Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Die Sache mit den abgetrennten Gliedmaßen ist schockierend. Wer wollte sich schon seine Hand abhauen, wenn sie etwa durch die falschen Fernsehprogramme zappt? Aber so hat Jesus das gar nicht gemeint. Er hat hier keine Handlungsanweisung gegeben, sondern vielmehr ein Gleichnis erzählt. Martin Luther schrieb darum in einer Predigt von 1537 über diesen Text: „Hier müsst ihr nicht grobhin die leiblichen Glieder verstehen…, denn gewiss und klar ist es, dass wir in jenem Leben nicht werden blind, taub, lahm oder Krüppel sein.“ Vielmehr hat Jesus hier bildlich vom Leib der Kirche gesprochen. Der Sinn ist also folgender: Wenn einzelne Gemeindeglieder durch hartnäckige Irrlehre oder unbereuten schlechten Lebenswandel den Rest der Gemeinde zu verführen drohen, dann soll man sich von ihnen trennen, um nicht die Seligkeit der ganzen Gemeinde zu gefährden. In den Sendschreiben der Offenbarung hat Jesus am konkreten Beispiel gezeigt, was das bedeuten kann. So ließ er der Gemeinde von Thyatira ausrichten: „Ich habe gegen dich, dass du Isebel duldest, diese Frau, die sagt, sie sei eine Prophetin, und lehrt und verführt meine Knechte, Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen“ (Offb. 2,20). Die Botschaft ist klar: Uneinsichtige Irrlehrer und Sünder sollen am Leib Christi nicht geduldet werden. Das bestätigt auch unser Bekenntnis. So heißt es in den Schmalkaldischen Artikeln: „Der rechte christliche Bann ist, dass man offenbare halsstarrige Sünder nicht zum Sakrament oder anderer kirchlicher Gemeinschaft kommen lassen soll.“ Um es noch einmal im Bild zu sagen: Amputationen sind manchmal nötig – auch am Leib Christi.
Allerdings sollte eine Amputation nur das letzte Mittel sein. Jeder gewissenhafte Arzt wird vorher alles versuchen, um das kranke Glied zu retten. So ist es auch am Leib Christi, und so will es Jesus. Jeder Einzelne liegt Jesus am Herzen, und wir sollten seinem Vorbild folgen. Jesus hat das im zweiten Gleichnis seiner Predigt in Matthäus 18 zum Ausdruck gebracht; wir haben es vielleicht noch vom letzten Sonntag im Ohr: das Gleichnis vom verlorenen Schaf. Es ist das Gegenstück zur Geschichte mit den abgehauenen Gliedmaßen. Da liegt dem guten Hirten ein einziges Schaf so sehr am Herzen, dass er den Rest der Herde unbeaufsichtigt zurücklässt und sich auf die Suche macht. Übersetzt in das Bild vom Leib kann das bedeuten: Der Arzt kämpft mit allen Mitteln um den Erhalt eines blutvergifteten Arms, auch wenn damit Risiken für den ganzen Körper verbunden sind. Das können wir für den Leib Christi gut nachvollziehen. Keiner von uns möchte den Bindeschlüssel gern anwenden und Gemeindeglieder voreilig ausschließen. Ein guter Gemeindehirte kämpft um das Seelenheil der ihm Anvertrauten mit Gebet und nachgehender Seelsorge.
Jetzt stehen wir da mit den beiden entgegengesetzten Gleichnissen: Einerseits müssen wir uns mit Rücksicht auf den ganzen Leib von schädlichen Gliedern trennen, andererseits dürfen wir die Mühe und das Risiko nicht scheuen, ein einzelnes verlorenes Schaf zurückzugewinnen; so entspricht es dem Willen und Vorbild unsers Herrn. Es ist das Dilemma eines Lehrers, der in seiner Klasse viele gute Schüler und einen schlechten Schüler hat: Soll er mit den guten Schülern im Stoff vorangehen und den schlechten Schüler sitzenbleiben lassen, oder soll er sich mit besonderer Geduld auf den einen schlechten Schüler konzentrieren um den Preis, dass die ganze Klasse das vorgeschriebene Pensum nicht schafft?
Jesus lässt uns mit seiner These vom Leib und mit seiner Antithese von der Herde glücklicherweise nicht im Stich. Er lässt uns ja überhaupt niemals im Stich. Seine Predigt ist nach dem zweiten Gleichnis noch nicht zuende. Vielmehr folgt nun die Synthese; und sie folgt ohne Gleichnis ganz praktisch und im Klartext. Jesus stellt dar, wie es in der Gemeinde aussehen kann, dass ein Sünder in aller Liebe, aber auch mit allem Ernst zur Umkehr gerufen wird. Es soll wiederholt geschehen, und es soll ein gemeinschaftliches Bemühen sein. Wenn nur ein einzelner Mitchrist ein einziges Mal zur Umkehr ruft, kann der Sünder leicht meinen, dass der das zu eng sieht. Wenn aber andere ihn ebenso darauf ansprechen, darunter der Pastor und einige Kirchenvorsteher, dann hat das eher Aussicht auf Erfolg. Falls aber alles in den Wind geredet ist, dann bleibt nur noch die Trennung, dann bleibt nur noch der „kleine Bann“, wie unser Bekenntnis es nennt. Ich weiß, viele tun sich heute schwer mit so einer Entscheidung und lassen den Bindeschlüssel unbenutzt. Aber wenn wir dem Willen unsers Herrn unverkürzt entsprechen wollen, dann dürfen wir nicht übersehen, dass er uns beide Schlüssel zum Gebrauch anvertraut hat. Nach der Synthese hat Jesus ausdrücklich darauf hingewiesen und gesagt: „Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.“
Zwei Schlüssel hat Christus seiner Kirche anvertraut, den Bindeschlüssel und den Löseschlüssel. Zwei Schlüssel hat er uns anvertraut mit einem Ziel: dass, wenn möglich, der ganze Leib gerettet wird. Denn wir wissen ja: Auch wenn wir den letzten schweren Schritt tun und einen unbußfertigen Sünder von den Gnadenmitteln ausschließen, dann ist das keinesweges eine Strafe, sondern dann ist das eine zwar ernste, aber doch liebevolle Konfrontation mit Gottes Wort. Wir nehmen damit keineswegs Gottes endgültiges Urteil vorweg, sondern wir handeln in der Hoffnung: Der Herr, der Blinde sehen machte und Lahme gehen, der kann auch das abgetrennte Glied dem Leib wieder anfügen. Amen.
PREDIGTKASTEN |