Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Heute möchte ich euch einfach eine biblische Geschichte erzählen. Sie ist nicht sehr bekannt; den meisten von euch wird sie neu sein. Nun sind ja die Ereignisse aus biblischen Geschichten zeitlich und räumlich sehr weit weg; außerdem sind die äußeren Umstände meistens ganz anders, als wir es gewohnt sind. Trotzdem können wir mit dieser Geschichte erkennen, wie sich ein Christ benimmt – auch für unsere Zeit. Wir können das am Beispiel des Apostels Paulus sehen.
Paulus und Barnabas befinden sich auf ihrer ersten Missionsreise. In Kleinasien, dem Gebiet der heutigen Türkei, kommen sie zur Stadt Lystra. Die Menschen, die dort leben, gehören zum Volk der Lykaonier. Sie haben schon lange ihre Unabhängigkeit verloren: Erst haben die Griechen ihnen die griechische Kultur aufgezwungen, und nun sind sie von den allgegenwärtigen Römern besetzt. Ein Stückchen Unabhängigkeit haben sie sich aber trotzdem bewahrt: Wenn sie miteinander reden, dann tun sie es auf Lykaonisch. Wir können sie mit den Sorben vergleichen, die in der Lausitz leben und immer noch sorbisch sprechen, obwohl ihr Lebensraum Deutschland ist.
Paulus und Barnabas treffen bei den Lykaoniern in Lystra ein. Sie rufen die Einwohner zusammen, denn sie haben ihnen etwas Wichtiges zu sagen. Neugierig kommen die Menschen zum Versammlungsplatz: Arme und Reiche, Alte und Junge, Gesunde und Kranke. Ein behinderter Mann fällt unter ihnen auf: Er hat verkrüppelte Beine und kann sich nur mühsam auf Händen fortbewegen. Während die anderen im Stehen zuhören, kauert er im Sand. Aber wie er zuhört! Gebannt hängen seine Augen an den Lippen des Apostels. Paulus erzählt von Jesus. Er berichtet, dass Jesus ausnahmslos alle Menschen lieb hat und dass ihm besonders diejenigen am Herzen liegen, die von anderen verachtet werden: die Sünder und die Kranken. Paulus erzählt, wie Jesus Sündern vergibt und Kranke gesund macht. Der gelähmte Mann spürt, wie eine Hoffnung in ihm aufkeimt.
Noch nie in seinem Leben hat dieser Mensch gestanden, nie hat er laufen gelernt. Von Geburt an behindert, ist er immer der Kummer seiner Eltern und der Spott seiner Mitmenschen gewesen. Echtes Mitgefühl und die Integration von Behinderten sind in Lystra weitgehend unbekannt – so unbekannt wie Rollstühle und behindertengerechte Toiletten. Wie gern hätte der Gelähmte als Kind mit Gleichaltrigen herumgetobt! Wie gern wäre er später aufs Feld zur Arbeit gegangen und hätte sich selbst seinen Lebensunterhalt verdient! All das ist ihm verwehrt. Aber als er hört, dass Jesus besonders die Kranken liebt und bereits viele durch ihn gesund geworden sind, da keimt eine verwegene Hoffnung in ihm auf: Vielleicht könnte es ja geschehen, dass auch er durch diesen Jesus gesund wird…
Paulus merkt, wie ihn der Gelähmte anstarrt, und er kann aus seinem Blick zwei Dinge herauslesen: erstens das Leiden an seinem Gebrechen und zweitens den Wunsch, durch Jesus geheilt zu werden. Außerdem weiß Paulus, dass Gott ihm die Gabe verliehen hat, im Namen Jesu Kranke zu heilen. Was liegt da näher, als diese Gabe hier einzusetzen? Als Paulus mit seiner Predigt fertig ist, sagt er zu dem Behinderten: „Stell dich auf deine Füße!“ Und das Wunder geschieht: Der Mann springt auf; er kann stehen; er kann gehen; er ist gesund.
Liebe Brüder und Schwestern, die Gabe gesund zu machen hat keiner von uns. Trotzdem können wir von Paulus lernen, wie man sich als Christ benimmt. Wir können unsere Mitmenschen ebenso aufmerksam und liebevoll wahrnehmen wie er. Ja, damit fängt christliches Verhalten an: Wenn jemand seine Mitmenschen aufmerksam wahrnimmt und nachempfindet, was in ihnen vorgeht. Empathie nennt man das. Weiter können wir uns überlegen, welche Gaben Gott uns gegeben hat. Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass wir anderen mit diesen Gaben helfen können, dann sollten wir das ohne zu zögern auch tun. Solche tätige Nächstenliebe entspricht dem Vorbild des Apostels Paulus, und sie entspricht auch der Liebe unsers Herrn Jesus Christus. Wir haben diese Liebe ja am eigenen Leib erfahren und erfahren sie immer wieder aufs Neue, wenn Jesus uns die Sünden vergibt.
Das Wunder versetzt die Lykaonier aus Lystra in helle Aufregung. So etwas haben sie noch nie erlebt. Was Paulus und Barnabas da vor ihren Augen getan haben, das kann kein Arzt, das kann kein Wunderheiler. Bedenken wir: Die Heilung ist ohne irgendwelche Therapien oder Zeremonien geschehen, nur durch eine kurze Aufforderung. Sie ist unverzüglich erfolgt, ohne langes Trainieren und Laufen-Lernen. Den Lykaoniern ist klar: So ein Wunder kann nur Gott selbst tun. Das heißt: Eigentlich kennen sie Gott überhaupt nicht, sondern sie glauben an die importierten Götzen der Griechen, die auch die Römer übernommen haben. So meinen sie, dass zwei von diesen Göttern menschliche Gestalt angenommen und sie besucht haben, um dieses unglaubliche Wunder vor ihren Augen zu tun. Weil Paulus am meisten redet, halten sie ihn für den Botengott Hermes, und weil Barnabas würdevoll schweigend daneben steht, denken sie, dass er der Obergott Zeus ist. Aufgeregt reden die Lykaonier durcheinander und sagen: „Die Götter sind den Menschen gleich geworden und zu uns herabgekommen!“ Natürlich sprechen sie dabei Lykaonisch. Nun ist Paulus ein sehr gebildeter Mann und beherrscht mehrere Sprachen, aber Lykaonisch ist nicht darunter. Auch Barnabas ist des Lykaonischen nicht mächtig. Beide haben also keine Ahnung, was die Leute da so aufgeregt miteinander besprechen. Sie sehen nur, wie einige sich auf den Weg zum nahe gelegenen Zeustempel machen. Bald darauf bildet sich eine merkwürdige Prozession: Einige Stiere, mit Blumenkränzen geschmückt, werden vom Zeuspriester zu Paulus und Barnabas geführt. Das Volk von Lystra begleitet sie und verbeugt sich dabei huldigend vor den beiden Missionaren. Nun dämmert es ihnen, was hier geschieht: Die Lykaonier denken, sie sind Götter, und wollen ihnen opfern! Sie kriegen einen Riesen-Schreck: Das geht doch nicht! Sie sollen doch lernen, den einen wahren Gott zu ehren, nicht heidnische Götzen und schon gar nicht sie selbst, die beiden Missionare. Als Zeichen ihrer Bestürzung reißen sie ihre Obergewänder ein, wie es Brauch ist. Dann schreien sie gegen den Lärm der Menge an: „Ihr Männer, was macht ihr da? Wir sind auch sterbliche Menschen wie ihr und predigen euch das Evangelium, dass ihr euch bekehren sollt von diesen falschen Göttern zu dem lebendigen Gott…“ Paulus und Barnabas handeln vorbildlich in christlicher Demut.
Liebe Brüder und Schwestern, menschlich gesehen wäre so eine Verwechslung gar nicht übel; es ist bestimmt sehr angenehm, göttlich bewundert und bewirtet zu werden. Aber das wäre nun wirklich kein christliches Benehmen. Christlich ist es vielmehr, alle Ehrungen zurückzuweisen, die einem nicht gebühren. Christliches Benehmen ist von Demut geprägt. Die Devise lautet: Ich bin nichts, Gott ist alles! Das gilt auch dann, wenn man nicht für göttlich gehalten wird. Es gilt zum Beispiel, wenn man Ehrungen empfängt, die einem nicht zustehen: Ein Christ wird da sofort deutlich Einspruch erheben. Und es gilt auch, wenn verdiente Ehrungen in einen Personenkult umschlagen, bei dem für Gottes Ehre nicht mehr viel Raum bleibt. Wenn ein Christ für irgendwelche Taten geliebt und bewundert wird, dann wird er immer versuchen deutlich zu machen, dass diese Ehre in Wahrheit Gott gebührt. Alles, was wir gut machen und was uns gelingt, ist ja Gottes Gabe; letztlich gebührt nur ihm die Ehre dafür.
Paulus versucht, den Lykaoniern noch mehr klar zu machen. Er fordert sie auf, sich von den falschen Göttern zu dem einen lebendigen Gott zu bekehren, der alles geschaffen hat und von dem alle gute Gabe kommt. Paulus versucht, weiterzupredigen und den Lykaoniern die Wahrheit zu bezeugen. Auch das gehört zum christlichen Benehmen: dass wir Gelegenheiten nutzen, anderen Menschen etwas von dem einen lebendigen Gott zu sagen. Wir sollten dieses Zeugnis auch dann geben, wenn menschlich wenig Hoffnung besteht, dass die Hörer es annehmen. Wir können freilich nur reden, wir können andere Menschen nicht zum Glauben bringen, das kann nur der Heilige Geist. Auch Paulus und Barnabas müssen das erfahren. Der biblische Bericht von der Heilung in Lystra schließt mit den Worten: „Obwohl sie das sagten, konnten sie kaum das Volk davon abbringen, ihnen zu opfern.“
Liebe Brüder und Schwestern, lasst uns vier Dinge mitnehmen aus dieser Geschichte für unser christliches Benehmen: erstens liebevoll offene Augen für unsere Mitmenschen und ihren Kummer, zweitens ein beherztes Einsetzen unserer von Gott empfangenen Gaben, drittens Demut und Verweisen auf Gottes Ehre, viertens das Zeugnis für den einen wahren Gott. Ja, so wolllen wir uns verhalten – egal ob wir damit Erfolg haben oder nicht. Amen.
PREDIGTKASTEN |