Erstes und zweites Kommen des Gottesreichs

Predigt über Lukas 17,20‑30 zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Alte Menschen haben es gut, denn sie sind dem Himmel nahe. Alte Menschen haben es zugleich schlecht, denn körperliche Gebrechen und seelische Leiden können ihnen den Lebensabend schwer machen. Ich weiß von einem alten Theologie­professor, dem haben seine Alters­leiden so sehr zu schaffen gemacht, dass sie ihm die Freude am Himmel ver­dunkelten. Er fragte sich: Wo bleibt das Reich Gottes? Wo bleibt der Sieg Christi? Ich sehe ihn nicht mehr. Nicht nur alte, auch jüngere Menschen werden mitunter von solchen An­fechtungen heim­gesucht. Das Gotteswort, das wir eben gehört haben, kann da weiter­helfen, wie wir gleich sehen werden.

Ausgangs­punkt war eine Frage alt­testament­licher Theologie­professoren an Jesus. Die Pharisäer fragten ihn nämlich in Gegenwart seiner Jünger: „Wann kommt das Reich Gottes?“ Wir müssen beachten, dass Jesus auf diese Frage zweimal antwortete. Mit der ersten Antwort wendete er sich direkt an die Frage­steller, die frommen jüdischen Schrift­gelehrten, und mit der zweiten Antwort wendete er sich an seine Jünger.

Um die erste Antwort richtig zu verstehen, müssen wir uns zunächst überlegen, wie die Pharisäer die Frage meinten. Wir müssen uns klar machen: Als fromme Juden warteten sie auf das Kommen des Messias. Wenn er kommt, dachten sie, bricht sogleich Gottes Reich an. Sie erwarteten, dass der Messias in Jerusalem sichtbar sein ewiges Friedens­reich aufrichtet und segensreich regiert wie einst König David. Diese Erwartungen schwangen mit, als die Pharisäer fragten: „Wann kommt das Reich Gottes?“ Dabei glaubten sie nicht, dass Jesus selbst der ver­sprochene Erlöser ist.

Jesus gab ihnen folgende Antwort: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Der erste Teil der Antwort leuchtet sofort ein: Gottes Reich des neuen Bundes ist kein Staat wie andere, der an ein bestimmtes Territorium der Erde gebunden ist, und somit auch nicht sichtbar. Jesus hat später dem römischen Statthalter Pontius Pilatus bezeugt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh. 18,36). Alle irdischen Be­freiungs­phantasien, die die Juden zu dieser Zeit mit dem Kommen des Messias verbanden, waren somit abwegig. Der zweite Teil der Antwort ist etwas schwie­riger: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Wir werden dieses Wort nur dann richtig verstehen, wenn wir uns die Situation anschaulich vorstellen: Hier eine Gruppe fragender Pharisäer, da eine Schar wiss­begieriger Jünger, in der Mitte Jesus, der sagt: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Da merken wir: Jesus redete von sich selbst. In seiner Person ist Gottes Reich mitten unter die Leute gekommen. So hatte es schon Johannes der Täufer prophezeit, und so verkündigte es Jesus selbst bereits in einer seiner ersten Predigten: „Das Himmelreich ist herbei­gekommen“ (Matth. 3,2; 4,17). Mit Jesu Kommen in die Welt brach Gottes Reich des neuen Bundes an. Seitdem gilt: Wo Jesus ist, da ist auch Gottes Reich. Er hat verheißen: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matth. 18,20). „Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ – mit diesem Satz bezeugte Jesus den Pharisäern, dass er selbst der Messias ist.

Daran hat sich bis heute nichts geändert; darauf dürfen wir vertrauen und damit können wir uns trösten. Wir sind hier im Namen Jesu versammelt, und darum ist der Herr mitten unter uns – ebenso, wie er damals bei seinen Jüngern war, nur dass wir ihn nicht sehen. Aber wir hören seine Stimme im ver­kündigten Wort Gottes, und wir erleben die Nähe seines Leibes und Blutes im Heiligen Abendmahl. Wir brauchen nicht ängstlich zu fragen: Wann kommt denn nun endlich das Reich Gottes; wird es überhaupt jemals kommen? Wir können gewiss sein: Es ist schon da, weil Jesus gekommen ist. Ja, darauf vertrauen wir als Christen und Jünger Jesu.

Das glaubten auch die Jünger damals. Insofern war Jesu Antwort an die Pharisäer eine Binsen­wahrheit für sie. Natürlich befand sich Gottes Reich mit der Person Jesu schon mitten unter ihnen, wer wollte das bezweifeln? Und doch hatten auch die Jünger noch Lernbedarf in Bezug auf das Reich Gottes, und wir heutigen Jünger haben ihn immer noch. Darum gab Jesus eine zweite Antwort auf die Frage: „Wann kommt das Reich Gottes?“ Diese zweite Antwort war an seine Jünger adressiert. Es ist eine recht aus­führliche Antwort. Zunächst machte er ihnen klar, dass ihre Erfahrung von Jesu Anwesenheit und von Gottes Reich noch manche Krise durchlaufen muss – wohl­bemerkt: ihre Erfahrung davon, nicht Jesu Anwesenheit und das Himmelreich selbst. Er sagte ihnen: „Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschen­sohns, und werdet ihn nicht sehen.“ Jesus kündigte ihnen damit eine Zeit an, in der ihr Glaube angefochten sein wird und sie irritiert fragen werden: Wo ist denn nun der Sieg Christi? Ich sehe ihn nicht. Da sollen sie sich dann vor falschen Ver­sprechungen solcher Menschen hüten, die mit einem Gottesreich in dieser Welt locken und zum Kampf dafür aufrufen. Jesus warnte: „Sie werden zu euch sagen: Siehe da! Oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!“ Für die damaligen Jünger markierte besonders das Leiden und Sterben Jesu eine schlimme Zeit der Anfechtung, darum sagte er ihnen klar voraus: „Der Menschen­sohn muss viel leiden und verworfen werden von diesem Ge­schlecht.“

Diese Antwort ist auch für uns tröstlich. Wenn wir angefochten sind, sollen wir wissen: Die Erfahrung von Jesu Anwesenheit und Gottes Reich muss auch bei uns manche Krise durchlaufen – wohl­bemerkt: die Erfahrung davon, nicht Jesu Anwesenheit und das Himmelreich selbst. Im Gegenteil: Wenn es uns seelisch schlecht geht, dürfen wir darauf hoffen, dass der Herr uns dann besonders nahe ist mit seinem Trost. Es ist so, wie Julie Hausmann in ihrem berühmten Glaubens­lied „So nimm denn meine Hände“ dichtete: „Wenn ich auch gar nichts fühle / von deiner Macht, / du führst mich doch zum Ziele, / auch durch die Nacht.“ Jesus hat wiederholt darauf hin­gewiesen, dass für jeden seiner Nachfolger einmal Kreuzes­zeiten kommen werden, wo nichts vom Reich Gottes und vom Sieg des Auf­erstandenen erkennbar sein wird. Der Apostel Paulus gab zu bedenken: „Wir müssen durch viel Trübsal ins Reich Gottes gehen“ (Apostel­gesch. 14,22), und: „Alle, die fromm leben wollen in Christus Jesus, müssen Verfolgung leiden“ (2. Tim. 3,12).

Auch die zweite Antwort Jesu, die Antwort an seine Jünger also, hatte einen zweiten Teil. In diesem zweiten Teil machte Jesus klar, dass die Anfechtung des Glaubens und das Nicht-Sehen-Können zeitlich begrenzt sind. Es kommt der Tag, an dem Jesus sichtbar wiederkehrt und die Herrlich­keit seines Reiches allen Augen sichtbar werden wird. Jesus prophe­zeite: „Wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschen­sohn an seinem Tag sein.“ Dieser Tag wird ganz unvermutet kommen – so wie die Sintflut Noahs Zeit­genossen über­raschte, und so wie das göttliche Straf­gericht an Sodom und Gomorra Lots Zeit­genossen über­raschte.

So schrecklich diese Aussicht für diejenigen ist, die mit Christi Wieder­kommen und Gottes Gericht nicht rechnen, so tröstlich ist sie für uns, die wir durch Jesu Blut rein­gewaschen sind und auf sein sichtbares Wieder­kommen sehnsüchtig warten. Freilich nicht ungeduldig warten, etwa so: Wann kommt es denn endlich, das Reich Gottes, wann bricht es denn endlich sichtbar an? Aber auch nicht mit dem Hinter­gedanken: Hoffentlich kommt es noch nicht so bald, damit ich noch viel Zeit habe, mich hier auf Erden zu amüsieren. Jünger Jesu lassen sich gesagt sein, dass das sichtbare Gottesreich unverhofft kommen wird, mitten in unseren Alltag hinein. So zu warten gibt Gelassen­heit. Der alte und der leidende Mensch lernt dabei Geduld, denn er kann sich sagen: Er wird schon noch wieder­kommen, der Herr Jesus Christus, denn er hat es ja ver­sprochen. Und der jüngere lebens­lustige Mensch, der mit beiden Beinen im Leben steht, kann sich sagen: Ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber, wann Jesus wieder­kommt; wenn er plötzlich da ist, dann ist er eben da und nimmt mich in sein Reich.

„Wann kommt das Reich Gottes?“, so wurde Jesus gefragt. Er gab zwei Antworten. Die erste Antwort richtete sich an die Gläubigen des Alten Testaments, die zweite an die Gläubigen des Neuen Testaments. Mit der ersten Antwort wies er auf sein erstes Kommen hin, mit der zweiten Antwort auf sein Wieder­kommen. Die erste Antwort tröstet uns, weil wir wissen: Christus und sein Reich sind schon mitten unter uns, wenn auch noch verhüllt unter den Gnaden­mitteln Wort und Sakrament in der Gemeinde und verborgen unter dem Kreuz der Nachfolge. Die zweite Antwort tröstet uns, weil wir hoffen können: Einmal werden wir Christus und sein Reich mit leiblichen Augen sehen, dann wird alles Leid ein Ende haben, und wir dürfen für immer die ungetrübte Herrlich­keit seiner Gegenwart genießen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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