Der Spott-König

Predigt über Matthäus 27,27‑31 zum Karfreitag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es ist zwar schon siebzig Jahre her, dennoch haben es diejenigen, die es miterleben mussten, nicht vergessen: die Spur der Gewalt, die sowjetische Soldaten auf ihrem Vormarsch von Osten nach Westen hinter­lassen haben. Sie haben geplündert, ver­gewaltigt und gemordet. Ebensowenig werden diejenigen Polen und Russen, die es miterleben mussten, vergessen, was deutsche Wehrmachts­soldaten wenige Jahre zuvor auf ihrem Vormarsch von Westen nach Osten angerichtet haben: Es war kein bisschen weniger schlimm. Ähnliches ist auch von Soldaten anderer Nationen über­liefert, wobei es keinen Unterschied machte, ob sie einem faschis­tischen Regime dienten oder einem anderen. Und wie damals in den Heeren das Recht des Stärkeren und will­kürliche Grausamkeit verbreitet waren, so ist es noch heute in vielen Krisen­gebieten der Welt. Egal ob wir zum Nahen Osten blicken oder nach Afrika: Überall, wo Unruhen herrschen, handeln Soldaten er­schreckend roh und grausam. Auch an wehrlosen Gefangenen und an der Zivil­bevölkerung lassen sie ihre Wut aus und demütigen sie. Sogar von Angehörigen der US-Streit­kräfte und Soldaten anderer Rechts­staaten wird hin und wieder bekannt, dass sie Kriegs­gefangene auf scheußliche Weise quälen, ihren Spott mit ihnen treiben und das Ganze dann sogar noch foto­grafieren. Es scheint so, als ob Soldaten unabhängig von Nationali­tät und Zeit eine Neigung dazu haben, Unterlegene und Schwache zu demütigen, zu quälen und zu verspotten. Es scheint so, als ob das Tötungs­handwerk zur Rohheit führt und das Gewissen abstumpft. Jedenfalls sind Soldaten zu allen Zeiten versucht, sich nicht einfach auf die Ver­teidigung der Landes­grenzen und den Schutz der an­befohlenen Schwachen zu be­schränken, sondern ihre Agressionen am tat­sächlichen oder ver­meintlichen Feind ab­zureagie­ren. Sie töten ja nicht nur bewaffnete Angreifer und stehlen nicht nur Nahrungs­mittel gegen ihren Hunger, sondern sie fügen anderen ohne ersicht­lichen Grund Leid zu, nur zu ihrem Vergnügen. Damit kommt etwas zum hemmungs­losen Ausbruch, was der zivile Mensch in Friedens­zeiten normaler­weise zu bezähmen weiß: der innere böse Trieb, den wir in der christ­lichen Lehre „Erbsünde“ nennen. Wie oft wurde schon versucht, durch ent­sprechende Ge­sellschafts­strukturen und Erziehungs­maßnahmen diesen bösen Trieb aus­zurotten, aber er bricht immer wieder durch. Vielleicht hast du ihn ja auch schon in dir selbst entdeckt.

Wenn wir uns das klar machen, verstehen wir besser, was die römischen Soldaten des Pontius Pilatus mit Jesus anstellten. Pontius Pilatus hatte nach längerer Verhandlung das Todesurteil des Hohen Rats bestätigt. Nun warteten die Soldaten mit dem Ver­urteilten Jesus von Nazareth auf den Abmarsch­befehl nach Golgatha. Die Wach­mannschaft befand sich zu diesem Zeitpunkt im Innenhof des sogenannten Prätoriums, wo Pilatus residierte. Den Soldaten war langweilig, und so erfanden sie ein grausames Spiel zu ihrem Zeit­vertreib. Sie hatten gehört, dass ihr Gefangener „König der Juden“ genannt wurde. So kamen sie auf die Idee, eine „Audienz“ beim Judenkönig szenisch dar­zustellen mit spöttischer Huldigung. Da brauchten sie zunächst mal einen „Hofstaat“, der zugleich als Publikum für diese demütigende Szene diente. Sie trommelten alle verfügbaren Soldaten des Prätoriums zusammen, auch die, die gerade dienstfrei hatten, und ver­sammelten sie im Hof um Jesus herum. Da rief einer: Der König braucht eine Königs­mantel! Unter schallendem Gelächter riss man Jesus die Kleider vom Leib und legte ihm einen alten Soldaten­mantel um wie ein königliche Robe. Ein anderer rief: Eine Krone braucht er auch! Ein Soldat brach mit spitzen Fingern ein paar Dornen­zweige von dem Gestrüpp ab, das am Rande des Hofes wuchs, und flocht einen Kranz daraus. Diese Dornenkrone drückte er dann unter großem Gejohle dem Judenkönig auf den Kopf. Ein dritter rief: Jetzt noch ein Zepter! Natürlich wussten die Soldaten, dass alle Machthaber ihrer Zeit stets einen prächtigen Stab in der Hand hielten als Zeichen der Macht. Sie nahmen einen Schlag­stock, mit dem sie renitente Gefangene zu verprügeln pflegten, und gaben ihn Jesus als Zepter in die Hand. Jetzt war die Verkleidung voll­ständig: Jesus von Nazareth, zum Spaß als Judenkönig verkleidet, ein Spottbild, eine Karikatur. Das grausame Spiel der Audienz konnte beginnen. In langer Prozession bewegten sie sich auf Jesus zu, so wie sie es von ihrem Dienstherrn Pontius Pilatus und von anderen hohen Machthabern kannten. Wer direkt vor Jesus war, kniete nieder und beugte tief seinen Kopf. Dann rief er, wenn er es vor Lachen noch konnte: Ave, rex Iudaeorum! Gegrüßt seist du, Judenkönig! Danach sprang er auf, stellte sich ganz dicht vor den Judenkönig hin und spuckte ihm ins Gesicht. Die anderen jubelten und kriegten sich kaum ein vor Spaß. Einer der Huldiger riss Jesus sein „Zepter“ aus der Hand und benutzte es wieder für seinen ur­sprüng­lichen Zweck: Er hieb Jesus auf den Kopf, sodass die Dornen der „Krone“ sich tief in die Kopfhaut bohrten. Aus dem „Zepter“, dem Spott-Symbol der Macht, wurde im Handumdrehen wieder ein Schlag­stock, ein Werkzeug der Ohnmacht. Die pure Lust daran, ein wehrloses Opfer zu miss­handeln, mischte sich hier mit dem unbewussten Bedürfnis, ungestraft einmal einem König auf den Kopf schlagen zu können. Dann kam der Befehl zum Aufbruch. Schnell entfernte man die Ver­kleidung, lud dem Ver­urteiteln den Kreuzes­balken auf die Schulter und trieb ihn zum Prätorium hinaus in Richtung Hin­richtungs­stätte.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, lasst uns den als Judenkönig ver­kleideten und miss­handelten Gefangenen Jesus von Nazareth einmal genau anschauen! Wir sehen da nämlich wie in einem Spiegelbild unsere eigene Sünde. Das böse Verhalten der römischen Soldaten spiegelt unsere eigene Bosheit. Wie leicht miss­brauchen wir Macht­positionen, wenn wir sie innehaben – als Eltern über Kinder, als Vorgesetzte über Unter­gebene, als Klügere über Dümmere, als Reichere über Ärmere. Wie schnell ist es geschehen, dass wir unsere Wut und unsere angestauten Aggressio­nen an jemandem auslassen, der eigentlich gar nichts dafür kann. Wie gern lassen wir uns unterhalten mit Schau­spielen von Spott und Gewalt, die in unseren Fernseh­programmen an der Tages­ordnung sind. All das hängt mit der Erbsünde zusammen, die un­ausrott­bar auch bei uns im Herzen verwurzelt ist. Aber die Sünde zeigt sich in diesem Spiegelbild auch noch anders. Die römischen Soldaten wussten, dass Jesus von Nazareth ein Gefangener ist, aber sie taten so, als ob er ein König ist, und ver­spotteten ihn damit. Wir wissen, dass Jesus ein König ist (sogar der oberste aller Könige), aber wir tun oft so, als ob er nur eine nebulöse Religions­figur ist, eine Rand­erscheinung in unserem Leben. Als König und Gottessohn hat er ja wirklich einen Anspruch darauf, dass wir vor ihm in die Knie gehen und den Kopf beugen (wenigstens innerlich) und dass wir ihm huldigen, am besten täglich: Gelobt seist du, Jesus Christus, Dank sei dir in Ewigkeit! Es gebührt ihm wirklich, dass wir in großen Scharen zu seiner Audienz kommen, nämlich in den Gottes­dienst. Jeder Gottes­dienst ist nichts anderes als ein Fest, zu dem der König selbst uns eingeladen hat. Aber wir versagen ihm oftmals diese Huldigung und bleiben fern – weil wir zu bequem sind oder weil wir meinen, anderes sei wichtiger. Ja, auch diese Sünde zeigt uns der dornen­gekrönte König wie in einem Spiegel.

Aber er zeigt uns nicht nur unsere Sünde, sondern er zeigt uns zugleich etwas sehr Schönes: Er zeigt uns, dass er gekommen ist, um die Sünde zu besiegen. Nur deswegen ließ sich der als Judenkönig verkleidete Gefangene alles gefallen. Die römischen Soldaten dachten, sie hätten es mit einem als König ver­kleideten Gefangenen zu tun, aber in Wahrheit hatten sie es mit einem als Gefangenen ver­kleideten König zu tun. Sein Weg zur Hin­richtungs­stätte ist ein Wahrheit ein Siegeszug. Sein erbärm­liches Spott-Königtum ist in Wahrheit die höchste Königsmacht und Königs­würde, die es gibt. Seine Ohnmacht ist in Wahrheit Macht. Seine Gefangen­schaft ist in Wahrheit Freiheit, nur dass Jesus sich in dieser göttlichen Freiheit zum Sklaven aller Menschen machte, aus Liebe zu uns. Seine Erhöhung am Kreuz ist in Wahrheit eine Erhöhung zum Erlöser aller Menschen, zum Herrn aller Herren. Sein Kreuz ist in Wahrheit sein Königs­thron, seine Dornenkrone ist in Wahrheit eine Ehrenkrone. Wer Gott in seiner ganzen Macht und Liebe erkennen will, der muss ihn hier suchen, am Kreuz. Hier ist der Sieg über Sünde, Tod und Hölle; hier ist der Schlüssel zum ewigen Leben. Und so betreten wir mit dem Karfreitag, mit dem Leiden und Sterben Jesu, den Weg, der in die Osterfreude mündet und in den Osterjubel: Der Herr ist auf­erstanden! Der Herr, der wirklich das ist, als was man ihn fälschlich ver­spottete: der König der Juden und der König aller Menschen, auch mein König und auch deiner. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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