Gnade und Wahrheit für alle Völker

Predigt über Psalm 117 zum Epiphaniasfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

An der Grenze werden drei verdächtige Männer fest­gehalten. Sie reisen mit irakischen Pässen, und wie Iraker sehen sie auch aus. Sie sagen, dass sie nur jemanden besuchen wollen, aber eine Besuchs­adresse können sie nicht angeben. Ob es Terroristen sind? Oder Spione? Oder Leute, die den ein­heimischen Bürgern Arbeits­plätze wegnehmen wollen? Man durchsucht die drei Iraker und findet zwei merkwürdige Substanzen bei ihnen. Untersuchungen ergeben, dass es sich um größere Mengen Olibanum und Commiphora Myrrha handelt. Außerdem führen sie mehrere Goldbarren mit sich. Ob es Drogen­kuriere sind? Oder Schmuggler? Oder Steuer­hinter­zieher? Schließlich findet man noch eso­terisches Schrifttum vor, offenbar irgend­welche Horoskope oder astro­logische Berech­nungen. Sind es vielleicht Missionare einer illegalen Sekte, oder Geheim­bündler, oder einfach nur Spinner?

Ja, so könnte es den Weisen aus dem Morgenland ergangen sein, wenn sie zweitausend Jahre später auf­gebrochen und statt nach Israel nach Deutschland gezogen wären. Aller Globali­sierung zum Trotz ist man ja Ausländern gegenüber auch heute noch sehr miss­trauisch. Übrigens ist dieses Misstrauen Fremden gegenüber eine Eigen­schaft, die sich zeitlos durch alle Völker hindurch­zieht. Auch damals in Israel war König Herodes nur zum Schein liebens­würdig zu den Weisen gewesen; in Wirklich­keit wollte er sie dazu benutzen, um seine eigene Macht zu festigen. Und auch was das Volk Israel insgesamt angeht, hat es sich stets eindeutig gegen andere Völker abgegrenzt – von der Zeit des Alten Testaments an bis hin zum gegen­wärtigen Konflikt mit den Palästi­nensern. Dabei war es niemals Gottes Absicht gewesen, dieses Volk aus nationa­listischen Gründen zu erwählen. Im Gegenteil: Gott hat Israel deshalb zu seinem Eigentums­volk gemacht, um dadurch sein Heil zu allen Völkern der Erde zu bringen. Und Gott hat sein Volk dies auch schon von Anfang an wissen lassen. Wir brauchen nur in das göttlich inspirierte Gesangbuch des Volkes Israel zu schauen, in das biblische Buch der Psalmen. Da finden wir im 117. Psalm klar ausgesagt: „Lobet den Herrn, alle Heiden! Preiset ihn, alle Völker!“ Gottes Heil und der Menschen Lob sollten schon damals nicht nationa­listisch auf Israel oder irgendein anderes Volk beschränkt sein, sondern sich über die gesamte Völkerwelt erstrecken.

Vor ein paar Jahren fand einmal eine christliche Kinder­freizeit zum Thema Psalmen statt. Jedes Kind, das einen Psalm der Bibel vollständig auswendig aufsagen konnte, bekam einen Preis. Die meisten Kinder lernten diesen 117. Psalm. Der Grund ist offen­sichtlich: Er ist der kürzeste Psalm. Es handelt sich sogar um das kürzeste Kapitel in der ganzen Bibel. Der 117. Psalm umfasst nur zwei Verse und besteht aus diesen vier Sätzen: „Lobet den Herrn, alle Heiden! Preiset ihn, alle Völker! Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit. Halleluja.“ Trotzdem ist der 117. Psalm ein voll­ständiger Psalm. Wir können das an einem Merkmal erkennen, das viele andere Psalmen auch haben: Der Anfang und der Schluss bilden einen inhalt­lichen Rahmen. Hier ist es der Lobpreis, der die Mitte einrahmt: Am Anfang werden alle Völker zum Gotteslob auf­gefordert, und am Ende heißt es zusammen­fassend: „Halleluja!“; auf deutsch: „Lasst uns den Herrn preisen!“ Eingebettet in diesen Lobpreis-Rahmen steht als Mitte der Grund für das Gotteslob, zusammen­gefasst in einen einzigen Satz: „Seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit.“ Wohl­bemerkt: Über uns alle – nicht nur über Israel und nicht nur über bestimmte Teile der Menschheit, sondern über alle Völker. Was das bedeutet, können wir am Epiphanias-Evangelium ablesen, also an der Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland, dem heutigen Irak.

Gott führte drei Morgen­länder zur Krippe nach Bethlehem. Sie beteten dort den neu geborenen König an, den Gottessohn Jesus Christus. Und sie brachten ihm drei wertvolle Geschenke mit: Gold, Weihrauch (auch Olibanum genannt) und Myrrhe, das kostbare Harz des Baums Commiphora Myrrha. Aber viel wertvoller als diese Gaben waren die drei Geschenke, die ihnen das Jesuskind seinerseits machte: Gnade, Wahrheit und Ewigkeit – eben die drei Gottes­gaben, die unser Psalm mit Gotteslob einrahmt: „Seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit.“ Es sind, wie gesagt, Gottes Gaben nicht nur für die Morgen­länder und nicht nur für das Volk Israel, sondern auch für uns Abend­länder. Es handelt sich um die große Freude, „die allem Volk widerfährt“ (Lukas 2,10). Allen Menschen der Erde will Gott diese drei Dinge schenken, und alle können sie beim Christkind finden: Gnade, Wahrheit und Ewigkeit.

Da ist zuerst Gottes Gnade. Wir können auch Güte oder Barm­herzig­keit sagen. Gott meint es gut mit allen Menschen. Gott hat alle lieb – alle ohne Ausnahme. Das fällt vielen schwer zu glauben. Viele können sich angesichts von soviel Leid und Elend in der Welt nicht vorstellen, dass Gott gnädig ist. Darum hat Gott seiner Gnade ein mensch­liches Gesicht gegeben – ein friedlich lächelndes Baby­gesicht. Gott zeigt sich den Menschen ganz anders, als sie sich ihn bisher vor­stellten: Er kommt als Kind armer Leute zur Welt. Wenn Gott sich so tief zu uns herabneigt, wenn er uns so freundlich und kindlich anlächelt – wie sollte er uns da nicht gnädig sein? Lassen wir uns nur durch Gottes Wort zu diesem Kind in der Krippe führen, so wie sich die Weisen durch den Stern dorthin haben führen lassen! Schauen wir auf dieses Kind und auf den Mann, der aus ihm wurde; lassen wir uns nicht von äußeren Einflüssen davon abbringen! Beten wir dieses Kind als unsern Herrn und König an, wie die Weisen es gemacht haben! Dann werden wir merken, wie Gottes Gnade über uns waltet – über uns und über allen Menschen.

Aber wir finden mit diesem Kind auch Gottes Wahrheit. Dabei müssen wir freilich beachten, dass Gottes Wahrheit ein bisschen anders zu verstehen ist als der Menschen Wahrheit. Bei den Menschen geht es lediglich darum, was Wirklichkeit ist und den Tatsachen entspricht. Bei Gott bedeutet Wahrheit mehr. Unsere Kirche hat auf der letzten Synode eine offizielle Stellung­nahme zur biblischen Hermeneutik ver­abschiedet, also zu der Art und Weise, wie wir die Bibel verstehen. Darin steht zum Thema Wahrheit: „Bei der Wahrheit der Heiligen Schrift geht es letztlich immer um unsere Beziehung zu dem, der die Wahrheit in Person ist.“ Damit ist Jesus gemeint. Er selbst hat ja von sich gesagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6). Die Weisen haben diese Wahrheit in Person gefunden, und alle Menschen können sie in Jesus Christus finden. Die volle Wahrheit erschließt sich allerdings erst dem, der dem neu­geborenen König von Bethlehem nach Golgatha folgt. Gottes Gnade erscheint nämlich nicht nur im lächelnden Baby­gesicht, sondern auch im schmerz­verzerrten Gesicht des sterbenden Mannes am Kreuz. Hier findet sich letztlich auch die Wahrheit über uns selbst – über unsere Schuld und über unser Versagen nämlich. Gott zeigt uns damit: Meine vergebende Gnade kann es nicht zum Nulltarif geben, denn eure Sünde wiegt zu schwer, als dass die gerechte Strafe ausbleiben dürfte. Aber den hohen Preis für die Vergebung hat Gott selbst durch seinen Sohn bezahlt. Wer das ausblendet und meint, man könne Gottes Liebe auch ohne Sünden­bekenntnis und ohne Buße finden, der macht sich etwas vor und lebt nicht in Gottes Wahrheit.

Drittens finden wir mit dem Kind in der Krippe Gottes Ewigkeit. Es heißt ja: „Seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit.“ Wenn die Weisen aus dem Morgenland die Geschenke behalten haben, die das Christkind ihnen gab, dann leben sie in Ewigkeit. Und dann werden wir sie einmal im Himmel treffen. Da können sie uns dann ganz genau erzählen, wie es damals gewesen war bei ihrem Besuch in Bethlehem. Wir werden sie dann verstehen, auch wenn wir kein Akkadisch sprechen und kein Aramäisch. Denn in Gottes Ewigkeit werden sich alle Völker bestens verstehen. Nicht nur alle Sprach­barrieren werden da vergessen sein, sondern auch alles andere, was Menschen ver­schiedener Herkunft hier auf Erden noch voneinander trennt oder entfremdet: Vorurteile, Ängste, Neid oder was auch immer es sein mag. In der Ewigkeit werden Gottes Gnade und Wahrheit über alle mensch­lichen Un­zulänglich­keiten trium­phieren. Denn „seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit.“

Ja, liebe Brüder und Schwestern in Christus, so ist Gott: Er hat die Menschen aller Völker gleich lieb, und er will ihnen allen seine Gnade und Wahrheit schenken durch Jesus Christus, seinen Sohn. Am Beispiel der Weisen aus dem Morgenland hat er das deutlich gezeigt. Wenn wir uns das klar machen, dann sollte es bei uns eigentlich keinen nationalen Egoismus mehr geben und keine Vorbehalte mehr gegenüber Ausländern allein aus dem Grund, weil sie Fremde sind. Gottes Gnade gilt allen Völkern – warum sollten wir dann unsere Symphathie auf bestimmte Menschen­gruppen be­schränken? Denken wir doch einfach daran, wie die große Völker­gemeinschaft aller Christus-Anbeter im Himmel einst gemeinsam loben wird (und sie wird dann dafür keine Gesang­bücher mehr nötig haben!): „Lobet den Herrn, alle Heiden! Preiset ihn, alle Völker! Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit. Halleluja.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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