Andere ertragen

Predigt über Epheser 4,2b zum 17. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwester in Christus!

Wenn man sich mit einem anderen Menschen gut versteht, dann ist das eine wunderbare Sache. Man unterhält sich mit ihm und stellt fest, dass man in vielen Dingen dieselbe Meinung oder einen ähnlichen Geschmack hat. Man interes­siert sich für­einander, hört einander zu und gibt sich hilfreiche Anregungen oder Ratschläge. Wenn man sich mit einem anderen Menschen gut versteht, dann vergeht die Zeit wie Fluge, und man sucht bald wieder eine Gelegen­heit, mit ihm zusammen­zusein. Ein Mensch, mit dem man sich gut versteht, gleicht einem praktischen Hut: Man trägt ihn gern, und er schützt einen bei Regen, Kälte oder zuviel Sonne.

Nun kennen wir aber auch Mit­menschen, die gleichen nicht einem Hut, sondern einem schweren Koffer. Man trägt sie nicht so gern wie einen praktischen Hut, sondern man schleppt sich mit ihnen ab; man erträgt sie nur. Es können Fremde sein, mit denen man zufällig in Berührung kommt, oder Arbeits­kollegen, oder Nachbarn, oder Mitchristen oder sogar enge Familien­angehörige. Im Blick auf diese Menschen, die eher Koffern als Hüten gleichen, gilt der Rat aus Gottes Wort: „Ertragt einer den andern in Liebe.“ Dieser Rat ist ganz ähnlich gemeint wie das berühmte Wort aus dem Galater­brief: „Einer trage des andern Last“ (Gal. 6,2) – sofern man da nicht nur an die Last denkt, mit der sich der andere abschleppt, sondern auch an die Last, die er selbst für seine Mitmenschen darstellt.

„Ertragt einer den andern in Liebe.“ Das Wort „Liebe“ muss in diesem Zusammen­hang ein Fremdwort bleiben für jeden, der nicht die Liebe des Herrn Jesus Christus kennen­gelernt hat. Das ähnliche Galaterwort lautet ja vollständig so: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Und unser Predigtwort steht in einem Zusammen­hang, der dasselbe lehrt. Der Satz ist nämlich abhängig vom voran­gehenden Vers, wo es heißt, dass wir der „Berufung würdig leben“ sollen, mit der wir berufen sind. Diese „Berufung“ ist nichts anderes als der Ruf des Evan­geliums, also Christi Einladung in Gottes Reich. Es ist die Berufung, die seit der Taufe an uns ergeht: „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“ (Jes. 43,1) Es ist die Berufung, Jesus zu vertrauen und auf diese Weise selige Gemein­schaft mit dem himmlischer Vater zu finden für Zeit und Ewigkeit. Wer das Gnaden­geschenk annimmt und von diesem Glauben sein Verhalten bestimmen lässt, der „lebt würdig der Berufung“. Er empfängt Gottes Liebe, die mit Jesus zu ihm kommt, und gibt sie an andere weiter. Das hat dann zur Folge, dass er seine Mitmenschen ohne Ansehen der Person in Liebe trägt und notfalls auch erträgt, so wie Gott alle Menschen ohne Ansehen der Person liebt und so wie er es uns in Christus vorgelebt hat. Christ­liches Leben ist also nicht einfach das Befolgen von irgend­welchen Regeln oder Geboten, sondern es ist eigentlich ein Lebens­wandel in solch bedingungs­loser Nächsten­liebe – unabhängig davon, ob der Nächste leicht zu tragen ist wie ein Hut oder schwer wie ein Reise­koffer.

„Ertragt einer den andern“, das heißt: Toleriert einander. Viele Leute stimmen dem zu und sagen: Ja, Toleranz ist ganz wichtig! Wir wollen niemanden ausgrenzen, auch wenn er aus einem anderen Land kommt oder fremdartig aussieht oder andere Lebens­gewohn­heiten hat oder auch eine andere Welt­anschauung. Wir wollen einander ertragen und respek­tieren trotz unter­schied­licher politischer oder religiöser Ein­stellungen. Solche Toleranz ist eine gute Grund­haltung. Wer im richtigen Sinne tolerant ist, der gibt damit keineswegs seine eigene Meinung und seinen eigenen Glauben auf. „Einander ertragen“ heißt nämlich nicht unbedingt, alles gut zu finden, was der andere denkt oder tut. Man muss nicht zu allem ja und amen sagen; man muss auch nicht schweigen, wenn andere etwas Falsches oder Schlechtes sagen. Aber man kann in einer Weise wider­sprechen, die den anderen nicht verletzt oder demütigt. Toleranz heißt: Auch den Irrenden respek­tieren, ohne seinen Irrtum zu bejahren; auch den Bösen zu respek­tieren, ohne seiner Bosheit freien Lauf zu lassen. Wenn zum Beispiel jemand ein fanatischer Moslem ist und ent­sprechende Gedanken äußert, ertragen und respek­tieren wir ihn als Mitmensch, aber wir ignorieren nicht die Gefahr, die möglicher­weise von seinen Ideen ausgeht. Dasselbe gilt für Rechts­extreme: Wir ertragen auch sie; wir halten sie nicht für Unmenschen. Wahre Toleranz respektiert auch den NPD-Wähler und sein demo­kratisches Recht, braucht dabei aber nicht die Augen davor zu ver­schließen, wie proble­matisch sein nationaler Eogismus ist. Was unser lutheri­sches Bekenntnis anbetrifft, so wissen wir: Es ist ganz wichtig, dass wir uns genau an Gottes Wort halten, wie es in der Bibel steht – ohne Zusätze und ohne Abstriche. Das bedeutet aber nicht, dass wir Menschen mit anderem Bekenntnis verachten, auch Sekten­anhänger nicht, auch nicht die Zeugen Jehovas.

„Ertragt einer den andern“, das heißt ebenfalls: Erduldet einander. Unser Erdulden, unsere Geduld, wird immer dann auf die Probe gestellt, wenn wir unter den Macken oder schlechten An­gewohn­heiten anderer leiden. Das ist besonders dort der Fall, wo man im Alltag eng zusammen­lebt; etwa in einer Wohn­gemein­schaft oder in einer Familie. Da müssen sich zum Beispiel Morgen- und Abend­menschen einander ertragen: Der eine will frühmorgens schon munter plaudern, während der andere noch gar nicht ansprechbar ist. Und der andere will abends noch allerlei unter­nehmen, während der eine sich nach dem Bett sehnt und seine Ruhe haben will. Auch unter­schiedliche Auf­fassungen von Ordnung und Sauberkeit können die gegen­seitige Geduld auf die Probe stellen. Wenn Menschen in solchen Lebens­gewohn­heiten sehr verschieden sind, kann es leicht dazu kommen, dass sich der eine über den anderen erhebt und sagt: Der soll sich nicht so anstellen, sondern sich mal an mir ein Beispiel nehmen! Letztlich kommt es nur darauf an, dass wir alle uns an Christus ein Beispiel nehmen und nicht stolz oder hochmütig reagieren, sondern liebevoll. Anders­herum: Wenn jemand mir sehr ähnlich ist, wenn er also auch dieselben Macken und schlechten An­gewohn­heiten hat wie ich selbst, dann wird er mir damit nicht unbedingt sympatisch sein. Manchmal ist es sogar besonders schwer, einen anderen zu akzep­tieren, bei dem man dauernd die eigenen Schwächen wie in einem Spiegel vor Augen geführt bekommt. Aber auch für diesen Fall gilt: „Ertragt einer den andern in Liebe.“

Manche Leute scheinen ein Naturtalent für Nächsten­liebe zu haben. Sie sind immer freundlich und hilfs­bereit. Man sieht sie niemals mürrisch, und selten schlagen sie eine Bitte ab. Man könnte meinen, dass sie diese Mahnung gar nicht nötig haben: „Ertragt einer den andern.“ Das haben sie aber doch, denn es gibt da meistens eine empfind­liche Stelle bei ihnen: Sie können keine Un­dankbar­keit ertragen. Nicht, dass ich hier die Un­dankbar­keit ent­schuldigen möchte, aber wenn jemand nun mal undankbar ist, dann sollen wir auch das in Liebe ertragen. Unsere Freundlich­keit und Hilfs­bereit­schaft sei kein Köder, sondern Futter! Das muss ich erklären: Ein Angler spießt etwas an seinen Haken, was die Fische gern fressen, zum Beispiel einen Regenwurm. Er tut es aber nicht, weil er den Fischen etwas Gutes zu fressen geben will, sondern er tut es, weil er selbst gern Fisch essen will. Er verwendet den Wurm als Köder, nicht als Fisch­futter. In dieser Weise sind einige Leute freundlich und hilfsbereit mit der Erwartung, dass die anderen sich dafür dankbar erweisen. Bleiben Dank und Anerkennung aus, dann fühlen sie sich verletzt und zurück­gewiesen. Von Jesus lernen wir: Echte Nächsten­liebe erwartet keinen Dank und keine An­erkennung, sondern dient dem Mitmenschen einfach nur aus dem Grund, um ihm etwas Gutes zu tun. Echte Nächsten­liebe erträgt es daher, wenn eigene Liebesmühen nicht erwidert werden. Echte Nächsten­liebe ist nicht Köder, sondern Futter.

„Ertragt einer den andern“, haltet einander aus – das gilt auch, wenn der andere einen schwer enttäuscht oder sich sogar richtig fies verhält. Denken wir an Jesus und Petrus: Erst gab Petrus groß damit an, dass er sich mit seinem Leben für Jesus einsetzen würde, und dann war er so feige, dass er nicht einmal zugeben wollte, Jesus zu kennen. Aber Jesus nahm ihm das nicht übel, sondern vergab ihm und schenkte ihm neues Vertrauen. Dieses Vorbild sollten wir vor Augen haben, wenn uns jemand sehr enttäuscht oder verletzt. Seien wir dann nicht nach­tragend, sondern ertragen wir den anderen in Liebe. Bleiben wir stets bereit zu vergeben, selbst wenn uns einer menschlich noch so übel mitspielt und auch wenn uns einer verletzt oder schikaniert oder mobbt. Das heißt nicht, dass wir uns alles gefallen lassen müssen, es heißt aber, dass wir diejenigen als Mitmenschen akzeptieren und ertragen sollen, die solches tun. Ja, sogar bei böswilliger Verletzung gilt die Devise: „Ertragt einer den andern in Liebe.“ Jesus lehrte seine Jünger, auch die Feinde zu lieben. Und als seine eigenen Feinde ihn durch böse Intrigen ans Kreuz brachten, da betete er für sie: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“

Jesus hat das auch für uns gebetet, denn auch unsere Sünde trug dazu bei, dass er am Kreuz sterben musste. Und er hat nicht nur so gebetet, sondern er hat durch das Sühnopfer seines Todes bewirkt, dass der Vater uns wirklich vergibt. Da sind wir nun wieder beim Anfangs­gedanken: bei unserer Berufung, dem Evangelium, der Einladung in Gottes ewiges Reich. Weil Christus uns Sünder erträgt und unsere Sünden­schuld getragen hat, darum sind wir erlöst für Zeit und Ewigkeit. Wenn es nun gilt, dieser Berufung würdig zu leben, so lässt sich das kaum kürzer und besser beschreiben als mit diesem Satz: „Ertragt einer den andern in Liebe.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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