Wir gehören dazu

Predigt über Galater 3,29 zum Neujahrstag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Brit Mila heißt die Zeremonie, mit der jüdische Jungen am achten Tag ihres Lebens beschnitten werden. Noch heute machen es die meisten jüdischen Eltern mit ihren Knaben so, wie auch Josef und Maria es mit Jesus machten: Sie lassen ein Stück von der Vorhaut des Säuglings entfernen und geben dabei offiziell den Namen des Kindes bekannt.

Im vergangenen Jahr ist eine öffentliche Diskussion um die Be­schneidung Minder­jähriger entbrannt. Auslöser war das Urteil eines deutschen Gerichts, das die Be­schneidung als strafbare Körper­verletzung bezeichnet hat; dabei wurde das Grundrecht des Kindes auf körperliche Un­versehrt­heit betont. Viele haben dieses Urteil kritisiert und gesagt, es sei ein Eingriff in die Religions­freiheit und in das Erziehungs­recht der Eltern. Inzwischen hat sich der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit dafür aus­gesprochen, Be­schneidun­gen an Minder­jährigen unter bestimmten Voraus­setzungen weiterhin zu tolerieren. Eine endgültige Klärung der Frage steht noch aus.

Die Diskussion deckt ein tiefer liegendes Problem unserer heutigen Gesell­schaft auf. Es stellt sich nämlich die Frage: Wer darf letztlich über ein Kind bestimmen? Früher war die Antwort klar: Natürlich die Eltern! Wenn sie Juden waren, dann ließen sie es be­schneiden, und wenn sie Christen waren, dann ließen sie es taufen. Sie entscheiden ja auch sonst alles mögliche für ihre unmündigen Kinder: den Namen, die Nahrung, die Kleidung, den Zahnarzt­besuch, die Schule und die Erziehungs­methoden. Nur wenn Eltern ganz offen­sichtlich versagten und grobe Fehler machten, hat der Staat bisher ein­gegriffen. Weil wir heute in einer multi­kulturellen Gesell­schaft leben, gibt es allerdings enorme Unter­schiede zwischen den ver­schiedenen Familien. Nicht nur, dass einige Kinder beschnitten sind und andere getauft und wieder andere nichts von beidem; nein, große Unter­schiede zeigen sich zum Beispiel auch bei der früh­kindlichen Erziehung. Da will die Gesell­schaft nun stärker eingreifen und für Gerechtig­keit sorgen. Man hat manchmal den Eindruck, dass deswegen Kinder möglichst jung in Kitas gebracht werden sollen: Die ver­schiedenen Erziehungs­milieus der Familien sollen so ergänzt werden, dass die Kinder gleiche Bildungs­chancen bekommen. Die Gesamt­gesell­schaft macht sich damit eine Aufgabe zu eigen, die traditio­nell ganz Aufgabe der Eltern beziehungs­weise der Familien ist.

Was steckt dahinter? Man sieht heute jeden Menschen und auch schon jedes Kind vorwiegend als Einzelwesen an, das bestimmte Rechte und Pflichten hat. Da ist zwar etwas Wahres dran – und doch ist es letztlich eine trügerische Illusion, die per­sönlichen Selbst­bestimmung jedes Menschen als das Wichtigste anzusehen. Bei Afrikanern gibt es das Sprichwort: „Ein Mensch ist ein Mensch nur durch Menschen.“ Das bedeutet: Ein Mensch entfaltet sich erst innerhalb der gelebten Gemein­schaft mit anderen Menschen zum vollen Menschsein. Auch in der Bibel finden wir diese Erkenntnis wieder: Es ist ganz wichtig, dass ein Mensch zu einer bestimmten Familie und zu einem bestimmten Volk gehört. Niemand wäre vor zweitausend Jahren auf die Idee gekommen, Maria und Josef am achten Tag nach Jesu Geburt zu sagen: Halt, beschneidet euren Sohn nicht; wartet erst einmal ab, bis er alt genug ist, um selbst zu ent­scheiden! Sie waren doch eine jüdische Familie; Jesus gehörte selbst­verständ­lich dazu, und darum tat man das, was alle jüdischen Familien mit ihren achttägigen Jungen taten. Die Be­schneidung war für Jungen das äußere Zeichen der Dazu­gehörigkeit – nicht nur zur Familie, sondern auch zum ganzen Volk. Weil aber das jüdische Volk Gottes besonders Bundesvolk ist, ist die Be­schneidung zugleich das Zeichen der Dazu­gehörigkeit zu Gott und seinem Bund. Als solches hat Gott die Be­schneidung bereits dem Stammvater Abraham geboten und gesagt: „Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr be­schneiden. Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Jedes Knäblein, wenn's acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nach­kommen.“ (1. Mose 17,10‑12)

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, auch heute kann ein Mensch nur als Teil einer Gemein­schaft leben und überleben. Kleine Kinder erleben diese Gemein­schaft am besten zunächst im über­schaubaren Kreis der Familie. Da werden sie mit allem Nötigen versorgt – nicht nur mit dem, was sie leiblich brauchen, sondern vor allem mit liebevoller Zuwendung. Wenn die in den ersten Lebens­jahren fehlt, dann erleiden die Kinder Schäden, die sich im ganzen weiteren Leben auswirken können. Aber auch der Erwachsene braucht Gemein­schaft – in einer Partner­schaft, in einer Familie oder auch in einer Ersatz­familie. Selbst wenn einer ganz zurück­gezogen wie ein Einsiedler lebt, ist er doch auf seine Mitmenschen angewiesen: Er braucht Leute, die für ihn Strom produ­zieren, die Regale im Supermarkt füllen und seinen Müll ab­transpor­tieren. Gott hat den Menschen so geschaffen, und anders kann er nicht leben: Er muss zu einer Gemein­schaft gehören. Die völlige Selbst­bestimmung und Bindungs­losigkeit ist letztlich lebens­feindlich und eine Illusion.

Mit der Be­schneidung hat Gott seinem alt­testament­lichen Eigentums­volk deutlich gemacht, dass auch und vor allem die Bindung an ihn, den Schöpfer, un­verzicht­bar wichtig ist. Wer beschnitten war, der gehörte zu Abrahams Nachkommen­schaft und damit zu Gottes Volk; er war durch die Be­schneidung hinein­genommen in Gottes Ver­heißungen für Abraham. Aus diesen Ver­heißungen ragt eine besonders heraus; der Apostel Paulus hat im Galater­brief an sie erinnert. Gott versprach dem Abraham: „Durch deinen Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden“ (1. Mose 22,18). Paulus strich dabei heraus, dass hier nicht von vielen Nachkommen die Rede ist, sondern nur von einem einzigen. Dieser eine Abrahams­nachkomme ist kein anderer als Jesus. Das zeigt sich unter anderem auch an seiner Be­schneidung: Er ist beschnitten worden, wie Gott es für alle Abrahams­nachkommen verfügt hat; er trug das Zeichen der Dazu­gehörigkeit zu Gottes Volk. Aber er eröffnete darüber hinaus den Zugang zu Gottes Volk für Menschen aus anderen Völkern – so, wie Gott es dem Abraham verheißen hatte: „Durch deinen Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.“ Das ist überhaupt der Sinn und Zweck, warum Gott seinen ein­geborenen Sohn Mensch werden ließ: Er sollte bewirken, dass alle Menschen, die sich von Gott entfremdet hatten, wieder zu ihm gehören können. Diese Versöhnungs­tat hat Jesus am Kreuz vollbracht. Jeder, der daran glaubt, darf wissen: Ich gehöre dazu – zu Gott und zu seinem Volk. Ich bin nun Mitglied seiner Familie. In ihr finde ich alles, was ich zum Leben brauche – sogar zum ewigen Leben. Wir merken: Christsein ist keineswegs etwas Privates, was jeder für sich in seinem stillen Herzens­kämmerlein leben kann, es ist vielmehr etwas Gemein­schaft­liches. Christsein ohne gelebte Gemein­schaft ist zum Sterben verurteilt; ich habe es leider oft erlebt bei Menschen, die sich von der christ­lichen Gemein­schaft entfernt hatten und deren Glaube dann ver­kümmerte. Aber das Ent­scheidende ist natürlich Jesu Erlösung, nicht die leibliche Abstammung oder sonst irgend­welche mensch­lichen Voraus­setzungen. Paulus schrieb: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Wohl­bemerkt: „Ihr seid einer“, steht da, und nicht: „Ihr seid gleich“. Es geht hier nicht um Chancen­gleichheit für persönliche Selbst­bestimmung, sondern es geht hier um die Einheit in der Gemein­schaft von Gottes Familie beziehungs­weise von Gottes Volk; es geht hier um die lebens­wichtige Dazu­gehörig­keit. Und dann folgt der Satz, dem diese Predigt zugrunde liegt: „Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“ Nach der Verheißung nämlich, die Gott dem Abraham gab: „Durch deinen Nachkommen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden.“ Ent­scheidend ist nicht mehr die leiblich Abstammung, ent­scheidend ist die Gemein­schaft mit Jesus.

Wenn das so ist, müssten wir dann nicht auch alle christ­lichen Jungs beschnitten werden? War das nicht das Zeichen der Dazu­gehörig­keit, das Gott dem Abraham geboten hatte? Und hat nicht der Herr selbst dieses Zeichen der Dazu­gehörigkeit getragen? Ja, so ist es; das Zeichen der Dazu­gehörigkeit hat nach wie vor seine Bedeutung, auch für Gottes neuen Bund. Und weil da gilt: „Hier ist nicht Mann noch Frau“, sollen nicht nur die Männer dieses Zeichen tragen, sondern auch die Frauen. Und doch hat sich etwas geändert. Der Apostel Paulus schrieb den Kolossern: „In Christus seid ihr beschnitten worden mit einer Be­schneidung, die nicht mit Händen geschieht, als ihr nämlich euer fleisch­liches Wesen ablegtet in der Be­schneidung durch Christus“ (Kol. 2,11). In Gottes neuem Bund ist die Be­schneidung nichts Chirur­gisches mehr (“chirur­gisch“ bedeutet „mit der Hand durch­geführt“). Die göttliche „Be­schneidung“ durch Christus ist die Taufe; da hat der Heilige Geist uns „be­schnitten“ und so die Zu­gehörig­keit zu Gottes Volk besiegelt. In unserem Kapitel im Galater­brief heißt es aus­drücklich: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ Mit der Taufe haben wir Christus angezogen, den Gottessohn und den be­schnittenen Abrahams­sohn; auf diese Weise haben wir auch Anteil an seiner Be­schneidung und an seiner Abrahams­kindschaft. Die Taufe bezeugt uns, dass wir dazugehören zum Volk der Abrahams­kinder und damit zum lebendigen Gott.

Liebe Brüder und Schwestern, es ist für jeden Menschen lebens­wichtig, zu einer Gemein­schaft zu gehören: zu einer Familie, zu einer Gesell­schaft, zu einem Volk. Am wichtigsten ist es aber, zu Gottes Volk zu gehören, denn nur da finden wir Leben die Fülle und ewige Seligkeit. Jesus hat uns das geschenkt. Durch ihn sind wir nicht nur Abrahams und Gottes Kinder, sondern auch, wie Paulus aus­drücklich sagt, Erben. Ja, wir gehören zu denen, die einst das reiche Erbe der ewigen Seligkeit antreten dürfen. Dem dreieinigen Gott sei dafür Lob und Ehre in Ewigkeit. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2013.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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