleich zu dem, der der König der Juden und der König über alles ist. Ja für das alles und für noch viel mehr ist Jesu Blut geflossen, und es tilgt alle Sünden­schuld vor Gott. Wer das im Glauben annimmt, findet Frieden mit Gott und ewiges Leben. Und so be­wahrheitet sich das Wort, das die Menge damals vor Pilatus brüllte – freilich in ganz anderer Weise, als sie es meinten und als sie es sich hätten träumen lassen: „Sein Blut komme über uns unsere Kinder!“ Sie erklärten sich bereit, die Folgen dieser Hinrichtung auf sich zu nehmen, und nun sind die seligen Folgen von Jesu Tod tatsächlich über sie gekommen und über ihre Nachkommen und über alle Völker und auch über uns. Ja, Jesu Blut ist über uns gekommen, damit wir dadurch selig werden. „Tausend-, tausendmal sei dir, / liebster Jesu, Dank dafür.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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