Hut ab vor dem Menschenhirten

Predigt über Psalm 95,6-7a zum Sonntag Miserikordias Domini

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn jemand leitende Ver­antwortung über andere trägt, dann sagt man, er hat den Hut auf. Diese Redensart stammt aus einer Zeit, als hohe Herren hohe Hüte trugen und kleine Leute flache Mützen. Hohe Hüte lassen Menschen größer erscheinen und machen auf diese Weise ihren ge­sellschaft­lichen Rang sichtbar. Wer die höhere Stellung hoher Tiere anerkennt, der ist bemüht, sich seinerseits klein zu machen; er macht sich gewisser­maßen zum Kind unter den Eltern oder zum Kleinvieh unter dem Hirten. Dies geschieht zum Beispiel dadurch, dass der unter­geordnete Hutträger vor dem über­geordneten Hutträger seinen Hut zieht. Dasselbe kommt durch Knien, Knicksen oder Sich-Verbeugen zum Ausdruck. Auch sprachlich kann sich einer klein machen und damit seine Unter­gebenheit zum Ausdruck bringen; er nennt sich dann nicht einfach „ich“, sondern „meine Wenigkeit“. All diese Höflich­keits­formen gehen darauf zurück, dass damit ur­sprünglich die über­geordnete Stellung eines anderen Menschen anerkannt wurde. Übrigens gilt das nicht nur bei uns in Mittel­europa, sondern in allen Kulturen. Aus Japan ist das höfliche Begrüßungs­ritual bekannt, dass einer sich mehrfach tief vor dem anderen verbeugt. Und bei den Tswanas im südlichen Afrika setzt sich der höfliche Gast, wenn er eine Hütte betritt, sogleich ohne Auf­forderung hin und erkennt damit die Über­legen­heit des stehenden Gastgebers an. Zu ganz alten Zeiten waren solche Höflich­keits­formen noch stärker ausgeprägt. Sprachlich machte man sich klein, indem man sich als „Knecht“, „Diener“ oder gar „er­gebenster Diener“ des Gegenübers be­zeichnete. Der Gruß „Servus“ ist davon übrig geblieben: „Servus“ ist lateinisch und heißt „Sklave“ beziehungs­weise „Diener“. In der Antike waren die einfachen Leute ver­pflichtet, sich vor einem König tief zu bücken, ja teilweise sogar ganz flach auf den Boden zu werfen. Diese ultimative Demuts­haltung bezeichnet man mit dem Fachbegriff der „Pros­kynese“.

Zu eben solcher Proskynese lädt der 95. Psalm ein: „Kommt, lasst uns anbeten und knien und nieder­fallen vor dem Herrn!“ Werft euch ehrfuchts­voll zu Boden! Verneigt euch! Beugt anbetend eure Knie! Macht euch klein vor dem Herrn und zeigt damit, dass ihr seine Größe und Hoheit anerkennt! Gott ist der Aller­höchste und hat darum am aller­meisten die Proskynese verdient. Wenn einer den Hut aufhat, dann er. So wurden die Israeliten am Anfang des Tempel­gottes­dienstes auf­gefordert, äußerlich und vor allem auch innerlich sich selbst klein zu machen und dadurch Gott zu erheben: „Kommt herbei! Lasst uns nieder­fallen und anbeten! Lasst uns knien und demütig sein!“ Dieselbe Auf­forderung gilt uns Christen, denn dieser Psalm steht ja auch in unserer Bibel. Und letztlich werden alle Menschen so auf­gefordert, denn sie sind ja alle Geschöpfe dieses einen aller­höchsten Herrn und Gottes. Der Psalm selbst nennt aus­drücklich als Begründung: „Lasst uns nieder­fallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat, denn er ist unser Gott.“ „… der uns gemacht hat“ – da denken wir zuerst an die Erschaffung der Welt und der Menschen. So heißt es auch am Anfang des Psalms: „In seiner Hand sind die Tiefen der Erde, und die Höhen der Berge sind auch sein. Sein ist das Meer, und er hat's gemacht, und seine Hände haben das Trockene bereitet.“ Aber Gottes Hoheit hat noch einen weiteren Grund. Er hat das Volk Israel zu seinem Eigentums­volk erwählt – so wie eine Schafherde ihrem Hirten gehört. Und er hat auch uns in sein Reich hinein­genommen, dass wir nun Kinder des himmlischen Vaters sind. Weil er uns erwählt und erlöst hat, ist er unser König, und wir sind sein Volk. Schon in ältesten Zeiten hat man Könige mit Hirten verglichen. Wenn wir uns alte Pharaonen­bilder genau anschauen, dann können wir fest­stellen, dass die ägyptischen Herrscher Krummstäbe als Zepter in der Hand hielten – Hirtenstäbe also. Israels Könige werden im Alten Testament wiederholt als Hirten des Volkes bezeichnet. Zusätzlich zu Gottes Schöpfer­macht spricht unser Psalm auch aus­drücklich von Gottes Königs­würde: „Er ist unser Gott und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand.“ Der Psalm bringt die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk hier aus­gesprochen kunstvoll zur Sprache; man beachte die beiden gekreuzten Begriffs­paare: „Weide“ gehört zu „Schafe“ und „Volk“ zu „Hand“; „Wir sind das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand.“ Gottes Hoheit äußert sich nicht darin, dass er uns herum­kommandiert und ausnutzt, sondern vielmehr darin, dass er uns versorgt und beschützt. Der Hirte führt seine Schafe auf gute Weide; er sorgt dafür, dass sie sich dort sättigen und dann unbesorgt ausruhen können. Der König leitet sein Volk mit gütiger Hand; diese öffentliche Hand teilt jedem das aus, was er braucht, und erweist sich stark in der Abwehr der Feinde.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, unser Psalmwort leitet uns auch heutzutage an, in rechter Weise als Gottes Volk und Herde zu leben. Diese Anleitung sollten wir ganz bewusst hören und annehmen, denn wir leben in einer Zeit, wo demütige Unter­ordnung kein großes Ansehen genießt; kaum einer zieht noch den Hut vor dem anderen, und wenn sich jemand verbeugt, dann ist das meistens nur eine flüchtige und gedanken­lose Geste. Die hohe Stellung Regierender ruft eher Misstrauen und Opposition hervor als Ehr­erbietung und Unter­ordnung. Hüten wir uns davor, dass solche Haltung auf unser Gottes­verhältnis abfärbt! Gott hat uns lieb und ist uns in Christus ganz nahe gekommen; dennoch ist er nicht der Kumpel, dem man auf Augenhöhe begegnet. So gilt auch heute und auch uns Christen im Blick auf den himmlischen Vater und auf den guten Hirten Jesus Christus die Auf­forderung: „Kommt, lasst uns anbeten und knien und nieder­fallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat.“ Ja, so soll unsere innere Haltung dem Herrn gegenüber aussehen. Er hat uns geschaffen, er hat uns erlöst, er versorgt uns, er beschützt uns, er schenkt uns die ewige Seligkeit. Aus seiner Hand empfangen wir nur Gutes, auch wenn wir das nicht immer merken. Auf seiner Weide haben wir es immer gut, besonders auf der geistlichen Weide seines Wortes und des Heiligen Abendmahls. Es ist durchaus passend, den berühmten 23. Psalm so zu deuten: „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zum frischen Wasser… Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde… Du schenkst mir voll ein.“ Kein Mensch kann uns das geben, was Gott uns gibt – kein Politiker, kein reicher Verwandter, kein Arzt, kein Wissen­schaftler, und auch wir selbst nicht. So können wir nichts Besseres tun, als uns demütig unter Gottes Hand zu beugen und seiner Hilfe zu vertrauen.

Das soll, wie gesagt, unsere innere Haltung sein, mit der wir Tag für Tag durchs Leben gehen. Aber es ist gut, wenn diese innere Haltung wenigstens ab und zu auch in unserem äußeren Verhalten Ausdruck findet. Das geschieht unter anderem im Gottes­dienst – damals im alten Israel beim Jerusalemer Tempel, heute Sonntag für Sonntag in unserer Kirche. Es beginnt bereits damit, dass Männer vor Gott den Hut abnehmen, wenn sie eine Kirche betreten. In der Kirchenbank angekommen, wird mit gesenktem Kopf ein stilles Gebet gesprochen. Die traditio­nelle Gottes­dienst­ordnung, die wir hier pflegen, setzt ganz viel von dem um, was unser Psalmwort sagt. Die Auf­forderung „Kommt!“ bedeutet eigentlich „Kommt herzu“ oder „Tretet ein“. Man sang diesen Psalm früher beim Betreten des Tempel­vorhofs zu Beginn des Gottes­dienstes. Diese Tradition hat die Christen­heit von Israel übernommen: Auch wir singen Psalmworte, wenn wir mit dem Gottes­dienst beginnen. „Introitus“ heißt übersetzt „Eintritt“; wir nennen unsern Eingangs­psalm so. Übrigens werden wir genau dieses Wort aus dem 95. Psalm, das wir hier bedenken, in drei Wochen als Introitus singen; es ist dem Sonntag Rogate zugeordnet. Auf den Introitus folgt dann immer das Kyrie. So haben die Griechisch sprechenden Menschen der Antike ihren Herrschern gehuldigt; sie haben sich vor ihnen gebeugt und demütig ihre Hilfe erbeten: „Kyrie eleison!“ – „Kyrios, Herr, erbarme dich!“ Damit brachten sie zum Ausdruck, dass sie auf Schutz und Hilfe dieser Herren angewiesen waren und ihnen die ent­sprechende Macht auch zutrauten. Die Hebräisch sprechenden Menschen der Antike haben dasselbe ausgedrückt mit dem Wort „Hosianna“: „Hilf doch!“ Nun verstehen wir, warum die Christen­heit die Rufe „Kyrie eleison!“ und „Hosianna!“ in den Gottes­dienst übernommen und auf ihren Herrn bezogen hat: „Herr, erbarme dich! Christe, erbarme dich! Herr, erbarme dich!“

„Kommt, lasst uns anbeten und knieen und nieder­fallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat.“ Wo es räumlich und gesundheit­lich möglich ist, gehen wir ja dann auch tatsächlich in die Knie, wenn uns der Herr im Gottes­dienst besonders nahe kommt und reich beschenkt: bei der Sünden­vergebung in der Beichte und beim Empfang des Heiligen Abendmahls. Auch wenn das heute viele befremdet, wollen wir doch, wenn möglich, an dieser Tradition festhalten. Denn das ist auch eine Art von Bekenntnis – eine Art zu zeigen, wie wichtig uns unser Hirte und König ist. „Kommt, lasst uns anbeten und knien und nieder­fallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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