Die zehn Bundesworte

Predigt über 2. Mose 20,1‑17 zum 18. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es ist unmöglich, eine Predigt über die Zehn Gebote zu halten. Ich müsste zehn Predigten halten, um zu zeigen, was Gott mit ihnen meint und wie weise er damit das menschliche Leben ordnet. Und dann könnte ich noch eine elfte Predigt halten darüber, warum die Zehn Gebote für alle Menschen und alle Völker zu allen Zeiten bedeutsam sind. Aber ich möchte in dieser einen Predigt heute den Schwerpunkt anders setzen. Ich möchte nicht in erster Linie darüber sprechen, was die Zehn Gebote für unser mensch­liches Verhalten bedeuten, sondern ich möchte darüber sprechen, was sie für Gottes Verhalten bedeuten. So begegnen sie uns nämlich im Zusammen­hang des 2. Buches Mose: Gott stellte sich selbst dem Volk der Hebräer vor als der Gott, der sie aus der ägyptischen Knecht­schaft befreit hatte und der nun mit ihnen am Berg Sinai einen Bund schloss. Mose war der Mittler dieses Bundes, und durch ihn ließ Gott die Zehn Gebote, in Stein gemeißelt, als Bundes­gesetz über­bringen. Die Zehn Gebote sind hier also in erster Linie als zehn Bundesworte zu verstehen, durch die Gott die un­verbrüch­liche Gemein­schaft mit seinem aus­erwählten Volk Israel begründete. Und indem er dies mit Israel tat, bereitete er seine Gemein­schaft mit Menschen aus allen Völkern der Erde vor. Werfen wir also einen Blick auf die Zehn Gebote als auf zehn Bundes­worte, in denen Gott seine Gemein­schaft mit uns Menschen entfaltet hat – wie er sie schenkt und wie er dann auch erwartet, dass wir unser Verhalten darauf einstellen!

Gleich das erste Wörtchen ist da be­merkens­wert: „Ich“. Gott beginnt die Zehn Gebote nicht mit „Du sollst“, sondern mit „Ich bin“. So hatte er sich schon Mose am brennenden Busch vorgestellt und gesagt: „Ich bin“ beziehungs­weise „Ich werde sein, der ich sein werde“ (2. Mose 3,14). So hatte er Mose damals auch seinen Namen Jahwe erklärt, der in den meisten Bibeln mit „der Herr“ umschrieben wird. Mit dieser göttlichen Selbst­aussage beginnen die zehn Bundes­worte: „Ich bin der Herr, dein Gott.“ Und ehe die erste Aufforderung kommt, sagt Gott noch etwas von sich selbst: „Ich habe dich aus Ägypten­land, aus der Knecht­schaft geführt.“ Gottes Beziehung zu den Menschen gründet sich nicht darauf, dass die Menschen etwas für Gott getan oder sich ihm angenähert hätten, sondern sie gründet sich umgekehrt darauf, dass Gott etwas für die Menschen getan hat: Er hat sie aus der Sklaverei befreit. Damit hat er sich als ihr Erlöser, Herr und König erwiesen. Uns Christen als Bundesvolk des Neuen Testaments fällt dabei natürlich gleich ein, dass Gott auch für uns seinen Bund auf solch eine göttliche Be­freiungs­tat gegründe hat: Unser Herr Jesus Christus hat uns am Kreuz aus der Sklaverei des Teufels befreit und sich damit als unser Befreier, Herr und König erwiesen.

Weil Gott so wunderbar an den Menschen handelt, verdient er unbedingte Treue, die volle Loyalität seines Volkes. Und er erwartet sie auch – das ist er Inhalt des 1. Gebots: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Kein Mensch sollte irgend­jemanden oder irgendetwas so wichtig nehmen wie Gott, ebensowenig wie ein Volk nicht zwei oder mehr kon­kurrierende Regierungen über sich anerkennen kann, wenn es nicht ins Chaos stürzen will. Martin Luther erklärte: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Das 1. Gebot wird dann noch weiter ausgeführt: Du sollst dir keine Götzen­bilder anfertigen und sie nicht anbeten. Auch sollst du wissen, dass Gott sich nicht zum Narren halten lässt: Er straft jede Sünde; er weiß sich durch­zusetzen als Herr und König. Und wieder sagt Gott in diesem Zusammen­hang „ich“: „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen.“ Ja, wo ein Volk Gott die Loyalität aufkündigt, da breitet sich Unheil aus, das sich über mehrere Gene­rationen hinweg auswirken kann. Wir merken das in unserer Gesell­schaft: Die Kirchen sind leer; nach Gott fragen nur wenige; an den öffent­lichen Schulen wird sein Name selten genannt. Infolge­dessen blühen Un­wahrhaftig­keit, Untreue, Ungehorsam, Krimi­nalität und sexuelle Frei­zügigkeit. So sucht Gott die Missetaten früherer Gene­rationen heim, und wir liegen nicht falsch, wenn wir diese Erfahrung mit der deutschen Geschichte der letzten siebzig Jahre in Verbindung bringen. Aber viel schwerer als diese strenge und er­schreckende Seite Gottes wiegen seine Liebe und Gnade. Gleich im Anschluss an den Satz von der Heimsuchung folgt nämlich eine weitere Ich-Aussage Gottes. Er sagt: Ich bin ein Gott, der „Barm­herzig­keit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“ Oder wie wir es aus Luthers Kleinem Katechismus kennen: „Denen, die mich lieben und meine Gebote halten, tue ich wohl bis in tausend Glied.“ Wir sehen: Gottes Liebe ist im Verhältnis zu seinem Zorn so groß wie tausend zu drei!

Auch das 2. Gebot sagt viel über Gott selbst aus: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.“ Es zeigt uns, dass Gottes Name heilig ist. Er ist unser Herr und König, und wenn wir seinen Namen missbrauchen, dann ist das die größte Majestäts­beleidi­gung. Das zweite Gebote zeigt uns aber zugleich in seiner Umkehrung, dass Gottes Name recht gebraucht werden soll. Auch dies hat Martin Luther im Kleinen Katechismus treffend aus­gedrückt: Wir sollen Gottes Namen „in allen Nöten anrufen, beten, loben und danken.“ Da merken wir: Er ist nicht nur der strenge Gott, der sich keine Majestäts­beleidi­gung gefallen lässt, sondern zugleich einer, der von uns angerufen und gebeten sein will. Er ist also der liebe Vater, der stets ein offenes Ohr für seine Kinder hat.

Beim 3. Gebot geht es um Gottes Ruhetag, auf hebräisch „Sabbat­tag“. Zu Luthers Zeiten nannte man einen Ruhetag „Feiertag“, darum hat Martin Luther das 3. Gebot so formuliert: „Du sollst den Feiertag heiligen.“ Und dann folgt im Text der Zehn Gebote eine Begründung, die wieder von Gottes eigenem Tun und Verhalten redet. Es heißt da: „In sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete Gott der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.“ Da offenbart uns Gott: Er ist ja noch viel mehr als unser Herr und König, mehr als unser Befreier aus der Sklaverei. Seine Beziehung zu uns gründet im Ursprung darauf, dass er uns geschaffen hat – uns und die ganze Welt. Er ist unser Schöpfer, und wir sind seine Geschöpfe – das ist der älteste und grund­legende „Bund“ zwischen Gott und Mensch. Wenn Gott nun mit dem 3. Gebot anordnet, dass nach sechs Arbeits­tagen ein Ruhetag eingelegt werden soll, dann erinnert er uns damit an die Erschaffung der Welt in sechs Tagen. Am siebenten Tage ruhte Gott dann selbst – nicht, weil ihn die Schöpfung so sehr ermüdet hatte, sondern weil er uns ein Beispiel geben wollte für gutes und gesundes Leben, für einen gesegneten Rhythmus von Arbeit und Ausruhen.

Die Gebote 4 bis 10 werden oft die Gebote der „zweiten Tafel“ genannt, weil sie das Zusammen­leben von uns Menschen unter­einander ordnen. Aber auch darin zeigt sich viel von Gott selbst und von seinem Verhalten. So heißt es im 4. Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.“ Daran erkennen wir, dass Gott selbst wie ein Vater zu uns ist, und dass er uns zusagt: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja 66,13). Wenn Eltern und Kinder in einem solchen Verhältnis zueinander stehen, wie Gott es möchte, dann bildet sich darin Gottes Bund mit den Menschen ab. Im 5. Gebot heißt es: „Du sollst nicht töten.“ Darin zeigt Gott, dass er unser Leben nicht zerstören, sondern bewahren will. Durch Jesus hat er das ganz deutlich gemacht: Er bewahrt den Sünder davor, an seiner Sünde zugrunde zu gehen, und schenkt ihm das ewige Leben. Mit dem 6. Gebot schützt Gott die Ehe und fordert eheliche Treue: „Du sollst nicht ehe­brechen.“ Auch in der Ehe bildet sich Gottes Bund mit den Menschen ab: Er ist unser Bräutigam, und wir, sein Volk, sind die Braut. Als der Apostel Paulus im Epheser­brief ausführlich über das Zusammen­leben in der Ehe geschrieben hatte, da fügte er den bemerkens­werten Satz an: „Dies Geheimnis ist groß; ich deute es aber auf Christus und die Gemeinde“ (Eph. 5,32). Beim 7. Gebot geht es ums Eigentum: „Du sollst nicht stehlen.“ Ja, auch der Besitz des Menschen ist etwas Heiliges und bildet die Beziehung zwischen Gott und Menschen ab. An vielen Stellen heißt es in der Bibel, dass Gott sich uns als ein Volk zum Eigentum gewählt hat. Wir gehören nicht dem Teufel und auch nicht uns selbst, sondern wir gehören Gott. Beim 8. Gebot geht es um die Wahrheit: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Auch die Wahrheit hat viel mit unserm Verhältnis zu Gott zu tun: Gottes Wort ist die Wahrheit, und sein ein­geborener Sohn ist die Fleisch gewordene Wahrheit. Durch sein Wort tritt Gott in Beziehung zu uns: Mit seinem Wort gibt er uns Weisung; mit seinem Wort mahnt und warnt er uns; mit seinem Wort tröstet er uns aber auch und erweckt den selig­machenden Glauben. Die letzten beiden Gebote schließlich untersagen es uns, das zu begehren, was unserm Nächsten gehört. Man könnte meinen, das ist doch eigentlich schon mit dem 7. Gebot abgedeckt: „Du sollst nicht stehlen.“ Aber die Auf­forderung: „Du sollst nicht begehren“ meint noch mehr: Wir sollen nicht nach dem trachten, was Gott nicht uns, sondern anderen Mitmenschen zugedacht hat. Daraus folgt im Umkehr­schluss: Wir sollen nach dem trachten und das festhalten, was Gott uns zugedacht hat. Da sind wir dann wieder bei seinem Bund und bei seiner Gnade, und da schließt sich der Kreis zum 1. Gebot. Wir sollen unsern Lebenssinn nicht in Familie und Besitz suchen, sondern Gott soll die Nummer Eins sein in unserm Leben; er ist unser Herr und König. Jesus forderte seine Jünger auf: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtig­keit, so wird euch das alles zufallen“ (Matth. 6,33).

An allen Zehn Geboten merken wir also: Sie handeln nicht nur von unserm mensch­lichen Verhalten, sondern sie handeln in ihrem tieferen Sinn auch von Gott. Sie offenbaren etwas von Gottes Strenge und Zorn, sie offenbaren aber vor allem Gottes Liebe und Barmherzig­keit. Dasselbe gilt von dem größten Gebot, das die Zehn Gebote zusammen­fasst. In der heutigen Evan­geliums­lesung haben wir gehört, wie Jesus es aus dem Alten Testament zitierte: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften… Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Markus 12,30‑31) Hinter diesem Doppelgebot verbirgt sich Gottes wichtigste Eigenschaft und die Wurzel seines Bundes: nämlich seine grenzenlose Liebe. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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