Die taghelle Nacht

Predigt über 1. Thessalonicher 5,1‑11 zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

In dem drei­teiligen Spielfilm „Zurück in die Zukunft“ reisen die Haupt­figuren mit einem umgebauten Sportwagen in der Zeit hin und her. Auch wenn das nur ein modernes Märchen ist, so vermittelt der Film doch die Einsicht: Zeit besteht nicht nur aus einer gleich­mäßigen Abfolge von Sekunden und Jahren, sondern auch aus Er­eignissen, die die Menschen beein­flussen und prägen. Wäre die Zeit nicht mit mehr oder weniger bedeutsamen Ereignissen gefüllt, könnten wir sie überhaupt nicht wahrnehmen. Die griechische Sprache besitzt deswegen zwei Wörter für „Zeit“: erstens „chronos“ für die Sekunden und Jahre, zweitens „kairos“ für den Zeitpunkt eines bestimmten Er­eignisses. Beide Wörter begegnen uns am Anfang unseres Predigt­textes: „Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben.“ Weil es im Deutschen nur ein Wort für „Zeit“ gibt, hat Luther das andere Wort für „Zeit“ hier mit „Stunde“ übersetzt. Aus dem Zusammen­hang des 1. Thessa­lonicher­briefs ergibt sich, dass Paulus hier vom Ende aller Sekunden und Jahre redet, also vom Ereignis des Jüngsten Tages und von dessen Vorboten. Als Paulus persönlich bei den Thessa­lonichern war, hatte er viel darüber gepredigt. So hält er es nun nicht mehr für erforder­lich, ausführlich darauf einzugehen, und meint: „Von den Zeiten und Stunden ist es nicht nötig, euch zu schreiben.“

Der Jüngste Tag gehört zu den Themen, die die damalige Christen­heit am meisten be­schäftig­ten. Mit einem Begriff des Alten Testaments nannte man ihn den „Tag des Herrn“, also den Tag von Gottes Gericht, von Gottes End­abrechnung. Alle kannten das Gleichnis, das Jesus über das Kommen dieses Tages erzählt hat: „Wenn ein Hausherr wüsste, zu welcher Stunde der Dieb kommt, so ließe er nicht in sein Haus einbrechen“ (Lukas 12,39). Paulus erinnert an dieses Gleichnis, wenn er schreibt: „Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.“ Unerwartet wie ein Einbrecher kommt der Jüngste Tag – das große Ereignis am Ende der Zeit.

Es hat immer wieder Versuche gegeben, den Jüngsten Tag zu berechnen. Vor allem im 19. Jahrhundert gab es Theologen, die scharf­sinnig ver­schiedene Zeitangaben der Bibel miteinander kombi­nierten und dann meinten, das Datum des Jüngsten Tages gefunden zu haben. Oft predigten sie darüber. Einige von ihnen überredeten sogar Leute, ihre gewohnte Existenz aufzugeben und sich nur noch auf diesen Tag vor­zubereiten. Die Ent­täuschung war dann jedesmal groß, wenn zum errechneten Termin nichts passierte. Die Zeugen Jehovas haben nichts­desto­trotz auch noch im 20. Jahrhundert immer wieder neue Zeiten für das Weltende aus­gerechnet; erst in den letzten Jahren haben sie das aufgegeben. Wer die Botschaft Jesu verstanden hat, kann sich alle Speku­lationen über das Datum des Jüngsten Tages sparen. Paulus schrieb den Thessa­lonichern: „Ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.“

Unerwartet wie ein Einbrecher kommt der Jüngste Tag, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, wie ein Verkehrs­unfall, wie ein Wirbel­sturm, wie ein Erdbeben, wie ein Tsunami, wie ein Vulkan­ausbruch. Ja, die Bibel malt uns den „Tag des Herrn“ vorwiegend mit düsteren Farben vor Augen: Die Menschen werden aus ihrem Alltags­trott auf­geschreckt werden und große Angst bekommen. Besonders groß wird das Erschrecken bei denen sein, die sich in falscher Sicherheit wiegen und überhaupt nicht mit dem Jüngsten Tag rechnen. Paulus schreibt von ihnen: „Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr –, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht ent­fliehen.“

An dieser Stelle kommt unser Predigttext an seinen Scheitel­punkt. Das zeigt sich am Vergleich mit den Wehen einer Schwange­ren. Wehen sind starke krampf­artige Schmerzen unmittelbar vor einer Geburt. Paulus vergleicht die schreck­lichen Ereignisse des Weltendes mit solchen Geburts­schmerzen. Dieses „Ver­derben“, wie er es nennt, ist so un­vermeid­lich wie schmerz­hafte Wehen – wenigstens in einer Zeit, als es noch keinen Kaiser­schnitt gab. Zugleich aber leiten die Wehen etwas ein, was die meisten Frauen als höchstes Glück ansehen: das Mutterglück nämlich – die Freude, ein Kind zu haben. Auch dieser Vergleich für den Jüngsten Tag geht auf Jesus selbst zurück. Er lehrte seine Jünger: „Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist.“ (Joh. 16,21)

Die un­angenehmen Wehen führen zur Freude der Geburt, die Schreck­nisse der Endzeit führen zur ewigen Seligkeit – das ist der Scheitel­punkt, das ist die Wende, das ist die große Hoffnung, die wir ebenso haben können wie die Christen damals in Thessa­lonich und wie alle Christen zu allen Zeiten an allen Orten. Es ist ein Gegensatz wie Nacht und Tag. Und genau mit diesem Bild von Nacht und Tag fährt Paulus fort. Er schreibt: „Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finster­nis.“ Ihr, liebe Brüder und Schwestern in Christus, braucht vor dem Jüngsten Tag keine Angst zu haben, denn auch wenn er mit schreck­lichen Ereignissen naht, so bringt er doch nie gekannte Seligkeit – so wie schmerz­hafte Wehen das Mutterglück bringen.

Nun klingt es bei Paulus freilich so, als ob der Jüngste Tag nur für die Un­vorberei­teten über­raschend kommen wird: „Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme.“ An dieser Stelle müssen wir aber genau unter­scheiden zwischen dem „Dass“ und dem „Wann“ des Jüngsten Tages. Was das „Wann“ betrifft, so tappen alle Menschen gleicher­maßen im Dunkeln. Sogar Jesus selbst wusste nach seiner mensch­lichen Natur nicht, wann der Jüngste Tag kommt, denn er sagte: „Von dem Tag aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater“ (Matth. 24,36). Was aber das „Dass“ anbetrifft, so sehen wir im Licht von Gottes Wort sonnenklar wie am helllichten Tag: Der Jüngste Tag wird so gewiss kommen wie das Amen in der Kirche. Das unter­scheidet uns von den vielen Ungläubigen unserer Zeit wie auch von den Ungläubigen aller Zeiten: Sie rechnen nicht mit Christi Wieder­kommen in Herrlich­keit, sie rechnen nicht mit der Auf­erstehung der Toten, sie rechnen nicht mit Gottes Endgericht. An diesem Punkt kann man deutlich erkennen, dass unser christ­liches Abendland heute gar nicht mehr so christlich ist: Die meisten Leute rechnen nicht damit, dass sie sich einmal vor Gott für ihr ganzes Leben ver­antworten müssen, auch halten sie den Tod für ein natürliches Ausklingen des Lebens, worauf dann nichts mehr folgt. Damit irren sie sich aber gewaltig, sie tappen im Dunkeln wie in tiefster Nacht. Lassen wir uns nicht von ihnen anstecken und lassen wir uns nicht von der vor­herrschenden Meinung irremachen! Hören wir noch einmal das Wort an die Thessa­lonicher: „Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme.“

In Bezug auf das „Dass“ des Jüngsten Tages leben wir nicht in finsterer Nacht, sondern – aufgrund von Gottes Wort – wie am helllichten Tag. Dieses Bild zieht Paulus weiter aus und schreibt: „So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken.“ Wie das Schlafen und wie der Rausch nach einem feucht-fröhlichen Fest zur Nacht gehören, so gehören der Schlaf des Unglaubens und der Rausch der Sünde zu denen, die nicht Gottes Kinder sind. Wir aber, die wir durch die Taufe Gottes Kinder geworden sind, leben unter dem Licht von Gottes Wort wie am Tag. Darum passt der Schlaf des Unglaubens nicht zu uns, ebensowenig wie der Rausch der Sünde. Das Letztere sollten wir nicht nur bildlich verstehen, sondern auch wörtlich. Zwar muss man als Christ nicht gänzlich auf alko­holische Getränke verzichten, aber wir sollten uns nicht betrinken. Denn stell dir vor, Christus käme gerade dann wieder, wenn du betrunken bist! Nein, lasst uns allezeit bereit sein für seine Wiederkehr – gerade auch deswegen, weil wir das „Wann“ nicht wissen.

Wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, wird uns die Mahnung des Apostels beschämen. Wir stellen fest: Wir sind noch nicht ganz bereit für Christi Wiederkehr. Wir hängen noch viel zu sehr an dieser Welt, wir rechnen noch viel zu wenig mit dem Jüngsten Tag, wir glauben noch viel zu schläfrig, wir lassen uns noch viel zu sehr von der Versuchung zum Bösen berauschen. Für Abhilfe können wir selbst nicht sorgen, sondern wir sind ganz auf Gottes Hilfe angewiesen. Sie kommt durch das Evangelium von Jesus Christus, durch seine Erlösung, durch seine Vergebung, durch sein Wort und sein Sakrament. Auch darauf weist Paulus hin. Er tut es, indem er das Bild von Tag und Nacht noch weiter auszieht. Er vergleicht uns Christen mit Soldaten, die am Tag und in der Nacht Bereit­schafts­dienst haben. Wer das Bild des Soldaten nicht mag, kann auf das Bild eines Feuerwehr­manns ausweichen. Was den Soldaten und den Feuerwehrmann bei seinem Einsatz schützt, das bringt er nicht von Natur aus mit, sondern das wird ihm gegeben: Ein Helm zum Beispiel und ein Brustpanzer beziehungs­weise ein Schutz­anzug. So gewährt Gott auch uns mit seinen Gnaden­mitteln den nötigen Glaubens­schutz, den wir aus eigener Kraft nicht aufbringen können. Paulus schreibt: „Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe (nämlich der Liebe Gottes zu uns!) und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben.“

Diese Predigt geht zuende, aber ihre Botschaft geht weiter. Und sie soll nicht nur in der Weise weiter­gehen, dass Gottes Wort immer wieder hier im Gottes­dienst gepredigt wird, sondern auch in der Weise, dass ihr Gemeinde­glieder euch unter­einander mit dieser Botschaft tröstet und stärkt: Christus bewahrt uns im Glauben bis zum Jüngsten Tag – gerade auch in all den Dingen, die uns vorher noch erschrecken und schmerzen. Er tut es durch seine Liebe, sein Heil und seine Gnaden­mittel. Dann wird er wieder­kommen und uns zu nie gekannter Freude führen. Ja, diese Botschaft soll unter uns lebendig bleiben. Deswegen schreibt Paulus am Ende dieses Abschnitts: „Darum ermahnt euch unter­einander, und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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