Nicht allzu gerecht, nich allzu gottlos

Predigt über Prediger 7,15‑18 zum Sonntag Septuagesimä

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein Ketten­raucher, der auch einen Schnaps nicht verschmäht, findet sicherlich Gefallen an folgendem mündlich über­lieferten Gedicht: „Alkohol und Nikotin / rafft die halbe Menschheit hin. / Aber ohne Schnaps und Rauch / stirbt die andre Hälfte auch.“ Vielleicht hätte dieses Gedicht sogar dem König Salomo gefallen, dem Verfasser unseres Predigt­textes. Salomo gilt nach dem Zeugnis der Bibel als weisester Mensch der Welt. Das bewahrte ihn jedoch nicht davor, im Alter trübsinnig zu werden. Alle menschliche Weisheit und all seine Errungen­schaften schienen ihm da „eitel“ zu sein, also nichtig und sinnlos. Das Buch des Predigers Salomo enthält eine Fülle ent­sprechender Beob­achtungen. So schreibt er: „Dies alles hab ich gesehen in den Tagen meines eitlen Lebens: Da ist ein Gerechter, der geht zugrunde in seiner Gerechtig­keit, und da ist ein Gottloser, der lebt lange in seiner Bosheit.“ Da lebt zum Beispiel einer als Nicht­raucher und Absti­nenzler, bemüht sich auch sonst in jeder Beziehung um ein langes Leben in körper­licher und seelischer Gesundheit, und er stirbt plötzlich bei einem Flugzeug­unglück. Was hat ihm dann seine Enthalt­samkeit genutzt? Und da gibt es auf der anderen Seite viele Ketten­raucher (wie zum Beispiel den ehemaligen Bundes­kanzler Helmut Schmidt), die sich mit fast hundert Jahren immer noch ihres Lebens erfreuen. Die Statistik gewährt den Rauchern zwar nur eine stark verkürzte Lebens­erwartung, aber der einzelne Mensch ist ja keine Statistik, sondern ein einzig­artiges Wesen mit einzig­artigem Lebenslauf. Welcher Raucher würde nicht hoffen, so alt zu werden wie Helmut Schmidt? Oder da plant jemand voraus­schauend seine Zukunft wie der reiche Kornbauer in Jesu Gleichnis, wird aber jäh aus dem Leben gerissen. Und da lebt ein anderer sorglos in den Tag hinein und wird von Jesus gelobt.

Nun schreibt Salomo allerdings von sehr viel schwerer­wiegenden Dingen als Rauchen und Trinken, Planen und Sorg­losig­keit: Er schreibt hier von Gerechtig­keit und Gott­losig­keit. Damit meint er das menschliche Verhalten gegenüber Gottes Gesetz, wie es etwa in den Zehn Geboten dargelegt ist. Diese Gebote gebieten ja nicht nur etwas, sondern sie verheißen auch. Das hat der fromme Salomo, der Sohn des frommen Königs David, von Jugend an gelernt und mit seiner großen Weisheit auch verinner­licht. So kannte er die Verheißung des 4. Gebots: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit es dir gut geht und du lange lebst in Lande.“ Aber im Laufe seines Lebens erlebte Salomo sicher mehr als einmal, dass auch ein guter Sohn oder eine liebevolle Tochter bereits in jungen Jahre starben. Das geschieht bis heute; jeder kennt Beispiele dafür. Die Lebens­erfahrung lehrt etwas, das scheinbar die Verheißung von Gottes Geboten widerlegt: Nicht jeder, der gut lebt, lebt lange, und nicht jeder, der schlecht lebt, stirbt früh. Nicht jedem, der fromm ist, geht es überwiegend gut, und nicht jedem, der gottlos ist, geht es überwiegend schlecht. Der Zusammen­hang von Tun und Ergehen, den Gottes Gesetz lehrt, erfüllt sich im praktischen Leben nicht immer.

An dieser Stelle unterbreche ich kurz die Betrachtung des Salomo-Textes und frage: Warum ist das so? Warum erfüllen sich Gottes Ver­heißungen für den Gerechten nicht zu­verlässig? Ist Gott etwa launisch? Auf keinen Fall, die ganze Bibel zeigt genau das Gegenteil. Das Problem liegt nicht bei Gott, sondern bei der mensch­lichen Gerechtig­keit. Oder eigentlich: bei der Un­vollkommen­heit dieser Gerechtig­keit. Kein Sohn und keine Tochter ehrt seine Eltern so vollkommen, dass er oder sie dafür hundert Lebensjahre be­anspruchen kann. Und keiner hält sich so tadellos an die Gebote, dass er irgendeinen Lohn dafür erwarten kann. Wir alle sind Sünder; Gott ist nicht ungerecht, wenn er uns das in unserem Leben spüren lässt.

Zurück zu Salomo. Er gibt aufgrund seiner Lebens­erfahrung folgenden Rat: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.“ Es scheint so, als sagte Salomo: Wenn unsere Gerechtig­keit und Weisheit sowieso nicht vollkommen sind und deswegen kein langes glückliches Leben garan­tieren, dann sollte man sich nicht damit abquälen, vollkommen sein zu wollen. Man muss nicht hundert­prozentig perfekt sein. Niemand muss eine Goldmarie werden, die aus jedem Ofen sämtliche fertig gebackenen Brote herauszieht und die jeden Baum mit reifen Äpfen schüttelt, bis auch der letzte herunter­gefallen ist. Niemand muss jedes schiefe Bild gerade­rücken, das er an irgendeiner Wand hängen sieht. Es gibt einen berühmten Sketch mit dem Komiker Loriot, wo ein Per­fektio­nist genau das tut, dabei aber größeres Unheil anrichtet. Während er sich bemüht, diese größeren Schäden zu beheben, entstehen immer noch größere Folge­schäden, bis schließlich das ganze Zimmer verwüstet ist. Eine ähnliche Erfahrung machen viele, die perfekt sein wollen: Gerade weil sie sich so furchtbar viel Mühe geben, alles richtig zu machen, gehen sie ihren Mitmenschen auf die Nerven, werden selbst nicht glücklich und richten am Ende Schaden an. Manch einer, der streng erzogen wurde, lebt in der ständigen Angst, etwas falsch zu machen, und schüttet dann in seinem Vollkommen­heits­wahn das Kind mit dem Bade aus. Darum noch einmal Salomos Rat: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest.“

Allerdings ist das auch ein gefähr­licher Ratschlag. Er kann nämlich völlig miss­verstanden werden – so, als sei es letztlich egal, wie wir uns verhalten, und als bräuchten wir uns keine Mühe zu geben. Um dieser Gefahr zu entgehen, müssen wir ein Wort unsers Herrn Jesus Christus dagegen­setzen. Er sagte in der Berg­predigt: „Ihr sollte vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matth. 5,48). Wie denn nun: Sollen wir doch perfekt sein? Wenn wir genau hinschauen, dann merken wir, dass es bei Jesus um eine andere Art von Vollkommen­heit geht. Jesus sprach vorher von der grenzen­losen Liebe des himmlischen Vaters, die wir uns zum Vorbild nehmen sollen. Wenn es darum geht, unsere Mitmenschen zu lieben (gleich ob Freund oder Feind), dann dürfen wir da niemals knauserig sein und sagen: Jetzt habe ich genug geliebt. Das ist aber etwas anderes, als wenn ich sage: Ich muss immer alles bis zur letzten Perfektion richtig machen; ich muss mich um alles kümmern und darf dabei keine Fehler machen.

Salomo selbst hat das Miss­verständnis seines Ratschlags mit dem nächsten Satz abgewehrt. Er schreibt: „Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor der Zeit.“ Der „gottlose Tor“ ist in den biblischen Weisheits­schriften jemand, der aus­schließlich auf seinen per­sönlichen momentanen Vorteil bedacht ist. Er ist ein Egoist und will nur selbst ein bequemes Leben haben; die Mitmenschen kümmern ihn nicht. Es bedenkt auch nicht, dass er sich mit diesem Verhalten die eigene Zukunft verbaut: Er wird bald keine Freunde mehr haben, die sich um ihn kümmern, wenn er mal Hilfe braucht. Der ver­hängnis­vollste Fehler des Toren besteht jedoch darin, dass er ohne Rücksicht auf Gott lebt. Er meint, Gott los zu sein, und ist deshalb selbst gottlos. Er ignoriert die Tatsache, dass er als vernunft­begabtes Geschöpf dem Schöpfer Rede und Antwort stehen muss für sein Leben. Er verdrängt die Aussicht, dass er sich einmal in Gottes Gericht ver­antworten muss. Und es interes­siert ihn darum auch nicht, dass Gott seiner ego­istischen Lebens­verwirk­lichung jederzeit eine Grenze ziehen kann: durch Unglück, durch leiblichen Tod und letztlich durch den ewigen Tod, die Verdammnis seiner Seele. Es ist diese ernste Mahnung und Warnung von Gottes Gesetz, die aus Salomos Worten spricht: „Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor der Zeit.“

Liebe Brüder und Schwestern, es ist wichtig, dass wir diese beiden scheinbar gegen­sätzlichen Ratschläge Salomos zusammen sehen: Sei einerseits nicht allzu gerecht, sei anderer­seits nicht allzu gottlos. Sei einerseits nicht allzu weise, sei anderer­seits kein Tor. Quäle dich einerseits nicht mit über­triebenem Perfektio­nismus, der letztlich mehr kaputt macht, als er hilft. Hüte dich anderer­seits vor Eogismus, Dummheit, Lieb­losig­keit und Gott­losigkeit. Auch Salomo hat beides zusammen­gefasst, und zwar mit diesem nach­folgenden Satz: „Es ist gut, wenn du dich an das Eine hältst und auch Jenes nicht aus der Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.“

Salomo nennt am Ende dieses Gedanken­ganges die Gottes­furcht als Schlüssel zu gutem Leben, ja, als Schlüssel zu un­vergäng­lichem Heil: „Wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen.“ Solche Gottes­furcht bedeutet viel mehr, als sich vor den un­angenehmen Folgen der Sünde und vor Gottes Gericht zu fürchten. Solche Gottes­furcht bedeutet, Gott ganz ernst zu nehmen. Wer aber Gott in den Forderungen seiner Gebote und in der Androhung seiner Strafe ganz ernst nimmt, der sollte ihn auch in seinen Heilstaten und in seiner barm­herzigen Vergebung ganz ernst nehmen. Ja, darauf sollte sogar sein Haupt-Augenmerk gerichtet sein, denn das Evangelium von Gottes Liebe in Jesus Christus ist sein letztes Wort und übertrifft sein Gesetz und seinen Zorn. Wer das ganz ernst nimmt, bei dem gesellt sich zur Gottes­furcht das Gott­vertrauen, der Glaube. Dieser Glaube nimmt die wunderbare Zusage in Empfang, dass der Sünder nicht früher oder später an seinen Sünden zugrunde geht, sondern dass er ewige leben und zu ewiger Seligkeit durch­dringen wird. Aus diesem Vertrauen erwächst dann Liebe zu Gott und das Bedürfnis, selbst lieben zu lernen, wie er liebt. Solche Liebe, die aus dem Glauben kommt, hat keine Angst, Fehler zu machen; sie strebt keinen Perfektio­nismus an. Sie weiß sich aber ganz geborgen in Gottes Liebe und strahlt ganz selbst­verständ­lich dieses Licht an die Umgebung ab.

Martin Luthers Freund und Mit-Reformator Philipp Melanchthon stand in der Gefahr, alles richtig machen zu wollen und sich dabei kaputt zu machen. Luther gab ihm den berühmten Ratschlag: „Pecca fortiter!“ Auf deutsch: „Sündige tapfer!“ Es ist ein gefähr­licher Rat, weil er gründlich miss­verstanden werden kann. Aber wir können ihn jetzt richtig verstehen. Er ist so gemeint wie Salomos Wort: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest!“ Verfalle nicht dem Perfektio­nismuswahn, sondern lebe glücklich und zufrieden aus der Kraft von Gottes vergebender Liebe! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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