Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Ein merkwürdiger Konvoi nähert sich über die Spreebrücke der Fürstenwalder Innenstadt: Unzählige Fahrräder, Mopeds und Motorräder eskortieren einen Kleinwagen. Wenn die Begleiter nicht so ein buntes Völkchen wären, dann vermutete man die Anreise eines Staatsgastes oder eines anderen Prominenten. Aber die Begleiter klingeln, hupen und johlen vor Freude, so als ob sie im Fussballstadion wären. Außerdem winken sie ausgelassen mit allem, was sie gerade finden: Taschentücher, Schals oder auch Zeitungen vom Straßenrand. Die Fürstenwalder Passanten bleiben stehen und staunen. Wer ist das denn da in dem Kleinwagen? Wer zieht hier auf so merkwürdige Weise in die Stadt ein? Man ruft diese Frage den radfahrenden Begleitern zu: Wer ist das denn, den ihr da begleitet? Und die Radfahrer antworten: Das ist…
Liebe Brüder und Schwestern, an dieser Stelle breche ich meine Erzählung ab. Ihr Anfang genügt, damit wir uns die Situation vor 2000 Jahren in Jerusalem vorstellen können, als Jesus auf einem Esel in die Stadt einzog, begleitet von einer großen Jüngerschar. Wir haben den entsprechenden Bericht heute als Evangeliumslesung gehört. Von derselben Begebenheit berichtet übrigens auch das Evangelium vom Palmsonntag; wir haben es hier mit der Besonderheit zu tun, dass ein Ereignis aus dem Leben Jesu gleich zwei Sonntage im Kirchenjahr prägt. Man kann leicht einsehen, warum das so ist: Der Einzug Jesu in Jerusalem geschah tatsächlich an einem Sonntag, nämlich am Sonntag vor der Woche, in der er starb; darum ist das Ereignis das Thema des Palmsonntags vor der Karwoche. Zugleich macht der Einzug Jesu in Jerusalem grundsätzlich sein Kommen zu den Menschen anschaulich; darum passt er zum 1. Adventssonntag und zum Auftakt der Adventszeit. Advent heißt ja „Ankunft“ und bezieht sich auf das Kommen des Gottessohnes.
Die Verse, die wir eben als Predigttext gehört haben, folgen unmittelbar auf die heutige Evangeliumslesung; sie gehören zu Jesu Einzug in Jerusalem dazu. Da wird genau das geschildert, was ich in meiner Einleitung von den Fürstenwalder Bürgern gesagt habe. Von den Jerusalemern heißt es: „Als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der?“ Der merkwürdige Konvoi bringt also die ganze Stadt ins Grübeln. Und wenn es in Jerusalem damals eine Bild-Zeitung gegeben hätte, dann wäre am nächsten Tag auf der Titelseite ein Foto vom Mann auf dem Esel erschienen, und darüber mit fünf Zentimeter großen Buchstaben die Überschrift: „Wer ist der?“
„Wer ist der?“, fragten die neugierigen Jerusalemer Jesu Begleiter. Die gaben bereitwillig Auskunft und sagten: „Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa!“ Ausgerechnet Nazareth, eine Stadt in der tiefsten Provinz! Ausgerechnet Galiläa, eine unsichere Gegend, wo sich gottlose und zwielichtige Gestalten herumtreiben!
Nichts, was im Leben Jesu passierte, ist zufällig; alles hat seinen Sinn in Gottes Heilsplan. Vieles ist darum von Propheten bereits Jahrhunderte zuvor geweissagt worden. Der Wochenspruch zum 1. Avent stammt aus dem Wort des Propheten Sacharja, mit dem er den Einzug des armen und friedfertigen Königs nach Jerusalem auf einem Esel prophezeit hat. Und der 24. Psalm (der heutige Eingangspsalm) nennt wiederholt die Frage, die sich die Jerusalemer Bürger stellten: „Wer ist der König der Ehren?“ Ja, wer ist das denn nun, der da im Triumphzug wie ein siegreicher König einzieht?
Die Antwort ist zunächst ein Name: Jesus aus Nazareth. Die Herkunftsangabe ersetzte damals den Familiennamen; wir könnten ihn auch Jesus Nazarenus nennen. Aber ein Name beantwortet die Frage nicht wirklich. Ein Name würde nur helfen, wenn man über die betreffende Person schon vorher viel erfahren hat und nun bestätigt bekommt: Das ist er! Aber nun enthält die Auskunft der jubelnden Jüngerschar ja mehr als den Namen, sie enthält auch noch eine Art Berufsbezeichnung: Er ist ein Prophet. Ein Prophet, das wusste damals jedes Kind, ist jemand, der Botschaften direkt von Gott empfängt und den Auftrag hat, sie anderen Menschen weiterzusagen. Genau das hatte Jesus Nazarenus bis dahin getan: Bereits seit drei Jahren predigte er das, was er von seinem himmlischen Vater gehört hatte. Und zum Zeichen dafür, dass er kein Betrüger war, sondern wirklich in Gottes Auftrag kam, tat er erstaunliche Wunder und heilte viele Kranke. Der Prophet Jesus Nazarenus war es also, der da wie ein König in Jerusalem einzog.
Aber damit ist die Frage keineswegs erschöpfend beantwortet. Vielmehr stellt sich immer wieder diese Frage, und sie stellt sich für alle Menschen: Wer ist dieser Jesus? Wer hat da vor zweitausend Jahren einen so tiefen Eindruck hinterlassen, dass noch heute Menschen überall von ihm sprechen? Wer ist dieser Jesus, dass es einer Hand voll verschreckter Jünger gelang, unzählige Menschen davon zu überzeugen, dass er auferstanden ist und lebt? Wer ist dieser Jesus, dass unzählige Menschen trotz Folter bis hin zu einem gewaltsamen Tod nicht davon abließen, sich zu ihm zu bekennen? Wer ist dieser Jesus, dass der Tag seiner Auferstehung von den Toten heute weltweit ein offzieller wöchentlicher Feiertag ist – der Sonntag nämlich? Wer ist dieser Jesus, dass es in Europa und darüber hinaus in vielen anderen Ländern keine Stadt und kaum ein Dorf gibt, wo nicht Gotteshäuser stehen, die ihm geweiht sind? Wer ist dieser Jesus, dass er anderthalb Jahrtausende lang die Kultur und Wissenschaft des Abendlandes beherrschte? Wer ist dieser Jesus, dass sich heute zwei Milliarden Menschen zu ihm bekennen? Wer ist dieser Jesus, dass viele Muslime im Iran unter Lebensgefahr ihre bisherige Religion aufgeben, an Jesus zu glauben anfangen, ins Ausland fliehen und sich taufen lassen? Wer ist dieser Jesus, dass sein Markenzeichen, das Kreuz, zum erfolgreichsten Symbol der Welt geworden ist?
„Wer ist der?“ – dieser Frage kann niemand ausweichen, und auch der Antwort nicht, die seine Jünger gaben, damals in Jerusalem, und seitdem immer wieder: „Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.“ Wenn ein Prophet jemand ist, der Gottes Botschaft verlässlich und verbindlich weitersagt, dann ist der Prophet Jesus Nazarenus jemand, der mit größter Verlässlichkeit und höchster Verbindlichkeit Gottes Botschaft weitergibt. Und wenn du diese Antwort nicht abstreitest und damit die alten Zeugen zu Lügnern erklärst, dann musst du dir von Gott gesagt sein lassen, was dieser Jesus Nazarenus gepredigt hat. Gott mehr als alles andere lieben, und deinen Nächsten wie dich selbst, das hat er gelehrt. Lässt du es dir gesagt sein, lebst du danach? Dir um nichts Sorgen machen, sondern den Vater im Himmel sorgen lassen, das hat er gelehrt. Lässt du es dir gesagt sein, lebst du danach? Gottes Gebote mit allem Ernst halten und deine eigenen Wünsche hintenan stellen, das hat er gelehrt. Lässt du es dir gesagt sein, lebst du danach? Ihn vor anderen Menschen als Gottes Propheten und Gottes Sohn bekennen, das hat er gelehrt. Lässt du es dir gesagt sein, lebst du danach?
Es ist recht und gut, wenn du es dir gesagt sein lässt und danach lebst, denn ein besseres Leben gibt es nicht. Aber vielleicht erkennst du jetzt: Ich möchte gern nach den Worten dieses Propheten leben, aber ich schaffe es nicht. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Gehorsam und Ungehorsam, Vertrauen und Zweifel. Wenn das so ist, brauchst du nicht zu verzagen. Im Gegenteil: Diese ehrliche und demütige Selbsterkenntnis ist die beste Voraussetzung dafür, dass es bei dir Advent werden kann – also dass Jesus persönlich bei dir ins Herz einzieht. Solange es die Adventszeit gibt, ist sie als eine Bußzeit angesehen worden, also eine Zeit der reumütigen Sündenerkenntnis und der Vorbereitung auf Jesus. Buße ist nichts Verzweifeltes, sondern etwas sehr Hoffnungsvolles. Denn wer seine Sünden erkennt und merkt, dass er selbst mit ihnen nicht fertig wird, der bekommt Sehnsucht nach Hilfe, nach einem Helfer, nach dem Heiland. Das ist genau die richtige Voraussetzung, um die Botschaft zu hören: „Euch ist heute der Heiland geboren“ (Lukas 2,11). Und Jesus, der Prophet aus Nazareth, hat es in seinen Predigten bestätigt: Ja, er selbst ist der, der kam, um Sündern einen Ausweg und Neuanfang zu ermöglichen, indem er sein Leben als Lösegeld zahlte.
„Wer ist der?“ Wir merken, dass Jesus Nazarenus viel mehr ist als ein Prophet. Schon sein Vorläufer Johannes der Täufer hat von ihm geweissagt: „Er ist mehr als ein Prophet“ (Matth. 11,9). Und so müssen wir die Antwort, die die Jüngerschar damals den Jerusalemern gegeben hat, ergänzen. „Wer ist der?“, fragen wir, und wir können nun selbst antworten: Er heißt Jesus Nazarenus, und er ist nicht nur der Prophet, sondern auch mein Heiland und mein Herr und mein König. Er ist gekommen, die Welt von ihrer Sünde zu erlösen, und er kommt zu mir, um mich ewig selig zu machen. Amen.
PREDIGTKASTEN |