Dunkle Stunden

Predigt über Matthäus 27,45‑47 zum Karfreitag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Am 13. Ja­nuar dieses Jahres brachen um 22 Uhr dunkle Stunden über die Passagiere der Costa Concordia herein. Das Kreuzfahrt­schiff hatte einen Unterwasser­felsen gerammt und war dabei schwer beschädigt worden. Es waren nicht nur deshalb dunkle Stunden, weil die Generatoren ausfielen und die Beleuchtung erlosch. Es waren auch im über­tragenen Sinn dunkle Stunden - nämlich dunkle Stunden der Schmerzen für die Verletzten und Unter­kühlten, dunkle Stunden panischer Angst der im sinkenden Rumpf Gefangenen, dunkle Stunden der Schuld eines Kapitäns, dessen Leichtsinn diese Not verursacht hatte und der dann bei der Evakuierung vor seiner Ver­antwortung als Kommandant floh.

Auch wenn keiner von uns bei diesem Unglück dabei war: Was dunkle Stunden sind, wissen wir alle – wenn schon nicht aus eigener Erfahrung, so doch mindestens aus den Berichten anderer. Dunkel sind die Stunden körper­licher Schmerzen, die nicht nachlassen wollen, noch dunkler die Stunden schwerer seelischer Schmerzen, etwa bei De­pressionen. Dunkel sind Stunden der Trauer, wenn es dazu kommt, von einem geliebten Menschen für immer Abschied zu nehmen. Dunkel sind Stunden der Ent­täuschung, wenn uns jemand sehr weh getan hat. Dunkel sind Stunden der Angst, wenn etwas auf uns zukommt, was uns bedroht – mit un­absehbaren Folgen. Dunkel sind Stunden der Schuld, wenn das schlechte Gewissen uns nicht zur Ruhe kommen lässt.

Die dunkelsten Stunden der Welt­geschichte aber waren die, als Jesus am Kreuz hing. Da breitete sich eine un­erklärliche Finsternis über das Land aus von der sechsten bis zur neunten Stunde, also von zwölf Uhr mittags bis drei Uhr nach­mittags, bis zur Todesstunde des Herrn. Auch diese Stunden waren im über­tragenen Sinne dunkel. Es waren Stunden der Schmerzen, der Trauer und der Ent­täuschung: Jesus war von seinen Jüngern enttäuscht worden, die fast alle geflohen waren, und er war von seinem Volk enttäuscht worden, das ihn verworfen hatte; das Volk aber war seinerseits von ihm enttäuscht, weil die Menschen nun nicht mehr glauben mochten, dass er der Christus ist, der von Gott ver­sprochene Erlöser. Es waren Stunden großer Schuld: Hass und Neid hatten zu Jesu Gefangen­nahme geführt; die Hinrichtung ging auf ein krasses Fehlurteil zurück; Schau­lustige spotteten über den hilflosen Judenkönig; und rohe Soldaten pokerten um Jesu letzte paar Habselig­keiten, noch bevor er ganz tot war. Das Dunkelste dieser Stunden aber spielte sich im Herzen unsers Herrn ab: Er musste die Erfahrung machen, wie bitter es ist, von Gott im Stich gelassen zu werden. Das ist eigentlich die große Wunde, die er sich stell­vertretend für uns schlagen ließ – die bitterste Auswirkung unserer Sünden­krankheit. Diese entsetz­liche Seelen­finsternis schrie er dann mit einem Mal heraus, schrie mit Worten des großen prophetischen Leidens­psalms auf hebräisch: „Eli, Eli, lama asabtani?“ – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Nichts ist dunkler, nichts ist schlimmer als die Erfahrung, nicht nur von allen Menschen, sondern auch von Gott verlassen zu sein. „Warum?“, schrie Jesus. Oder eigentlich, wenn man das Wort „lama“ genau übersetzt: „Wozu, zu welchem Zweck?“

Ja, wozu hat Gott seinen eigenen Sohn im Stich gelassen? Zu welchem Zweck hat er ihm diese schwärzeste aller Finsternisse zugemutet? Da gibt es nur eine Antwort, eine ganz einfache und klare Antwort: Damit uns diese Finsternis erspart bleibt. Damit wir nie erleben müssen, was es heißt, von Gott verlassen zu sein. Damit wir nicht in Hölle kommen. Es mögen noch so dunkle Stunden der Schuld und des schlechten Gewissens über uns kommen, aber wir werden dann immer einen Vater haben, dem wir diese Not bekennen können und auf dessen Vergebung wir hoffen dürfen. Es mögen noch so dunkle Stunden der Ent­täuschung über uns kommen, wir mögen von allen Menschen un­verstanden und verlassen sein, aber einer bleibt bei uns, und einer versteht uns immer noch. Es mögen noch so dunkle Stunden der Angst und Schmerzen über uns kommen, ja sogar Todesangst und Todes­schmerzen, aber Gott wird uns dann ganz nahe sein und uns sanft hinüber­geleiten ins Paradies. Jesus hat die schwärzeste Gott­verlassen­heit erlitten, damit wir sie niemals erleiden müssen.

Jesus wurde miss­verstanden, als er schrie: „Eli, Eli, lama asabtani?“ Einige Ohrenzeugen meinten, er ruft den längst ver­storbenen Propheten Elia um Hilfe an. Als ob andere Menschen in wirklich dunklen Stunden helfen könnten! Sie können es nicht, weder verstorbene Heilige noch lebende Helfer. Jesus wird auch heute wieder miss­verstanden. Man meint, sein ohn­mächtiger Schrei sei als Zeichen der Solidarität mit sinnlos leidenden Menschen auf­zufassen: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Aber Jesu Frage ist ja nicht un­beantwortet geblieben. Hören wir noch einmal die einfache und klare Antwort des Evan­geliums, der Botschaft vom Kreuz: Jesus hat damals ein für alle Mal die schwärzeste Finsternis der Gott­verlassen­heit auf sich genommen, damit uns diese Finsternis erspart bleibt. Damit wir nie erleben müssen, was es heißt, von Gott verlassen zu sein. Damit wir nicht in Hölle kommen. Darum sind auch unsere dunklen Stunden nicht wirklich dunkel, sondern erhellt von Gottes tröstlicher Gegenwart. Ja, allen, die Jesus vertrauen, bleibt die Hölle erspart – sowohl die Hölle der Hoffnungs­losigkeit in dieser Welt als auch die ewige Hölle nach dem Tod. Gott sei ewig Lob und Dank dafür. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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