Heilige Gelassenheit

Predigt über Phil. 1,18‑19 zum Sonntag Lätare

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein Mensch sitzt unschuldig im Gefängnis. Er hat viel Zeit zum Nachdenken. Er macht eine Bestands­aufnahme über seine Situation. Bisher übte er eine Tätigkeit aus, die er sehr wichtig fand; nun sind ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden. Außerdem hat er erfahren, dass jetzt andere seine Arbeit tut. Er hört, dass sie es ganz anders machen als er. Er hört, dass sie diese Arbeit nicht wirklich ernst nehmen, sondern dass es ihnen vor allem auf den eigenen Vorteil ankommt. Der Mensch denkt darüber nach, wie es weitergehen kann. Sein Gerichts­prozess liegt noch vor ihm. Die Aussichten sind nicht gut. Es kann passieren, dass sogar ein Todesurteil gefällt wird. Wir könnten nun annehmen, dass dieser Mensch nieder­geschlagen ist, vielleicht sogar ver­zweifelt. Das ist er aber nicht. Er sagt vielmehr: „Ich freue mich und werde mich auch weiterhin freuen.“

Dieser Mensch heißt Paulus, und seine Lage beschreibt die Situation, in der er sich befunden hat, als er den Philipperbrief zu Papyrus brachte. Er schreibt den Christen in Philippi: „Was tut's aber?“ Oder eigentlich ganz kurz auf Griechisch: „Ti gar?“, ent­sprechend dem Englischen „So what?“ oder dem Deutschen „Was solls?“. „Was tut's aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber.“ Auch seine trüben Zukunfts­aussichten deprimieren ihn keineswegs, denn er fährt fort: „Ich werde mich auch weiterhin freuen; denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird.“ „Es wird mir zum Heil ausgehen“ – diesen Satz zitiert er vom leid­geprüften Hiob, jenem legendären Leidenden aus dem Alten Testament, der auf einen Schlag Besitz, Kinder und Gesundheit verloren hatte. Hiob nahm sein Leiden damals gottergeben an und sagte die berühmten Worte: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ (Hiob 1,21). Und in Erwartung des baldigen Todes sagte Hiob später den Satz, den Paulus zitiert: „Auch das muss mir zum Heil sein“ (Hiob 13,16). Paulus rechnet ebenfalls mit dem baldigen Tod und schreibt deshalb wenig später gott­ergeben: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“ Da haben wir die Quelle seiner getrosten Gelassen­heit: Jesus Christus und dessen frohe Botschaft, die allen Glaubenden Heil und ewiges Leben verspricht. Das ist die Hauptsache – nicht Freiheit oder Gesundheit oder irdisches Leben. Und dieses Evangelium muss überall verkündigt werden – egal wie, egal durch wen, egal aus welchen Motiven. Wenn Paulus dann doch mal schwach wird, wenn An­fechtungen kommen und Angst sich einstellt, dann weiß er sich getragen von anderen, von den Gebeten der Philipper und vor allem vom Beistand des Trösters, des Heiligen Geistes, der immer bei ihm ist. Er schreibt: „Ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi.“ Was tut's aber? Was soll's? So what? Ti gar? Das ist die reife Glaubens­einsicht des Apostels Paulus; das ist wahrhaft heilige Gelassen­heit.

Ein Mensch sitzt im Gefängnis seiner Krankheit. Es handelt sich nicht um eine Krankheit wie Schnupfen oder Zahnweh, es handelt sich um eine wirklich ernste Erkrankung. Der Mensch hat viel Zeit zum Nachdenken. Er macht eine Bestands­aufnahme über seine Situation. Die Krankheit schränkt ihn stark ein; er kann nicht mehr das tun, was er bisher getan hat. Ob das so bleibt oder ob es wieder besser wird? Der Mensch hat Angst, dass diese Krankheit bereits sein Todesurteil bedeutet. Wie gut, wenn er in dieser Situation die frohe Botschaft von Jesus Christus kennt und darauf vertraut – trotz aller Schmerzen, Sorge und Angst. Wie gut, wenn der Mensch in derselben Glaubens­einsicht reift wie der Apostel Paulus damals und wenn er mit wahrhaft heiliger Gelassen­heit sagen lernt: Was tut's aber? Was solls? So what? Ti gar? Ich freue mich und werde mich auch weiterhin freuen, denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird.

Ein Volk sitzt im Gefängnis seiner Probleme. Äußerlich geht es ihm noch gut, aber die Anzeichen des Niedergangs mehren sich. Die allgemeine Solidarität nimmt ab, der Egoismus nimmt zu. Die Politiker stehen nicht mehr in dem Ansehen, weitsichtig und un­eigen­nützig auf das Wohl aller Be­völkerungs­gruppen hin­zuarbeiten. Neben wirtschaft­lichen Problemen und einer Bildungs­misere ist vor allem ein Werte­verfall zu beklagen. Ehe und Familie und das Leben ungeborener Menschen werden nicht mehr mit der nötigen Sorgfalt geschützt. Das Schlimmste ist aber, dass die Hauptsache immer mehr in Vergessen­heit gerät: das Evangelium, die frohe Botschaft von Jesus Christus. So kommt es, dass den aller­meisten die reife Einsicht fehlt, mit den Problemen richtig umzugehen. Es fehlt weitgehend die Bereit­schaft, auf Gottes Wort zu hören und darin zu erkennen, was einem Volk wirklich zum Heil dient. Es fehlt die heilige Gelassen­heit. Es wird eher geklagt und geschimpft, als dass man angesichts der äußeren Probleme sagt: Was tut's aber? Was solls? So what? Ti gar? Wir freuen uns trotzdem und wollen uns auch weiterhin freuen, weil wir auf den vertrauen, der jede Krise zum Heil ausgehen lassen kann.

Eine Kirche sitzt im Gefängnis ihrer Kleinheit und Schwach­heit. Sie schrumpft; einer hohen Zahl von Todesfällen und Austritten steht nur eine niedrige Zahl von Taufen und Beitritten gegenüber. Die ernsthaft Gläubigen unter den Mitgliedern sind verzagt, weil es in den eigenen Reihen viel Lauheit, Gleich­gültig­keit und Abfall gibt. Auch die Finanzkraft der Kirche nimmt ab. Immer weniger Pastoren müssen die vorhandenen Gemeinden versorgen und dabei immer weitere Ent­fernungen zurück­legen. Die schönen und teilweise alt­ehrwürdi­gen Kirch­gebäude, die die Vorfahren unter großen Opfern bauten und dann mit Stolz einweihten, werden sanierungs­bedürftig, aber nur schwer sind die Mittel für ihre Instand­setzung und ihren Unterhalt auf­zubringen. Auch machen sich Unsicher­heit und Zweifel breit: Ist unser Weg als konsequente Bekenntnis­kirche im Zeitalter der Ökumene überhaupt noch gerecht­fertigt? Ist unsere Art, Gottes­dienste zu feiern, angemessen und dem heutigen Menschen wirklich dienlich? Ist das Zeugnis der Bibel tatsächlich so eindeutig klar, dass wir damit vollmächtig lehren und verlässlich glauben können? Und wie gehen wir mit der Tatsache um, dass in manchen Fragen die große Mehrheit der Menschen und auch der Christen um uns herum anders denkt, als wir bisher gedacht haben? Wir können um Antworten ringen, aber Patent­lösungen werden wir nicht finden. Wichtig ist, dass wir uns wie Paulus immer wieder auf die Hauptsache besinnen: „Wenn nur Christus verkündigt wird…“ Letztlich kommt es nur auf das Evangelium an, auf die frohe Botschaft von unserem Herrn, der für unsere Sünden am Kreuz gestorben und am dritten Tag wieder auf­erstanden ist von den Toten. Ja, er hat dem Tod die Macht genommen. Darum sollten uns nicht die Sterbefälle bekümmern; die ver­storbenen Gläubigen sind ja in Christus geborgen; sie bleiben im Heil; sie dürfen schauen, was sie geglaubt haben. Bekümmern sollten uns eher die vielen Nicht­christen in unserem Umfeld, die „geistlich Toten“, wie die Bibel sie nennt; auf sie sollte sich unsere Auf­merksam­keit mehr richten; wir sollten sie einfach einladen und ihnen das Evangelium ver­kündigen, ganz egal, wie gut oder schlecht uns das gelingt. „Wenn nur Christus verkündigt wird…“ Und selbst wenn Gottes­dienst­orte aufgelöst werden und ganze Gemeinden sterben, stirbt damit doch nicht das Evangelium. So kann auch angesichts kirchlicher Nöte die Einsicht reifen: Es kommt nicht auf Gebäude an und auch nicht auf Strukturen, letztlich auch nicht darauf, dass unsere Gemeinde und Kirche in ihrem jetzigen Zustand erhalten bleibt, es kommt allein darauf an, dass wir an Jesus Christus festhalten und an seinem Evangelium. Wenn wir daran festhalten und uns darauf immer wieder neu besinnen, dann kriegen wir unter all unseren Problemen eine heilige Gelassen­heit und können dazu wie Paulus sagen: Was tut's aber? Was solls? So what? Ti gar? Wir freuen uns trotzdem und wollen uns auch weiterhin freuen, weil wir auf den vertrauen, der der Herr der Kirche ist.

Mitten in der Passions­zeit haben wir einen Sonnen­fleck, einen Freuden­tupfer: den Sonntag Lätare. „Lätare“ ist der Vorspruch zum heutigen Introitus-Psalm auf Lateinisch, und auf Deutsch geht er so: „Freuet euch mit dem Volke Gottes und seid fröhlich alle, die ihr es lieb habt, denn ihr sollt satt werden von den Brunnes seines Trostes und euch erfreuen an der Fülle seiner Herrlich­keit“ (Jes. 66,10‑11). Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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