Liebe Brüder und Schwester in Christus!
Wenn man sich mit einem anderen Menschen gut versteht, dann ist das eine wunderbare Sache. Man unterhält sich mit ihm und stellt fest, dass man in vielen Dingen dieselbe Meinung oder einen ähnlichen Geschmack hat. Man interessiert sich füreinander, hört einander zu und gibt sich hilfreiche Anregungen oder Ratschläge. Wenn man sich mit einem anderen Menschen gut versteht, dann vergeht die Zeit wie Fluge, und man sucht bald wieder eine Gelegenheit, mit ihm zusammenzusein. Ein Mensch, mit dem man sich gut versteht, gleicht einem praktischen Hut: Man trägt ihn gern, und er schützt einen bei Regen, Kälte oder zuviel Sonne.
Nun kennen wir aber auch Mitmenschen, die gleichen nicht einem Hut, sondern einem schweren Koffer. Man trägt sie nicht so gern wie einen praktischen Hut, sondern man schleppt sich mit ihnen ab; man erträgt sie nur. Es können Fremde sein, mit denen man zufällig in Berührung kommt, oder Arbeitskollegen, oder Nachbarn, oder Mitchristen oder sogar enge Familienangehörige. Im Blick auf diese Menschen, die eher Koffern als Hüten gleichen, gilt der Rat aus Gottes Wort: „Ertragt einer den andern in Liebe.“ Dieser Rat ist ganz ähnlich gemeint wie das berühmte Wort aus dem Galaterbrief: „Einer trage des andern Last“ (Gal. 6,2) – sofern man da nicht nur an die Last denkt, mit der sich der andere abschleppt, sondern auch an die Last, die er selbst für seine Mitmenschen darstellt.
„Ertragt einer den andern in Liebe.“ Das Wort „Liebe“ muss in diesem Zusammenhang ein Fremdwort bleiben für jeden, der nicht die Liebe des Herrn Jesus Christus kennengelernt hat. Das ähnliche Galaterwort lautet ja vollständig so: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Und unser Predigtwort steht in einem Zusammenhang, der dasselbe lehrt. Der Satz ist nämlich abhängig vom vorangehenden Vers, wo es heißt, dass wir der „Berufung würdig leben“ sollen, mit der wir berufen sind. Diese „Berufung“ ist nichts anderes als der Ruf des Evangeliums, also Christi Einladung in Gottes Reich. Es ist die Berufung, die seit der Taufe an uns ergeht: „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“ (Jes. 43,1) Es ist die Berufung, Jesus zu vertrauen und auf diese Weise selige Gemeinschaft mit dem himmlischer Vater zu finden für Zeit und Ewigkeit. Wer das Gnadengeschenk annimmt und von diesem Glauben sein Verhalten bestimmen lässt, der „lebt würdig der Berufung“. Er empfängt Gottes Liebe, die mit Jesus zu ihm kommt, und gibt sie an andere weiter. Das hat dann zur Folge, dass er seine Mitmenschen ohne Ansehen der Person in Liebe trägt und notfalls auch erträgt, so wie Gott alle Menschen ohne Ansehen der Person liebt und so wie er es uns in Christus vorgelebt hat. Christliches Leben ist also nicht einfach das Befolgen von irgendwelchen Regeln oder Geboten, sondern es ist eigentlich ein Lebenswandel in solch bedingungsloser Nächstenliebe – unabhängig davon, ob der Nächste leicht zu tragen ist wie ein Hut oder schwer wie ein Reisekoffer.
„Ertragt einer den andern“, das heißt: Toleriert einander. Viele Leute stimmen dem zu und sagen: Ja, Toleranz ist ganz wichtig! Wir wollen niemanden ausgrenzen, auch wenn er aus einem anderen Land kommt oder fremdartig aussieht oder andere Lebensgewohnheiten hat oder auch eine andere Weltanschauung. Wir wollen einander ertragen und respektieren trotz unterschiedlicher politischer oder religiöser Einstellungen. Solche Toleranz ist eine gute Grundhaltung. Wer im richtigen Sinne tolerant ist, der gibt damit keineswegs seine eigene Meinung und seinen eigenen Glauben auf. „Einander ertragen“ heißt nämlich nicht unbedingt, alles gut zu finden, was der andere denkt oder tut. Man muss nicht zu allem ja und amen sagen; man muss auch nicht schweigen, wenn andere etwas Falsches oder Schlechtes sagen. Aber man kann in einer Weise widersprechen, die den anderen nicht verletzt oder demütigt. Toleranz heißt: Auch den Irrenden respektieren, ohne seinen Irrtum zu bejahren; auch den Bösen zu respektieren, ohne seiner Bosheit freien Lauf zu lassen. Wenn zum Beispiel jemand ein fanatischer Moslem ist und entsprechende Gedanken äußert, ertragen und respektieren wir ihn als Mitmensch, aber wir ignorieren nicht die Gefahr, die möglicherweise von seinen Ideen ausgeht. Dasselbe gilt für Rechtsextreme: Wir ertragen auch sie; wir halten sie nicht für Unmenschen. Wahre Toleranz respektiert auch den NPD-Wähler und sein demokratisches Recht, braucht dabei aber nicht die Augen davor zu verschließen, wie problematisch sein nationaler Eogismus ist. Was unser lutherisches Bekenntnis anbetrifft, so wissen wir: Es ist ganz wichtig, dass wir uns genau an Gottes Wort halten, wie es in der Bibel steht – ohne Zusätze und ohne Abstriche. Das bedeutet aber nicht, dass wir Menschen mit anderem Bekenntnis verachten, auch Sektenanhänger nicht, auch nicht die Zeugen Jehovas.
„Ertragt einer den andern“, das heißt ebenfalls: Erduldet einander. Unser Erdulden, unsere Geduld, wird immer dann auf die Probe gestellt, wenn wir unter den Macken oder schlechten Angewohnheiten anderer leiden. Das ist besonders dort der Fall, wo man im Alltag eng zusammenlebt; etwa in einer Wohngemeinschaft oder in einer Familie. Da müssen sich zum Beispiel Morgen- und Abendmenschen einander ertragen: Der eine will frühmorgens schon munter plaudern, während der andere noch gar nicht ansprechbar ist. Und der andere will abends noch allerlei unternehmen, während der eine sich nach dem Bett sehnt und seine Ruhe haben will. Auch unterschiedliche Auffassungen von Ordnung und Sauberkeit können die gegenseitige Geduld auf die Probe stellen. Wenn Menschen in solchen Lebensgewohnheiten sehr verschieden sind, kann es leicht dazu kommen, dass sich der eine über den anderen erhebt und sagt: Der soll sich nicht so anstellen, sondern sich mal an mir ein Beispiel nehmen! Letztlich kommt es nur darauf an, dass wir alle uns an Christus ein Beispiel nehmen und nicht stolz oder hochmütig reagieren, sondern liebevoll. Andersherum: Wenn jemand mir sehr ähnlich ist, wenn er also auch dieselben Macken und schlechten Angewohnheiten hat wie ich selbst, dann wird er mir damit nicht unbedingt sympatisch sein. Manchmal ist es sogar besonders schwer, einen anderen zu akzeptieren, bei dem man dauernd die eigenen Schwächen wie in einem Spiegel vor Augen geführt bekommt. Aber auch für diesen Fall gilt: „Ertragt einer den andern in Liebe.“
Manche Leute scheinen ein Naturtalent für Nächstenliebe zu haben. Sie sind immer freundlich und hilfsbereit. Man sieht sie niemals mürrisch, und selten schlagen sie eine Bitte ab. Man könnte meinen, dass sie diese Mahnung gar nicht nötig haben: „Ertragt einer den andern.“ Das haben sie aber doch, denn es gibt da meistens eine empfindliche Stelle bei ihnen: Sie können keine Undankbarkeit ertragen. Nicht, dass ich hier die Undankbarkeit entschuldigen möchte, aber wenn jemand nun mal undankbar ist, dann sollen wir auch das in Liebe ertragen. Unsere Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sei kein Köder, sondern Futter! Das muss ich erklären: Ein Angler spießt etwas an seinen Haken, was die Fische gern fressen, zum Beispiel einen Regenwurm. Er tut es aber nicht, weil er den Fischen etwas Gutes zu fressen geben will, sondern er tut es, weil er selbst gern Fisch essen will. Er verwendet den Wurm als Köder, nicht als Fischfutter. In dieser Weise sind einige Leute freundlich und hilfsbereit mit der Erwartung, dass die anderen sich dafür dankbar erweisen. Bleiben Dank und Anerkennung aus, dann fühlen sie sich verletzt und zurückgewiesen. Von Jesus lernen wir: Echte Nächstenliebe erwartet keinen Dank und keine Anerkennung, sondern dient dem Mitmenschen einfach nur aus dem Grund, um ihm etwas Gutes zu tun. Echte Nächstenliebe erträgt es daher, wenn eigene Liebesmühen nicht erwidert werden. Echte Nächstenliebe ist nicht Köder, sondern Futter.
„Ertragt einer den andern“, haltet einander aus – das gilt auch, wenn der andere einen schwer enttäuscht oder sich sogar richtig fies verhält. Denken wir an Jesus und Petrus: Erst gab Petrus groß damit an, dass er sich mit seinem Leben für Jesus einsetzen würde, und dann war er so feige, dass er nicht einmal zugeben wollte, Jesus zu kennen. Aber Jesus nahm ihm das nicht übel, sondern vergab ihm und schenkte ihm neues Vertrauen. Dieses Vorbild sollten wir vor Augen haben, wenn uns jemand sehr enttäuscht oder verletzt. Seien wir dann nicht nachtragend, sondern ertragen wir den anderen in Liebe. Bleiben wir stets bereit zu vergeben, selbst wenn uns einer menschlich noch so übel mitspielt und auch wenn uns einer verletzt oder schikaniert oder mobbt. Das heißt nicht, dass wir uns alles gefallen lassen müssen, es heißt aber, dass wir diejenigen als Mitmenschen akzeptieren und ertragen sollen, die solches tun. Ja, sogar bei böswilliger Verletzung gilt die Devise: „Ertragt einer den andern in Liebe.“ Jesus lehrte seine Jünger, auch die Feinde zu lieben. Und als seine eigenen Feinde ihn durch böse Intrigen ans Kreuz brachten, da betete er für sie: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“
Jesus hat das auch für uns gebetet, denn auch unsere Sünde trug dazu bei, dass er am Kreuz sterben musste. Und er hat nicht nur so gebetet, sondern er hat durch das Sühnopfer seines Todes bewirkt, dass der Vater uns wirklich vergibt. Da sind wir nun wieder beim Anfangsgedanken: bei unserer Berufung, dem Evangelium, der Einladung in Gottes ewiges Reich. Weil Christus uns Sünder erträgt und unsere Sündenschuld getragen hat, darum sind wir erlöst für Zeit und Ewigkeit. Wenn es nun gilt, dieser Berufung würdig zu leben, so lässt sich das kaum kürzer und besser beschreiben als mit diesem Satz: „Ertragt einer den andern in Liebe.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |