Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Unser Gotteswort handelt vom Selbstbetrug. Da steht: Wenn jemand sich einbildet, etwas zu sein, was er nicht ist, dann ist das Selbstbetrug. Na und? Ist denn Selbstbetrug etwas Schlechtes?
Es gibt heutzutage Stimmen, die ermutigen regelrecht zum Selbstbetrug. Da ist jemand ein mittelmäßig guter Sportler, aber man sagt ihm: Du musst daran glauben, dass du besser bist als die anderen, dann wirst du sie besiegen! Auch auf anderen Gebieten redet man den Leuten ein, dass sie erfolgreich werden können, wenn sie an ihren Erfolg glauben. Wer sich zum Beispiel selbstbewusst einbilde, er sei schön, der werde dadurch schön, und wer sich einbilde, er sei glücklich, der fände dann auch wirklich Glück. Es handelt sich um einen psychologischen Trick: Je mehr ein Mensch von sich hält und sich zutraut, meint man, desto mehr wird sich das positiv auf sein Leben auswirken. Wer wollte da behaupten, Selbstbetrug sei etwas Schlechtes?
Nun ist da durchaus ein Körnchen Wahrheit dran: Es hilft tatsächlich, wenn ein Mensch sich positiv etwas zutraut und nicht immer jammert, er könne nichts. Aber ihr ahnt wahrscheinlich, dass ich dem Selbstbetrug eher skeptisch gegenüberstehe. Ich tue es, weil er auch von Gott nicht gutgeheißen wird. Immerhin ist auch der Selbstbetrug eine Art von Betrug, eine Unwahrhaftigkeit, eine Lüge; Gott aber ist ein Freund der Wahrheit. Gott möchte, dass wir ehrlich sind und niemandem etwas vortäuschen – auch uns selbst nicht. Gott möchte, dass wir uns ehrlich so ansehen, wie wir wirklich sind. Gott möchte, dass wir uns selbst richtig erkennen. Wir sollten daher dem Selbstbetrug eine Absage erteilen und uns stattdessen um Selbsterkenntnis bemühen. Wer im Sport nur mittelmäßig ist, der sollte das ehrlich zur Kenntnis nehmen und nicht so tun, als sei er zu Höchstleistungen fähig. Wer nicht besonders schön ist, der sollte sich so annehmen, wie er ist, und nicht krampfhaft versuchen, sich aufzutakeln. Und wer nicht reich ist, der sollte beim Geldausgeben nicht so tun, als sei er reich. Dasselbe gilt für alle, die nicht erfolgreich sind oder nicht einflussreich: Verlassen wir den Selbstbetrug und gelangen wir zu einer realistischen Selbsterkenntnis. Dazu noch einmal unser Gotteswort: „Wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.“
Wir dürfen das freilich nicht missverstehen: Dass einer „nichts“ ist, das ist nicht im absoluten Sinn gemeint. Es wäre falsch verstandene Demut, wenn ein Christ meinte, er sei völlig unbedeutend und wertlos. Gott selbst sieht ja jeden Menschen als einmalig wertvoll an, darum dürfen wir uns auch selbst für wertvoll halten. Was Paulus hier tatsächlich meint, können wir gut verstehen, wenn wir es mit einer anderen Aussage von ihm in Verbindung bringen. Der Christengemeinde in Rom hat er geschrieben: „Ich sage jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich's gebührt zu halten“ (Römer 12,3). Nicht mehr, als sich's gebührt – das ist die rechte Selbsterkenntnis! Wir sollen uns nicht aufgeblasen überschätzen. Wir sollen nicht meinen, dass wir etwas Großes oder Besonderes sind, herausgehoben aus allen anderen Menschen.
Herausgehoben aus allen anderen Menschen – mit diesem Gedanken können wir die Warnung vor Selbstbetrug, die uns hier begegnet, noch vertiefen. Der Zusammenhang des Textwortes legt nämlich nahe, dass es hier vor allem um unseren Platz in der Gemeinschaft geht, besonders in der christlichen Gemeinde. Direkt vor der Warnung befindet sich das berühmte Bibelwort: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Da merken wir: Es geht hier insbesondere um den Selbstbetrug, dass jemand meint, unabhängig zu sein: dass jemand meint, er komme allein gut zurecht, losgelöst von allen anderen, selbstständige und selbstbestimmt. Aber bei ehrlicher Selbsterkenntnis muss jeder Mensch zugeben, dass er andere nötig hat und ohne sie gar nicht leben könnte. Wenn nicht einer des anderen Last trüge, dann wäre jeder mit seiner eigenen Last überfordert und bräche darunter zusammen. Isoliert wären wir tatsächlich „nichts“, so wie es auch ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Der Mensch ist ein Mensch erst durch Menschen.“ Unabhängigkeit ist Selbstbetrug; die rechte Selbsterkenntnis führt uns unsere Abhängigkeit vor Augen.
Kinder wissen das ganz genau: Ohne Erwachsene, ohne Vater und Mutter, können sie nicht leben. Schwerstbehinderte und Pflegebedürftige erfahren das ebenfalls jeden Tag, denn sie sind abhängig von vielen Handgriffen und Dienstleistungen anderer. Aber auch wenn man selbstständig auf Toilette gehen und selbstständig seinen Lebensunterhalt verdienen kann, bleiben wir doch in vielem abhängig. So brauchen wir Menschen, die für uns ernten und schlachten, sonst würden wir nicht satt werden. Und wir brauchen Menschen, die für uns Strom erzeugen und Bankkonten führen. Und wir brauchen Ärzte und Feuerwehrleute, Polizisten und Juristen, um ein Leben zu führen, das den heutigen Maßstäben von Menschenwürde entspricht. Selbst die reichsten und mächtigsten Leute der Welt sind in hohem Maße davon abhängig, dass andere ihre Lasten tragen. Noch einmal: Unabhängigkeit ist ein großer Selbstbetrug; niemand sollte meinen, dass er unabhängig ist, wo er es doch nicht ist.
Nun will ich aber noch etwas mehr in die Tiefe gehen. Die Last, von der das sechste Kapitel des Galaterbriefes spricht, ist vor allem eine Gewissenslast. Wenn es heißt, dass einer des anderen Last tragen soll, dann werden die Christen hier nicht zuletzt zu gegenseitiger Vergebung aufgefordert. Unvergebene Schuld entfremdet und isoliert, aber Vergebung verbindet. Als Christen wissen wir das besonders gut, weil wir durch Jesus Christus solche Vergebung von Gott erfahren haben und immer wieder neu erfahren; das ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Glaubens. Jesus hat uns unsere schwerste Last abgenommen und sie für uns getragen: unser sündhaftes Wesen und all die vielen kleinen und großen Sünden, mit denen wir uns von Gott entfremdet haben. Wir können uns nicht selbst davon frei machen, sondern sind darauf angewiesen, dass Jesus uns davon befreit. Darum wird das Last-Tragen auch „Gesetz Christi“ genannt. Wir sehen also: Nicht nur von anderen Menschen sind wir abhängig, sondern am allermeisten von Gott. Es wäre ein großer Irrtum zu meinen, dass wir keine Sünde haben oder dass unsere Sünden nicht schlimm sind oder dass wir irgendwie allein damit fertigwerden könnten. Der Apostel Johannes hat vor solchem Selbstbetrug gewarnt, als er schrieb: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1. Joh. 1,8). Es ist folglich die wichtigste Selbsterkenntnis zu sehen, dass wir vor Gott mit völlig leeren Händen dastehen und ganz auf seine Barmherzigkeit angewiesen sind. Was unser Verhältnis zu Gott betrifft, so müssen wir tatsächlich zugeben, das wir nichts sind – jedenfalls nichts ohne seine Gnade.
Mit Gottes Gnade aber sind wir etwas, nämlich seine geliebten Kinder und Bürger seines Reiches, Heilige, Priester und sogar Könige – so legt es uns die Bibel in den Mund. Paulus konnte den Korinthern selbstbewusst schreiben: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“ (1. Kor. 15,10). „Wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst“ – das ist wahr. Aber wer im Glauben an Jesus erkennt, dass er durch Gottes Gnade doch etwas ist, und zwar etwas Heiliges und Wertvolles, der betrügt sich nicht selbst, sondern der hat die richtige Selbsterkenntnis. Mit dieser Glaubens-Selbsterkenntnis können wir zusammenfassend feststellen: Allein bin ich nichts, denn ich bin in vielfacher Hinsicht abhängig; ich bin von meinen Mitmenschen abhängig und vor allem von Gott. Aber weil Jesus meine Last auf sich genommen und meine Schuld getilgt hat, bin ich ein wertvolles und geliebtes Gotteskind, zur liebevollen Gemeinschaft mit Gott und meinen Mitmenschen berufen. Amen.
PREDIGTKASTEN |