Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Ja, das sind wir, weil Gott unser Vater ist und Jesus unser Bruder wurde: Brüder und Schwestern in Christus. Gemeinsam gehören wir zu Gottes Familie, zu Gottes Reich. Schön ist es, wenn wir uns aufgrund dieser Beziehung gut verstehen und füreinander da sind; selbstverständlich ist es aber nicht. Es gibt Familien, in denen sich Geschwister gar nicht gut verstehen – angefangen von Streitereien im Kinderzimmer bis hin zu Streitereien über das Erbe, das die verstorbenen Eltern hinterlassen haben.
Die Geschwister, von denen unser Predigttext handelt, haben sich auch gar nicht gut verstanden, jedenfalls in einer bestimmten Phase ihres Lebens. Josef, der zweitjüngste von zwölf Brüdern, wurde von seinem Vater Jakob bevorzugt und verwöhnt; das ließ ihn zum Angeber unter seinen Brüdern werden: Er fühlte sich als etwas Besseres. Seine Brüder hassten ihn deswegen. Einmal planten sie sogar, ihn umzubringen. Das taten sie dann zwar nicht, aber sie verkauften ihn als Sklaven und sagten ihrem Vater, ein wildes Tier habe ihn getötet. Josef wurde nach Ägypten verschleppt und erlebte dort harte Jahre – erst als Sklave, dann als Strafgefangener. Gott nahm ihn in eine harte Schule, damit er Demut lernte. Erst dann fügte Gott es so, dass Josef zum zweitmächtigsten Mann von Ägypten aufstieg. In dieser Position managte er die ägyptischen Staatsreserven an Getreide so geschickt, dass in einer siebenjährigen Dürrezeit immer noch genug für alle vorhanden war; sogar dem benachbarten Ausland konnte er Korn verkaufen. Auf diese Weise errettete er auch seine Brüder mit ihren Familien vor dem Hungertod. Er holte sie und seinen alten Vater nach Ägypten, wo er sie alle versorgte.
Dann starb der Vater, und Josefs Brüder hatten Angst, dass Josef sich nun an ihnen rächen würde für das Böse, was sie ihm einst angetan hatten. Immerhin war Josef so mächtig, dass er unhinterfragt Todesurteile verhängen konnte. Und auf seinen Vater brauchte er nun keine Rücksicht mehr zu nehmen; der war ja tot. In ihrer Angst taten Josefs Brüder das, was unser Predigttext auführlich beschreibt: Sie sagten Josef, sein Vater hätte noch zu Lebzeiten den Wunsch gehabt, dass Josef seinen Brüdern ihr Unrecht vergibt. Josefs Brüder spekulierten darauf, dass Josef diesen Willen seines verstorbenen Vaters respektieren und ihnen deswegen nichts tun würde. Josef durchschaute die Strategie seiner Brüder, und das machte ihn traurig. Er hatte ihnen ja schon längst vergeben, und er war enttäuscht, dass sie offenbar noch immer kein Vertrauen zu ihm hatten. So kam es zu einer Begegnung zwischen ihm und seinen Brüdern, in der er bemerkenswerte Worte fand. Diese Worte zeigen drei gute Eigenschaften an ihm: erstens Demut, zweitens Ehrlichkeit, drittens Glaube. Es sind nicht irgendwelche guten Eigenschaften, sondern es handelt sich um die wichtigsten christlichen Tugenden. Jesus selbst hat sie in seinen Erdentagen gezeigt: Demut, Ehrlichkeit und Glaube. Auch wir tun gut daran, diese Eigenschaften nach dem Vorbild Josefs und vor allem nach Christi Vorbild anzustreben: Demut, Ehrlichkeit und Glaube.
Da ist erstens die Eigenschaft der Demut. Josef sagte seinen Brüdern: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?“ Damit meinte er: Ich bin nicht euer Richter; letztlich ist nur Gott Richter. Ich bin nicht befugt, mich an euch zu rächen für das Böse, das ihr mir angetan habt. Damit verzichtete er auf den Gebrauch seiner Machtposition, obwohl selbst seine eigenen Brüder damit rechneten, dass er diese Machtposition gebrauchen würde, um sich an ihnen zu rächen. Josef handelte demütig. Und diese Demut ist nichts anderes als wahre brüderliche Liebe – eine Liebe, die bereit ist, zu verzeihen.
Auch Jesus handelte demütig. Er ist der eingeborene Sohn Gottes, und er hat damit die höchste Macht inne. Ihm ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Er hat auch die höchste richterliche Macht, und wenn er am Jüngsten Tag sichtbar wiederkommen wird, dann wird er sie auch ausüben. Aber als er das erste Mal auf Erden kam, da verzichtete er weitgehend auf den Gebrauch seiner göttlichen Macht und wurde ein einfacher, schlichter, armer Mensch. Im Philipperbrief heißt es von ihm: „Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“ (Phil. 2,6‑8) Jesus ließ sich dazu herab aus lauter Liebe – auch bei ihm hängt die Demut unlöslich mit Liebe zusammen. Aus Liebe opferte er sich für uns Sünder auf, um uns zu erlösen.
So steht es auch uns als Jesu Jüngern gut an, nach Josefs Vorbild demütig zu sein. Selbst wenn Gott uns eine gewisse Macht gegeben hat in dieser Welt, sollen wir die nicht selbstherrlich gebrauchen oder damit auftrumpfen. Vielmehr sollen wir uns dem himmlischen Vater unterordnen und alles seiner Gerechtigkeit anbefehlen. Menschliche Macht soll nur dazu dienen, die Dinge in der Welt gut zu ordnen zum Wohl aller Menschen, nie aber, um sich damit über andere zu erheben oder sich gar an ihnen zu rächen. Im persönlichen Umgang mit den Mitmenschen soll vielmehr die Liebe dominieren, deren Herzstück die Demut ist: die Bereitschaft, dem andern seine Sünde nicht heimzuzahlen; die Bereitschaft, lieber etwas Böses einzustecken und es herunterzuschlucken, als es mit Bösem zu vergelten. Das Neue Testament fordert uns an vielen Stellen zu solcher Feindesliebe auf.
Die zweite Eigenschaft ist die Ehrlichkeit. Josef sagte seinen Brüdern: „Ihr gedachtet es böse zu machen.“ Er sagte es ohne Bitterkeit und ohne drohenden Unterton, er stellte einfach sachlich fest: Ihr habt etwas Böses im Sinn gehabt; ihr wolltet mich damals aus dem Weg schaffen, weil ihr euch über mich geärgert habt; ihr habt euch an mir und an Gott versündigt. Diese Tatsache lässt sich nicht leugnen, auch wenn Josef seinen Brüdern schon längst vergeben hatte und darauf verzichtete, sich an ihnen zu rächen. Es wäre falsch, Dinge unter den Teppich zu kehren oder Sachverhalte zu verdrehen, um damit eine schöne Illusion zu stützen. Nein, Josef liebte die Wahrheit; er war ehrlich genug, um in Gegenwart seiner Brüder festzustellen: Bei uns herrschte nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen.
Auch Jesus war in seinem Reden und Wirken absolut ehrlich, absolut wahrhaftig. Er hatte Umgang mit Huren, Zöllnern und anderen Sündern, aber er nahm dabei nie ein Blatt vor den Mund. Er verschleierte ihre Sünden nicht, sondern nannte sie beim Namen. Er sagte den Sündern nie: Das ist nicht schlimm, was ihr tut; vielmehr rief er sie zur Umkehr auf. Auch den Mächtigen seiner Zeit sagte er stets unerschrocken und ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile die Wahrheit – den Vertretern des Hohen Rats zum Beispiel oder dem römischen Statthalter Pontius Pilatus. Vor letzterem bekannte er auch: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll“ (Joh. 19,37).
So steht es auch uns als Jesu Jüngern gut an, nach Josefs Vorbild ehrlich zu sein. Wir sollten nicht so tun, als sei mit uns und mit den anderen alles in Ordnung. Es ist eine völlig weltfremde Illusion zu meinen, dass alle Menschen im Grunde ihres Herzens lieb sind. Wir sollten so ehrlich sein, dass wir immer wieder in der Beichte vor Gott treten und bekennen: Ich gedachte es böse zu machen. Und wenn andere Menschen sich an uns versündigt oder uns weh getan haben, dann sollen wir ihnen das ruhig sagen und nicht so tun, als sei alles in Ordnung. Wohlbemerkt: Ihnen sollen wir es sagen, nicht anderen in ihrer Abwesenheit. Josef hat die Sünde seiner Brüder ja auch nicht in ganz Ägyptenland herumgetratscht, sondern hat sie direkt mit ihnen besprochen – sozusagen unter 24 Augen.
Die dritte Eigenschaft ist der Glaube. Josef sagte seinen Brüdern: „Gott gedachte es gut zu machen.“ Er dachte daran, dass er ja nur durch die böse Tat der Brüder nach Ägypten kam und dass Gott ihm hier in Ägypten die Möglichkeit geschenkt hatte, sie alle vor dem Hungertod zu bewahren. Das heißt nicht, dass aus der bösen Tat der Brüder plötzlich eine gute Tat geworden ist. Es heißt aber, dass Gott aus der bösen Tat der Brüder etwas gemacht hat, was letztlich allen zum Segen wurde. Dies zu erkennen ist Glaube – das Vertrauen, dass Gott alle Dinge zum Besten kehrt, auch wenn das lange Zeit nicht so aussieht.
Auch Jesus zeigte in seinen Erdentagen Glauben und grenzenloses Vertrauen zum himmlischen Vater. Kurz bevor er den bösen Mächten dieser Welt ausgeliefert wurde, betete er voller Angst: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ (Lukas 22,42). Er vertraute nach wie vor darauf, dass Gott aus dem Bösen, dass die Menschen mit ihm vorhatten, etwas Gutes machen würde. Und der Vater machte daraus das Beste, was die Welt je gesehen hat: die Erlösung am Kreuz.
So steht es auch uns als Jesu Jüngern gut an, nach Josefs Vorbild gläubig zu sein. Wie oft kriegen wir Angst und Zweifel angesichts von soviel Bosheit in der Welt – die Bosheit an den Krisenherden der Erde, die Bosheit unserer Mitmenschen, die Bosheit auch in unserm eigenen Herzen. Sollte Gott uns da nicht schon längst als hoffnungslose Fälle verworfen haben? Sollte er das Experiment Menschheit nicht schon längst für gescheitert erklärt haben? Nein, wir haben allen Grund, am Glauben festzuhalten. Lasst uns also weiter darauf vertrauen, dass Gott uns niemals im Stich lässt, denn das hat er ja durch Jesus versprochen. Auch wenn noch so viele Menschen es böse zu machen gedenken und auch wenn sie noch so oft damit Erfolg zu haben scheinen – es gilt nach wie vor das, was Josef seinen Brüdern vertrauensvoll bezeugte: „Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ So ist es auch heute, nach Christi Auferstehung, deutlich klar und „am Tage“, dass Gott um Jesu Tod und Auferstehung willen das große Volk der Christenheit am Leben erhält für alle Ewigkeit. Amen.
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