Dein Reich komme

Predigt über Matthäus 6,10a zu einer Gebetsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das Vaterunser ist das Gebet, mit dem Jesus seine Jünger beten lehrt. In der zweiten Vaterunser-Bitte heißt es: „Dein Reich komme.“ Wenn wir so beten lernen wollen, müssen wir zuerst fragen: Was ist denn das für ein Reich, das gleich zweimal im Vaterunser vorkommt: erstens hier in dieser Bitte und zweitens am Ende in dem Anbetungs­wort „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlich­keit…“?

Beim Wort „Reich“ denken wir zunächst an das Gebiet eines Staates, zum Beispiel an Frankreich oder Österreich. Vielleicht denken wir auch an vergangene Großreiche wie das Deutsche Reich, das Römische Reich oder das Reich Alexanders des Großen. Ein Reich bezeichnet dabei immer ein bestimmtes Gebiet, einen Herrschafts­bereich – soweit eben die Macht Alexanders des Großen oder anderer Herrscher reichte. Auch das alte Israel war so ein Reich, darum finden wir ein ent­sprechendes Wort im Alten Testament. Wir können es auch mit „Königs­herrschaft“ übersetzen – der Bereich, soweit die Macht des gerade regierenden Königs reichte.

Gottes Reich beziehungs­weise das Himmelreich ist demnach der Bereich, soweit die Macht des himmlischen Vaters reicht. Weil er aber nun der Allmächtige ist, reicht seine Macht überall hin. Gottes Reich ist also kein ab­gegrenztes Gebiet, sondern es umfasst alles: Österreich ebenso wie Saudi-Arabien, den Kirchplatz ebenso wie den Marktplatz, die Erde ebenso wie den Mars, den Himmel ebenso wie die Hölle. Nirgendwo ist Gott machtlos, nirgendwo hört sein Reich auf. Es ist deswegen ganz anders als alle Reiche der Welt: Es hat keine Grenzen, die verteidigt werden müssten, und es muss auch nichts dazuerobert werden. Jesus hat vor einem mächtigen Mann des römischen Reiches darauf hin­gewiesen, und zwar vor Pontius Pilatus. Da sagte er: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh. 19,36). Gottes Reich ist nicht mit den Reichen dieser Welt zu ver­gleichen, weil es ist absolut grenzenlos ist und in der Ewigkeit seine Wurzeln hat.

Eigentlich wäre es also übeflüssig zu beten: „Dein Reich komme.“ Eigentlich ist Gottes Reich ja schon da, überall. Deswegen hat Martin Luther im Kleinen Katechismus bei der Erklärung der zweiten Bitte zunächst fest­gestellt: „Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst.“ Doch Luther schließt sogleich ein „Aber“ an: „…aber wir bitten in diesem Gebet, dass es auch zu uns komme.“ Gottes Reich reicht überall hin – aber wir sollen darum bitten, dass es auch uns erreicht, dass wir es also von Herzen bejahen und uns darauf einstellen.

Zwar reicht Gottes Macht überall hin, aber Gott zwingt niemanden in seinen Macht­bereich. Gottes Reich ist nämlich keine Gewalt­herrschaft, sondern ein Reich der Liebe. Liebe zwingt niemanden, sondern sie wirbt, sie lädt ein. Alle Menschen sind eingeladen, sich in Gottes Reich von seiner Liebe erreichen zu lassen. Sein Sohn ist in die Welt gekommen, um diese Einladung zu überbringen und um zugleich die un­abding­bare Voraus­setzung dafür zu schaffen, die Vergebung der Sünden nämlich.

Eigentlich läge nichts näher, als diese Einladung mit ganzem Herzen anzunehmen und zu sagen: Ja, mein König, ich will von dir erreicht werden, ich will zu deinem Reich gehören. Aber wir stellen fest, dass viele Menschen Gottes Einladung ablehnen – aus den unter­schied­lichsten Gründen. Es ist so wie in Jesu Gleichnis, wo sich die geladenen Gäste einer nach dem anderen ent­schuldigen, weil sie mit scheinbar Wichtigerem beschäftigt sind. Und wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, dann müssen wir zugeben: Auch wir nehmen Gottes Einladung nur mehr oder weniger halbherzig an; oft sind uns viele Dinge in unserem all­täglichen Leben wichtiger als Gottes Reich. Die Sünde in uns ist eben mehr als eine schlechte An­gewohn­heit, die man sich einfach wieder abgewöhnen muss. Die Sünde hat alle Menschen so sehr im Griff, dass keiner sich aus eigener Kraft von ihr befreien kann. Keiner kann von sich aus machen, dass Gottes Reich ihn erreicht; unser natürlicher Reflex ist es vielmehr, vor Gottes Königs­herrschaft zu fliehen.

Letztlich kann nur Gott selbst uns dazu bewegen, dass wir sein Reich bejahen, uns von ihm erreichen lassen und seine Einladung annehmen. Aber wir können darum bitten, dass er es auch tut. Ja, wir sollen darum bitten. Darum lehrte Jesus beten: „Dein Reich komme.“ Wir bitten damit: Vater, brich meinen Widerstand gegen deine Herrschaft, und räume in meinem Leben alles beiseite, was das Kommen deines Reiches behindert. Überwältige mich mit deiner Liebe und lehre mich, als Bürger deines Reiches zu leben.

Und wie geschieht das dann? Martin Luther gibt im Kleinen Katechismus folgende Antwort: „Wenn der himmlische Vater uns seinen Heiligen Geist gibt, dass wir seinem heiligen Wort durch seine Gnade glauben und danach leben, hier zeitlich und dort ewiglich.“ Dabei ist bemerkens­wert, dass zunächst Gott allein der Handelnde ist: Er gibt uns seinen Geist, er redet zu uns durch sein heiliges Wort, er schenkt uns seine Gnade, so kommt Gottes Reich zu uns. Wir aber nehmen das im Glauben an und beginnen, ent­sprechend zu leben. Es ist wie bei einem Samenkorn, das in den Acker gesät wird: Es keimt und wächst aus sich selbst heraus und bringt schließlich Frucht. Genauso hat Jesus das Kommen von Gottes Reich in einem Gleichnis be­schrieben: „Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nach und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht…“ (Markus 4,26-28). „Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, dass es auch zu uns komme.“ Noch einmal: Gott zwingt uns sein Reich nicht auf; es will erbeten sein.

Das Lehrgebet unsers Herrn ist ein Gemein­schafts­gebet. Es ist kein Vatermein, sondern ein Vaterunser. Und wir bitten in diesem Gebet, dass Gottes Reich auch zu uns komme. Ich bete das also nicht nur für mich, sondern auch für euch und für alle Menschen; und ihr bittet das auch für mich. Gemeinsam bitten wir darum, dass Gottes Reich möglichst viele erreicht, dass möglichst viele von seiner Liebe ergriffen werden und zum Glauben kommen. So ist die zweite Vaterunser­bitte auch eine Missions­bitte. Wir flehen Gott an, dass sein Wort und sein Geist Menschen aus der tödlichen Um­klammerung der Sünde befreit und dass sie aus dem Reich der Finsternis heraus­gerissen werden – auch da, wo sich dieses Reich selbst als „Gottes­staat“ bezeichnet. Wir merken, wie wenig wir auch auf diesem Gebiet mit eigener Kraft ausrichten können; eigentlich gar nichts. Desto mehr sind wir zum Gebet gerufen.

Nichts ist wichtiger, nichts ist effektiver, als dass wir unserm König im Blick auf uns selbst und im Blick auf andere Menschen immer wieder in den Ohren liegen: „Dein Reich komme.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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