Damit der Leib gerettet wird

Predigt über Matthäus 18,8‑18 zu einer Kirchenversammlung

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Die Sache mit den ab­getrennten Gliedmaßen ist schockie­rend. Wer wollte sich schon seine Hand abhauen, wenn sie etwa durch die falschen Fernsehprogramme zappt? Aber so hat Jesus das gar nicht gemeint. Er hat hier keine Handlungs­anweisung gegeben, sondern vielmehr ein Gleichnis erzählt. Martin Luther schrieb darum in einer Predigt von 1537 über diesen Text: „Hier müsst ihr nicht grobhin die leiblichen Glieder ver­stehen…, denn gewiss und klar ist es, dass wir in jenem Leben nicht werden blind, taub, lahm oder Krüppel sein.“ Vielmehr hat Jesus hier bildlich vom Leib der Kirche gesprochen. Der Sinn ist also folgender: Wenn einzelne Gemeinde­glieder durch hartnäckige Irrlehre oder unbereuten schlechten Lebens­wandel den Rest der Gemeinde zu verführen drohen, dann soll man sich von ihnen trennen, um nicht die Seligkeit der ganzen Gemeinde zu gefährden. In den Send­schreiben der Offenbarung hat Jesus am konkreten Beispiel gezeigt, was das bedeuten kann. So ließ er der Gemeinde von Thyatira ausrichten: „Ich habe gegen dich, dass du Isebel duldest, diese Frau, die sagt, sie sei eine Prophetin, und lehrt und verführt meine Knechte, Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen“ (Offb. 2,20). Die Botschaft ist klar: Un­einsichtige Irrlehrer und Sünder sollen am Leib Christi nicht geduldet werden. Das bestätigt auch unser Bekenntnis. So heißt es in den Schmalkal­dischen Artikeln: „Der rechte christliche Bann ist, dass man offenbare hals­starrige Sünder nicht zum Sakrament oder anderer kirchlicher Gemein­schaft kommen lassen soll.“ Um es noch einmal im Bild zu sagen: Ampu­tationen sind manchmal nötig – auch am Leib Christi.

Allerdings sollte eine Amputation nur das letzte Mittel sein. Jeder gewissen­hafte Arzt wird vorher alles versuchen, um das kranke Glied zu retten. So ist es auch am Leib Christi, und so will es Jesus. Jeder Einzelne liegt Jesus am Herzen, und wir sollten seinem Vorbild folgen. Jesus hat das im zweiten Gleichnis seiner Predigt in Matthäus 18 zum Ausdruck gebracht; wir haben es vielleicht noch vom letzten Sonntag im Ohr: das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Es ist das Gegenstück zur Geschichte mit den abgehauenen Gliedmaßen. Da liegt dem guten Hirten ein einziges Schaf so sehr am Herzen, dass er den Rest der Herde un­beaufsich­tigt zurücklässt und sich auf die Suche macht. Übersetzt in das Bild vom Leib kann das bedeuten: Der Arzt kämpft mit allen Mitteln um den Erhalt eines blut­vergifteten Arms, auch wenn damit Risiken für den ganzen Körper verbunden sind. Das können wir für den Leib Christi gut nach­vollziehen. Keiner von uns möchte den Binde­schlüssel gern anwenden und Gemeinde­glieder voreilig aus­schließen. Ein guter Gemeinde­hirte kämpft um das Seelenheil der ihm An­vertrauten mit Gebet und nach­gehender Seelsorge.

Jetzt stehen wir da mit den beiden entgegen­gesetzten Gleich­nissen: Einerseits müssen wir uns mit Rücksicht auf den ganzen Leib von schädlichen Gliedern trennen, anderer­seits dürfen wir die Mühe und das Risiko nicht scheuen, ein einzelnes verlorenes Schaf zurück­zugewinnen; so entspricht es dem Willen und Vorbild unsers Herrn. Es ist das Dilemma eines Lehrers, der in seiner Klasse viele gute Schüler und einen schlechten Schüler hat: Soll er mit den guten Schülern im Stoff vorangehen und den schlechten Schüler sitzen­bleiben lassen, oder soll er sich mit besonderer Geduld auf den einen schlechten Schüler konzen­trieren um den Preis, dass die ganze Klasse das vor­geschriebene Pensum nicht schafft?

Jesus lässt uns mit seiner These vom Leib und mit seiner Antithese von der Herde glücklicher­weise nicht im Stich. Er lässt uns ja überhaupt niemals im Stich. Seine Predigt ist nach dem zweiten Gleichnis noch nicht zuende. Vielmehr folgt nun die Synthese; und sie folgt ohne Gleichnis ganz praktisch und im Klartext. Jesus stellt dar, wie es in der Gemeinde aussehen kann, dass ein Sünder in aller Liebe, aber auch mit allem Ernst zur Umkehr gerufen wird. Es soll wiederholt geschehen, und es soll ein gemein­schaft­liches Bemühen sein. Wenn nur ein einzelner Mitchrist ein einziges Mal zur Umkehr ruft, kann der Sünder leicht meinen, dass der das zu eng sieht. Wenn aber andere ihn ebenso darauf ansprechen, darunter der Pastor und einige Kirchen­vorsteher, dann hat das eher Aussicht auf Erfolg. Falls aber alles in den Wind geredet ist, dann bleibt nur noch die Trennung, dann bleibt nur noch der „kleine Bann“, wie unser Bekenntnis es nennt. Ich weiß, viele tun sich heute schwer mit so einer Ent­scheidung und lassen den Binde­schlüssel unbenutzt. Aber wenn wir dem Willen unsers Herrn unverkürzt entsprechen wollen, dann dürfen wir nicht übersehen, dass er uns beide Schlüssel zum Gebrauch anvertraut hat. Nach der Synthese hat Jesus aus­drücklich darauf hingewiesen und gesagt: „Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.“

Zwei Schlüssel hat Christus seiner Kirche anvertraut, den Binde­schlüssel und den Löse­schlüssel. Zwei Schlüssel hat er uns anvertraut mit einem Ziel: dass, wenn möglich, der ganze Leib gerettet wird. Denn wir wissen ja: Auch wenn wir den letzten schweren Schritt tun und einen un­bußfertigen Sünder von den Gnaden­mitteln aus­schließen, dann ist das keinesweges eine Strafe, sondern dann ist das eine zwar ernste, aber doch liebevolle Kon­frontation mit Gottes Wort. Wir nehmen damit keineswegs Gottes endgültiges Urteil vorweg, sondern wir handeln in der Hoffnung: Der Herr, der Blinde sehen machte und Lahme gehen, der kann auch das abgetrennte Glied dem Leib wieder anfügen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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