Liebe Trauergemeinde!
Der Tod war der Verstorbenen nie fremd gewesen. Ihr Vater wurde grausam ermodert, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ihr erster Mann ist im Krieg geblieben. Ihr zweiter Mann starb bereits 1981. Sie pflegte ihre Mutter bis an deren Lebensende. Und was besonders schmerzlich ist: Sie erlebte den Tod der Mehrzahl ihrer Kinder sowie ihrer Schwiegertochter. Auch mit ihrem eigenen Tod hat sie sich zu Lebzeiten beschäftigt und für diesen Fall Wichtiges im Voraus geordnet. Nein, der Tod war ihr nicht fremd.
Das bedeutet allerdings nicht, dass sie eine traurige oder gar verbitterte Frau war. Im Gegenteil: Sie war bis ins Alter lebensfroh und unternehmungslustig. Typisch war ihr trockener Humor. Wer mit dem Tod lebt und auch die eigene Sterblichkeit bedenkt, muss deswegen nicht das Leben verneinen. Im Gegenteil: Wer dem Tod ausweicht und die eigene Sterblichkeit verdrängt, gerade dem wird es schwer, recht zu leben.
Diese Erkenntnis hat mit Gott zu tun. Da ist einerseits der große heilige Gott in seinem ewigen Reich, und da sind andererseits wir kleinen unheiligen Menschen – und zwar ohne Ausnahme unheilig. Wir geben uns zwar mehr oder weniger Mühe, aber wir werden letztlich nicht der Verantwortung gerecht, die wir vor Gott und den Mitmenschen haben. Diese Schuld trennt uns von Gott wie eine Mauer. Gott aber hat ein Loch in diese Mauer geschlagen, eine Öffnung, eine Pforte. So tritt der heilige Gott mit uns unheiligen Menschen in Verbindung. Diese Pforte hat einen Namen; sie heißt Jesus Christus. Jesus sagte: „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden“ (Joh. 10,9). Und er sagte auch: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh. 14,6).
Die Verstorbene hat diese Pforte zu Gott und zum Himmel benutzt. Durch die heilige Taufe und durch den christlichen Glauben gehört sie zu Jesus. Zwar hat sie das nicht in allen Abschnitten ihres Lebens mit gleichbleibender Intensität gelebt, und sie hat sich auch nicht allzusehr verstandesmäßig mit Glaubensdingen beschäftigt, aber sie wusste doch, wo die Pforte des Himmels für sie offen stand. Es war ihr immer eine besondere Freude und ein Glücksgefühl, wenn sie in unser Gotteshaus hineinging, oder auch, in späteren Jahren, mit ihrem Rollstuhl hier hineinrollte. Sie spürte die heilige Atmosphäre – die heilige Stätte, die Herz und Sinne emporzieht zu Gott. So war es auch ihr Wunsch gewesen, dass dieser Trauergottesdienst in derselben Kirche stattfindet, in die sie zu Lebzeiten gegangen war und über deren Eingang das schöne Gotteswort steht: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“
Es war der alte Jakob, der Stammvater des Volkes Israel, der vor ungefähr viertausend Jahren diese Worte sagte. Er sprach sie an einer Stelle, wo er im Traum hoch über sich Gott erblickt hatte und wo Engel von Gott herab‑ und zu Gott hinaufstiegen. So hatte der heilige Gott selbst zu diesem unheiligen Mann eine Verbindung hergestellt und eine Tür geöffnet. Gott wollte Jakob damit zeigen: Auch wenn du mich enttäuscht hast, lasse ich dich nicht im Stich, sondern ich stehe dir bei und werde dir alles schenken, was ich dir versprochen habe. Nichts anderes geschieht hier in dieser Kirche bei jedem Gottesdienst. Es geschieht darüber hinaus in allen Kirchen und Gottesdiensten, wo die frohe Botschaft von Jesus Christus verkündigt wird und wo man das Heilige Abendmahl so feiert, wie er es für uns eingesetzt hat. Hier, an diesem Altar, geschieht das Wunder, dass wir Menschen mit Brot und Wein Christi Leib und Blut empfangen zur Vergebung der Sünden, obwohl Christus in den Himmel aufgefahren ist. Denn hier ist die Pforte des Himmels, hier stehen Himmel und Erde in Verbindung, hier ist so eine heilige Stätte.
Auch unsere liebe Schwester hat an diesem Altar Christi Leib und Blut empfangen. Sie hat hier Gottes Wort gehört und ist in seinem Namen gesegnet worden. Da hat Christus ihr verheißen, was er allen Gläubigen verheißt: Auch wenn du mich enttäuscht hast, lasse ich dich nicht im Stich, sondern ich stehe dir bei und werde dir alles schenken, was ich dir versprochen habe – nämlich das ewige Leben, die ewige Seligkeit in meines Vaters Reich. Solange sie lebte, ist dieser Segen zu ihr herabgekommen durch die Himmelspforte aus Gottes ewigem Reich. Nun betten wir ihren Leib zur Ruhe in der Glaubenshoffnung, dass Christus auch für sie die Macht des Todes besiegt hat und dass sie selbst durch diese Himmelspforte hinübergeht in Gottes ewiges Reich. So wird die dunkle Pforte des Todes zu einer Pforte des Lebens.
Der Tod war der Verstorbenen nie fremd gewesen, ebensowenig wie das Leben. Alle, die zu Jesus gehören, wissen: Der Tod ist in Wahrheit nicht das schwarz Loch, für das viele ihn halten, Er ist vielmehr das Eingangstor zu Gottes Licht und Leben, zu Gottes neuer Welt, zu seinem ewigen Himmelreich. Es ist so, als ob auch uns heute in diesem Gotteshaus die Engel zuwinken und rufen: „Wie heilige ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist Pforte des Himmels.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |