Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Nur noch wenige Stunden, dann wird das Jahr 2012 Geschichte sein. Wir können es nicht festhalten. Wir haben hier keine bleibende Stadt. Vor zweieinhalbtausend Jahren meinte der griechische Philosoph Heraklit: Man kann nicht zweimal in demselben Fluss baden. Er mag zwar immer noch Spree oder sonstwie heißen, aber das Wasser ist nicht mehr dasselbe, denn es fließt ja ständig weiter. Diese Erkenntnis hat Heraklit auf die ganze Welt übertragen unter dem Motto: „Alles fließt.“ Ja, wir haben hier keine bleibende Stadt. So ist auch die Stadt Fürstenwalde nicht mehr das Fürstenwalde des Jahres 1883, als diese Kirche hier gebaut wurde. Damals befand sich das Grundstück am Stadtrand, heute liegt es im Zentrum. Auch ähnelt das heutige Fürstenwalde kaum noch dem Nachkriegs-Fürstenwalde, als über die Hälfte aller Gebäude in Schutt und Asche lagen; auch nicht mehr dem DDR-Fürstenwalde, als es nach Braunkohlefeuern roch und als in der Sembritzkistraße noch russische Offiziere wohnten. Wir haben hier keine bleibende Stadt. Das gilt für alle Städte und für die ganze Welt. Das Klima verändert sich, Tierarten sterben aus, Windparks schießen in die Höhe, neue technische Geräte werden entwickelt und alte wandern ins Museum. Nichts bleibt, wie es ist; nichts bleibt stehen. Während ich diese Predigt halte, rast der Erdball etwa 40.000 Kilometer weiter auf seiner Bahn um die Sonne. Auch unser Leben bleibt nicht stehen. Je älter wir sind, desto stärker merken wir es und sagen: Wie schnell das Jahr vergangen ist! Die Kinder werden schnell groß, die Lebenserfahrung nimmt zu, aber die körperlichen Kräfte nehmen ab. Unser Körper ist eigentlich gar nicht mehr derselbe wie in Kindertagen; die meisten Zellen haben sich in der Zwischenzeit mehrfach erneuert. Und unaufhaltsam tickt die biologische Uhr den Countdown für den Tag, an dem unser Körper aufhören wird, sich zu regenieren; dann wird er wieder Staub und Asche werden. Nein, wir haben hier keine bleibende Stadt.
Viele Leute denken, dass dieses vergängliche Leben das einzige ist, was sie haben. Sie versuchen, die begrenzte Erdenzeit voll auszukosten und hier ihren ganzen Lebenshunger zu stillen. Für manche von ihnen ist das Älterwerden eine Katastrophe. Jeder Geburtstag führt ihnen dann vor Augen, dass in der oberen Hälfte der Sanduhr nur noch ein kleines Häufchen übrig ist, das schnell zerronnen sein wird. Andere versuchen, die Vergänglichkeit positiv zu sehen und sagen: „Der Weg ist das Ziel.“ Wir aber, liebe Brüder und Schwestern, wissen es besser: Nicht unser irdischer Lebensweg ist das Ziel, sondern Gottes neue Welt. Das ist das neue Jerusalem, die ewige Stadt. Gott hat uns versprochen, dass wir einmal dahin kommen werden. Wir freuen uns auf diese neue Welt, und mancher von uns hat große Sehnsucht nach ihr. Wir wissen: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ In der irdischen Welt sind wir Gäste, Fremdlinge, Reisende und Nomaden. Wir leben gewissermaßen in Zelten, die immer wieder abgebaut und an einer anderen Stelle aufgestellt werden. Aber das ist kein Dauerzustand. Einmal werden wir in Gottes Stadt sesshaft werden, im Haus des himmlischen Vaters, wo Christus uns Wohnungen bereitet. Dieses Ziel der Lebensreise ist das Beste, was ein Mensch erreichen kann. Darum heißt es auch: „Die zukünftige Stadt suchen wir.“ Wir setzen alles daran, um an dieses Ziel zu kommen. Dieses Ziel hat höchste Priorität; etwas wichtigeres gibt es nicht. So zielt auch letztlich die christliche Verkündigung darauf ab, dass die Menschen, die sie hören, einmal in den Himmel kommen. Als christliche Gemeinde sind wir eine Weggemeinschaft, die zu Gottes zukünftiger Stadt hin unterwegs ist. „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Wir werden sie auch finden, das hat Christus uns versprochen. Er hat gesagt: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden“ (Markus 16,16). Wir können uns das Wohnrecht in Gottes Stadt zwar nicht mit einem ehrbaren Leben verdienen; dafür sind wir nicht gut genug. Aber das brauchen wir auch gar nicht, denn Jesus hat es uns schon verdient mit seinem Opfer am Kreuz. Er hat für uns gewissermaßen das Visum bezahlt, mit dem wir einst in Gottes neue Welt einreisen dürfen. Wer das weiß, kann fröhlich und unbeschwert reisen, selbst wenn die Reise manchmal anstrengend ist. Er kann sich dann trösten mit diesem Wort: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Wir werden sie auch finden und dort in ewiger Freude wohnen.
Ein Wörtchen fehlt noch in dem Satz, den wir hier betrachten: das Wörtchen „denn“ am Anfang. Wir lesen im Hebräerbrief: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Das Wörtchen „denn“ stellt den Satz in einen Zusammenhang. Erst wenn wir auf diesen Zusammenhang achten, verstehen wir den Satz in seiner ganzen Tiefe. Der Hebräerbrief wendete sich ursprünglich an Judenchristen. Einige von ihnen waren versucht, an der gottesdienstlichen Gemeinschaft mit den anderen Juden festzuhalten, auch wenn diese Jesus als Gotteslästerer ablehnten. Der Hebräerbrief macht deutlich, dass hier eine klare Trennung nötig ist. Zu Beginn des Abschnitts heißt es: „Wir haben einen Altar, von dem zu essen kein Recht haben, die der Stiftshütte dienen.“ Dann wird darauf verwiesen, dass das einzige echte Schuldopfer nicht im Tempel und nicht einmal im Stadtbezirk von Jerusalem dargebracht wurde, sondern außerhalb der Stadtmauern: das Opfer Jesu am Kreuz auf dem Hügel Golgatha. Daraus zieht der Hebräerbrief den Schluss: Wir gehören nicht in das irdische Jerusalem und nicht in den Tempel mit seinen jüdischen Gottesdiensten, sondern wir gehören nach draußen, nach Golgatha, zu Jesus – auch wenn wir dafür Unverständnis und sogar Anfeindungen ernten. Unmittelbar vor dem Satz unseres Predigttextes heißt es: „So lasst uns nun zu Jesus hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.“ Und dann kommt unser Satz mit dem anknüpfenden Wörtchen: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Das irdische Jerusalem, der Tempel und der alttestamentliche Gottesdienst sind vorläufige Dinge, vorübergehend und vergänglich wie das menschliche Leben und wie die ganze Welt. Bestand haben wird nur das himmlische Jerusalem, das Jesus mit seinem Opfer auf Golgatha denen erworben hat, die an ihn glauben.
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, nun ist es ja nicht unser Problem, dass wir versucht wären, uns dem Judentum anzuschließen. Was aber die Ortsbestimmungen drinnen und draußen angeht, so haben wir es hier mit einer sehr aktuellen Mahnung zu tun. Wir leben nämlich in einer Situation, wo Christen nicht gern als weltfremd gelten wollen. Die meisten wollen unbeschadet ihres Bekenntnisses zu Jesus „in“ sein, nicht „out“. Das ist aber nur in begrenzter Weise möglich. Wo es um den Lebenssinn geht und um das Ziel der Lebensreise, da werden wir oft genug feststellen, dass wir mit unseren christlichen Anschauungen „out“ sind. Wir sagen eben nicht: Der Weg ist das Ziel, sondern wir sagen: Das Beste kommt noch. Wir sagen nicht: Es soll jeder nach seiner Fasson selig werden, sondern wir sagen: Es gibt nur einen Weg zum Seligwerden, und der heißt Christus. Wir sagen nicht: Es muss jeder für sich selbst herausfinden, was gut und böse ist, und die Gesellschaft muss das für ihre jeweilige Zeit demokratisch festlegen; wir sagen: Gottes Schöpfungsordnung und die Zehn Gebote sind zeitlos gültig und setzen auch dann verbindlich den Maßstab für gut und böse fest, wenn die Mehrheit das anders sieht. Wir sagen nicht: Die Bibel ist ein fehlerhaftes Menschenbuch, das man so oder auch anders auslegen kann; wir sagen: Die Bibel ist Gottes unfehlbares Wort, und der Heilige Geist lehrt uns, es richtig zu verstehen. Wenn wir das vertreten, kann es schnell geschehen, dass man uns als Außenseiter ansieht oder sogar anfeindet, so wie es damals den Judenchristen gegangen ist. Aber das sollte uns nicht irremachen. „Denn (und jetzt ist dieses kleine Wörtchen plötzlich ganz wichtig!) wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Nun erkennen wir die ganze Tiefe dieses mahnenden und zugleich tröstlichen Satzes: Besser, wir leben unsere paar Erdenjahre als christliche Außenseiter in einer nichtchristlichen Umwelt und kommen dann in den Himmel, als dass wir uns der nichtchristlichen Umwelt anpassen und das herrliche Ziel verfehlen – die zukünftige Stadt, das himmlische Jerusalem, Gottes neue Welt, die ewige Seligkeit! Amen.
PREDIGTKASTEN |