Vater, vergib ihnen

Predigt über Lukas 23,34 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

In den Wochen­gottes­diensten dieser Passions­zeit möchte ich mit euch die sieben Worte bedenken, die unser Herr und Heiland Jesus Christus am Kreuz gesprochen hat. Es handelt sich dabei nicht einfach um die letzten Worte eines berühmten Menschen; es sind ja weder seine letzten Worte, noch können wir sie mit den Worten anderer Sterbender ver­gleichen. Mit diesen sieben Worten am Kreuz hat uns Jesus vielmehr sein Herz geöffnet, und damit zugleich das große liebende Herz unsers himmlischen Vaters. Der schwärzeste Tag der Welt­geschichte wurde zum wichtigsten und seligsten Tag, zum Tag unserer Erlösung – nichts anderes bezeugen uns die sieben Kreuzes­worte.

Beim ersten, vierten und siebenten Kreuzeswort handelt es sich um Gebete. Jesus hat uns damit ein Beispiel gegeben, dass Anfang, Mitte und Ende all unsers Redens und Tuns vom Gebet durch­drungen sein sollen. So beginnt das erste Kreuzeswort mit dieser wunderbaren Anrede an Gott, die wir nur deshalb in den Mund nehmen dürfen, weil Jesus sie uns vor­gesprochen hat: „Vater!“ Dabei ist zu bedenken: Jesus betete so, als er in größten Schmerzen war. Die nächtlichen Verhöre, das Anspucken und das Aus­peitschen waren harmlos im Vergleich zu der Qual, an einen Holzbalken genagelt und an einem Folter­gestell aufgehängt zu werden. Es wäre nur allzu ver­ständlich, wenn Jesus in dieser Situation das Wort „Vater!“ hinaus­geschrien hätte wie einen ver­zweifelten Hilferuf. Aber es ist kein Hilferuf, sondern, o Wunder, es ist eine Fürbitte: „Vater, vergib ihnen!“ Jesus hat Feindes­liebe nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt – bis hin zur bittersten Konsequenz. Er bat um Vergebung für die Folter­knechte, für seine Peiniger, die römischen Soldaten, die ihn ans Kreuz nagelten. Die menschliche Natur will am liebsten fluchen und diesen brutalen Leuten schlimmste Strafen auf den Hals wünschen. Aber Jesus möchte, dass sie diese Sünde im letzten Gericht nicht vorgehalten bekommen. Jesus will, dass sie selig werden. Damit hat er erfüllt, was der Prophet Jesaja so voraus­sagte: „Er hat für die Übeltäter gebeten“ (Jes. 53,12).

Jesu Fürbitte galt nicht nur den Kriegs­knechten, sondern auch allen anderen, die an seiner Ver­urteilung schuld waren. In seiner Pfingst­predigt und auch später hielt Petrus diese Schuld dem ganzen jüdischen Volk vor; sie hatten schließlich mit ihren „Kreuzige!“-Rufen Pilatus zu seinem Todesurteil gedrängt. Aber Petrus sagte den Juden auch: „Liebe Brüder, ich weiß, dass ihr's aus Un­wissenheit getan habt wie auch eure Oberen“ (Apostel­gesch. 3,17). Und Paulus schrieb den Korinthern von den weltlichen Herrschern, die Jesu Hinrichtung zu ver­antworten hatten: „Wir reden von der Weis­heit…, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie die erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlich­keit nicht gekreuzigt“ (1. Kor. 2,7‑8). Und schließlich müssen auch wir selbst uns zu denen rechnen, die für Jesu Tod ver­antwortlich sind: Letztlich sind es ja die Sünden der ganzen Welt, auch unsere Sünden, die ihn ans Kreuz gebracht haben. So dürfen wir uns im Geist unters Kreuz stellen und miterleben, wie Jesus da in seiner größten Qual auch für uns Fürbitte tut: „Vater, vergib ihnen!“ Der Apostel Johannes hat darum später in seinem ersten Brief ge­schrieben: „Wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus“ (1. Joh. 2,1).

Ja, Jesus betet für uns und alle Sünder: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Aber wissen wir wirklich nicht, was wir tun? Und haben dann die, die bewusst sündigen, keine Hoffnung auf Vergebung? Wir merken: Dieser zweite Teil von Jesu erstem Kreuzeswort hat es in sich: „… denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Vielleicht waren die Kriegs­knechte damals wirklich so einfältig und ab­gestumpft, dass sie nicht merkten, was sie da Böses taten. Vielleicht dachten sie: Wir tun ja nur unsere Pflicht. Ebenso wie die Aufseher in den Konzen­trations­lagern „nur ihre Pflicht“ taten, oder die Mauer­schützen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Aber auch wenn Menschen „nur ihre Pflicht“ tun, bleibt böses Handeln dennoch böse; und die so tun, sind dafür ver­antwort­lich. Was die weiteren Mit­schuldigen an der Kreuzigung anbetrifft, so merkten sie durchaus, dass sie etwas falsch machten: Pilatus wusste ganz genau, dass er da einen Un­schuldigen zum Tode verurteilt. Und der hohe­priester­liche Rat hätte um die Festnahme Jesu nicht so viel Geheimnis­krämerei machen und dafür auch noch 30 Silberlinge ausgeben müssen, wenn er es mit gutem Gewissen hätte tun können. Auch wir, liebe Brüder und Schwestern in Christus, merken meistens sehr genau: Was ich hier gerade tue oder was ich getan habe, das kann Gott nicht gefallen. Könnte es also sein, dass wir Jesu Fürbitte gar nicht auf uns beziehen dürfen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“? Vergessen wir aber nicht, in welcher Situation Jesus das gesagt hat: Er sagte es, als man ihn, den ein­geborenen Sohn, den wahren Gott, ans Kreuz schlug. Würdest du nicht zu Tode erschrocken innehalten, wenn du merktest, dass du mit deinem Verhalten den Gottessohn kreuzigst? Aber wir merken es nicht, wir erkennen es leider erst im Nachhinein. Wer allerdings mit voller Absicht Gott quälen und aus dem Weg räumen will, der begeht eine Sünde, die Jesus „Sünde wider den Heiligen Geist“ nannte; für diese Sünde gibt es keine Vergebung. Seht, so hat Jesus seine Bitte gemeint: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Auch wenn wir immer wieder sündigen und uns das immer wieder er­schreckend bewusst wird: Unsern Heiland aus dem Weg räumen wollen wir nicht. Im Gegenteil: Wir brauchen ihn nötiger als alles andere, und darum suchen wir ihn und nehmen dankbar an, was er uns durch sein Leiden und Sterben schenkt: die Vergebung unserer Sünden. Diese Liebe des Herrn verändert uns. Sie verändert uns in der Weise, dass wir beten können: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schul­digern.“ Denn Jesu Fürbitte um Vergebung gibt uns nicht nur Heil und ewiges Leben, sondern sie gibt uns auch ein gutes Vorbild. Der erste Christ, der um seines Glaubens willen umgebracht wurde, hat sich an diesem Vorbild orientiert. Es war Stephanus, einer der sieben Diakone in der Jerusalemer Urgemeinde. Als man ihn wegen seines Bekennt­nisses zu Christus steinigte, waren seine letzten Worte: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ (Apostel­gesch. 7,60). Ein Mensch, der solche Feindes­liebe aufbringt, tut Über­mensch­liches. Natürlicher­weise würde man sagen: Wenn mir andere so gemein und böswillig mitspielen, dann kann ich ihnen nicht vergeben. Aber von Jesus empfangen wir die Kraft, dieses Über­mensch­liche zu tun. Ja, von Jesus empfangen wir die Kraft, unsern Schuldigern zu vergeben – allen Schul­digern. Statt zu fluchen oder zu grollen oder die, die an uns schuldig geworden sind, links liegen zu lassen, können wir wie Jesus beten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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