Mit Daniel beten lernen

Predigt über Daniel 9,15‑19 zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Vor 99 Jahren begann der Erste Weltkrieg. Das Jahr 1914 markiert das Ende einer Blütezeit, die unser Volk im 19. Jahr­hundert und am Anfang des 20. Jahr­hunderts erleben durfte. Das Jahr 1914 markiert zugleich den Anfang einer langen Leidenszeit für Deutschland und Europa. In zwei Weltkriegen war unser Volk in Schuld und Leid von solchem Ausmaß verstrickt, wie man es vorher nicht für möglich gehalten hätte. Millionen von Kriegs­toten, Ver­treibung, Diktatur und Holocaust sind nur einige Stich­wörter, die das un­entwirr­bare Knäuel von Schuld und Leid be­schreiben. Die welt­politischen Ereignisse des 20. Jahr­hunderts haben Europa tief er­schüttert, und die Nachwehen sind bis heute zu spüren: Trotz Glasnost, Perestroika und deutscher Wieder­vereinigung sind die Wunden des Kalten Krieges, der auf die zwei Weltkriege folgte, immer noch nicht ganz verheilt. Und die schlechten Erfahrungen aus der Zeit der Nazi-Diktatur haben bewirkt, dass eine Reihe positiver Werte nachhaltig und bis heute in Misskredit geraten sind – Tugenden wie Gehorsam, Ordnung, Pünktlich­keit, Vaterlands­liebe oder mütterliche Hingabe.

Europa war am Ende des leidvollen 20. Jahr­hunderts in einer ähnlichen Lage wie die Juden am Ende des 6. Jahr­hunderts vor Christus. Es hatte damit begonnen, dass die Babylonier zur Weltmacht auf­gestiegen waren und die Völker des Nahen Ostens brutal unter­drückten. Auch Judäa, der Rest des einst so stolzen Volkes Israel, wurde ein Opfer der Babylonier. Zuerst wurde das Volk unterjocht, dann wurde Jerusalem belagert und schließlich dem Erdboden gleich gemacht. Viele der Über­lebenden wurden kahl­geschoren, mit Stricken gefesselt und in langen Kolonnen von den rauchenden Trümmern ihres Tempels weg ins ferne Babylon ver­schleppt. Dort wartete ein Leben mit Zwangs­arbeit und Elend auf sie. Ein junger Mann unter den Ver­schleppten hieß Daniel. Er ist es, den Gott später zum Propheten berief und dessen Worte wir in der Bibel finden, im Buch Daniel.

Ein bekanntes Sprichwort lautet: „Not lehrt beten.“ Das gilt allerdings nicht für alle. Die schweren Zeiten des 20. Jahr­hunderts haben gezeigt, dass viele in der Not von Gott abfallen und statt beten lieber fluchen. Selbst große Denker haben behauptet, dass man nach Auschwitz nicht mehr an den lieben Gott glauben könne. Ähnliches zeigte sich im 6. Jahr­hunder vor Christus: Nach der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier meinten manche Juden, ihr Gott wäre den Götzen Babylons unterlegen. Man muss also eher sagen: In der Not scheiden sich die Geister. Die einen lernen dann, noch fester auf Gott zu vertrauen und ihn um Hilfe anzuflehen, und die anderen wenden sich gänzlich von ihm ab. Daniel allerdings gehörte zur ersten Gruppe: Auch in der Babylo­nischen Gefangen­schaft hielt er sich treu zum Gott Israels und diente ihm von ganzem Herzen. Die Berichte aus dem ersten Teil des Buches Daniel zeugen davon, dass er trotz der heidnischen Umgebung seinen Glauben nicht versteckte und sich auch dann zum Gott seiner Väter bekannte, als ihm das gefährlich werden konnte. Daniel hatte als junger Mann in der Not beten gelernt, und er hielt bis ins hohe Alter daran fest. Inzwischen lebten die Juden schon viele Jahrzehnte in der Babylo­nischen Gefangen­schaft. Daniel wusste durch ein Propheten­wort des Jeremia, dass sich nun das Blatt wenden würde und bessere Zeiten für die Juden anbrachen. Zu dieser Zeit betete er sein bekanntes Bußgebet, von dem wir einen Teil als Predigttext gehört haben. Dieses Gebet ist vorbildlich – nicht nur für die Juden damals, sondern auch für uns Christen heute; nicht nur für Menschen in Notzeiten, sondern auch für Menschen in normalen Zeiten. Vier Dinge sind es, die dieses Gebet vorbildlich machen.

Erstens: Daniel erinnerte sich. Er redete Gott an mit den Worten: „Herr, unser Gott, der du dein Volk aus Ägyptenland geführt hast mit starker Hand und hast dir einen Namen gemacht.“ Das lag selbst zu Daniels Zeiten schon tausend Jahre zurück. Aber Daniel hatte nicht vergessen, wie Gott sein Volk Israel einst unter Mose aus der ägyptischen Knecht­schaft befreite und es durch den Bundes­schluss am Berg Sinai zu seinem Eigentums­volk erklärte. Damit erinnerte sich Daniel an Gottes wesent­liches und ent­scheidend wichtiges Tun. Er hätte ja auch daran denken können, wie Gott ihm persönlich in der Notzeit seiner Jugend geholfen hatte oder wie Gott sich sonst seinem Volk gegenüber immer wieder herrlich erwies. Aber Daniel dachte vor allem daran, wie Gott seinem Volk beim Bundes­schluss das heilige Versprechen gab: Du bist mein Volk, und ich bin dein Gott. Gottes Name und Israels Name gehören seitdem zusammen.

Auch wir tun gut daran, uns zu erinnern. Wir können uns an vieles erinnern, was Gott Großes getan hat in unserem Leben und in der Christen­heit. Von Daniel lernen wir, was das Wichtigste ist: Gottes Bundes­schluss. So erinnern wir uns stets zuerst an Gottes neuen Bund, den er durch seinen Sohn Jesus Christus gestiftet hat. So wie Gott einst durch Mose die Israeliten aus der ägyptischen Knecht­schaft führte und sie ins verheißene Land brachte, So hat Gott uns durch Christus aus der Knecht­schaft der Sünde heraus­geführt und uns in sein Reich gebracht. Darum beten wir im Namen Jesu Christi und sagen: „Herr, unser Gott, der du die Menschheit aus der Finsternis heraus­geführt und durch Christus zum ewigen Leben erlöst hast.“

Zweitens: Daniel bekannte seine Schuld. Er sagte: „Wir haben gesündigt“, und: „Wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach.“ Er wusste um die Sünden seiner Vorfahren, die zu Gottes strengem Straf­gericht der Babylo­nischen Gefangen­schaft geführt haben, aber er distan­zierte sich nicht davon, sondern wusste zugleich um die eigene Schuld. Er wusste, dass er nicht besser ist als seine Väter und dass er seinen per­sönlichen Teil an Ver­antwortung trägt für das Knäuel von Schuld und Leid, in dem sein Volk verstrickt war. Dabei ver­harmloste er nichts und sprach nicht einfach nur von Fehlern, die er gemacht hatte. Vielmer sagte er: „Wir sind gottlos gewesen.“ Das Schlimme an der Sünde ist nicht, dass jemand etwas falsch gemacht und Gebote übertreten hat, sondern das Schlimme an der Sünde ist, dass Menschen meinen, sie wüssten besser als Gott, was für sie gut ist.

Auch wir tun gut daran, in dieser Weise unsere Schuld zu bekennen. Es reicht nicht, in schein­heiliger Betroffen­heit die Sünden der Väter vor 1945 zu beklagen. Darum gibt es bei uns die Beichte, und da sagen wir nicht nur, dass wir ein paar Fehler gemacht haben, sondern wir bekennen, dass wir arme, elende, sündige Menschen sind. Wir sind nämlich keineswegs treuer, liebevoller oder frömmer als die Menschen, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg gelebt haben und die Gott mit vielen leidvollen Erfahrungen gestraft hat. Keiner von uns kann sich frei­sprechen von seinem Teil der Ver­antwortung dafür, dass die Welt heute noch immer in ein Knäuel von Schuld und Leid verstrickt ist.

Drittens: Daniel bat Gott um Vergebung und Segen. Er betete: „Wende ab deinen Zorn und Grimm“, und: „Lass leuchten dein Antlitz über dein zerstörtes Heiligtum.“ Er wusste ganz genau: Sein Volk kann sich nicht selbst helfen; es kann sich nicht durch einen Aufstand oder durch andere menschliche Mittel aus der Babylo­nischen Gefangen­schaft befreien. Vor allem können Menschen sich nicht selbst von Sünden reinigen, das kann nur Gott. Nur wenn Gott die verdiente Strafe erlässt und Gnade walten lässt, kann es dem Volk der Juden und jedem einzelnen darin wieder besser gehen. Daniel hat nicht vergeblich gebeten. Als er so betete, war das Ende der Gefangen­schaft praktisch schon herbei­gekommen: Gott fügte es, dass die Perser die Babylonier unterwarfen und den Juden die Freiheit schenkten. Die Juden durften nach Jerusalem zurück­kehren und die Stadt wieder aufbauen. Auch einen neuen Tempel konnten sie bauen, wo die Priester dann wieder im Namen Gottes ihre Hände über die Gemeinde aus­breiteten und sie mit den alten Worten segneten, die er ihnen bereits durch Mose gegeben hatte: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig…“ (4. Mose 6,25).

So werden auch wir heute wieder gesegnet, weil wir hier zusammen­gekommen sind, um Gott um Vergebung und um seinen Segen zu bitten. Wir tun gut daran, so zu beten nach dem Vorbild Daniels. Und wir können es ganz zu­versicht­lich tun, weil Gott uns durch Christus die Gewissheit schenkt, dass er uns erhört. Durch ihn reißt er uns heraus aus dem Knäuel von Schuld und Leid, in dem wir stecken. Zwar kann es sein, dass wir noch hin und wieder leiden müssen, aber mit dem Apostel Paulus glauben wir, dass unsere Leiden in dieser Welt zeitlich und leicht sind im Vergleich zu dem großen Segen und der großen Herrlich­keit, die Gott uns geschenkt hat und die dann in der neuen Welt ganz offenbar werden wird.

Viertens: Daniel vertraute Gott. Er äußerte die Zuversicht: „Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtig­keit, sondern auf deine große Barmherzig­keit.“ Da wird ganz klar: Sein Vertrauen war kein Selbst­vertrauen und nicht irgendein vager Optimismus, sondern es war ein Vertrauen in Gottes Barmherzig­keit. Wenn er darauf angewiesen wäre, mit seiner eigenen Frömmigkeit Gottes Hilfe und Segen zu verdienen, dann hätte er kapitu­liert, denn das kann niemals klappen. Kein Mensch kann durch seine eigene Gerechtig­keit selig werden – also dadurch, dass er alle Gebote zu Gottes Zufrieden­heit erfüllt. Unsere einzige Hoffnung ist Gottes barmherzige Gerechtig­keit, mit der er Sünde nicht anrechnet und unverdient selig macht.

Wir wissen, dass Jesus diese Gerechtig­keit stell­vertretend für uns erworben hat mit seinem Tod am Kreuz. Daniel hat es wie viele andere Propheten des Alten Testaments voraus­gesehen und voraus­gesagt, und das Neue Testament meldet die Erfüllung dieser frohen Botschaft, dieses Evan­geliums. So setzen wir unser Vertrauen nicht auf unsere eigene Gerechtig­keit und nicht auf irgend­welche anderen mensch­lichen Vorzüge, sondern allein auf unsern Herrn und Erlöser Jesus Christus, Gottes ein­geborenen Sohn. Wir sind davon überzeugt, dass wir nicht durch Werke des Gesetzes selig werden, sondern allein und aus­schließlich durch diesen Glauben, durch das Vertrauen in Christi Barmherzig­keit.

Liebe Brüder und Schwestern, zu manchen Zeiten der Welt­geschichte war es ganz offen­sichtlich, zu anderen Zeiten ist es weniger offen­sichtlich, aber nicht weniger wahr: Wir leben in einem Knäuel von Schuld und Leid, an dem jeder von uns seinen Teil Mitschuld trägt. Das Beste, was wir da tun können, ist, wie Daniel vor Gott in die Knie zu gehen und erstens uns an Gottes Bund zu erinnern, zweitens unsere Sünden zu bekennen, drittens um seine Vergebung sowie um seinen Segen zu bitten und viertens auf seine Barmherzig­keit zu vertrauen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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