Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Am 13. Januar dieses Jahres brachen um 22 Uhr dunkle Stunden über die Passagiere der Costa Concordia herein. Das Kreuzfahrtschiff hatte einen Unterwasserfelsen gerammt und war dabei schwer beschädigt worden. Es waren nicht nur deshalb dunkle Stunden, weil die Generatoren ausfielen und die Beleuchtung erlosch. Es waren auch im übertragenen Sinn dunkle Stunden - nämlich dunkle Stunden der Schmerzen für die Verletzten und Unterkühlten, dunkle Stunden panischer Angst der im sinkenden Rumpf Gefangenen, dunkle Stunden der Schuld eines Kapitäns, dessen Leichtsinn diese Not verursacht hatte und der dann bei der Evakuierung vor seiner Verantwortung als Kommandant floh.
Auch wenn keiner von uns bei diesem Unglück dabei war: Was dunkle Stunden sind, wissen wir alle – wenn schon nicht aus eigener Erfahrung, so doch mindestens aus den Berichten anderer. Dunkel sind die Stunden körperlicher Schmerzen, die nicht nachlassen wollen, noch dunkler die Stunden schwerer seelischer Schmerzen, etwa bei Depressionen. Dunkel sind Stunden der Trauer, wenn es dazu kommt, von einem geliebten Menschen für immer Abschied zu nehmen. Dunkel sind Stunden der Enttäuschung, wenn uns jemand sehr weh getan hat. Dunkel sind Stunden der Angst, wenn etwas auf uns zukommt, was uns bedroht – mit unabsehbaren Folgen. Dunkel sind Stunden der Schuld, wenn das schlechte Gewissen uns nicht zur Ruhe kommen lässt.
Die dunkelsten Stunden der Weltgeschichte aber waren die, als Jesus am Kreuz hing. Da breitete sich eine unerklärliche Finsternis über das Land aus von der sechsten bis zur neunten Stunde, also von zwölf Uhr mittags bis drei Uhr nachmittags, bis zur Todesstunde des Herrn. Auch diese Stunden waren im übertragenen Sinne dunkel. Es waren Stunden der Schmerzen, der Trauer und der Enttäuschung: Jesus war von seinen Jüngern enttäuscht worden, die fast alle geflohen waren, und er war von seinem Volk enttäuscht worden, das ihn verworfen hatte; das Volk aber war seinerseits von ihm enttäuscht, weil die Menschen nun nicht mehr glauben mochten, dass er der Christus ist, der von Gott versprochene Erlöser. Es waren Stunden großer Schuld: Hass und Neid hatten zu Jesu Gefangennahme geführt; die Hinrichtung ging auf ein krasses Fehlurteil zurück; Schaulustige spotteten über den hilflosen Judenkönig; und rohe Soldaten pokerten um Jesu letzte paar Habseligkeiten, noch bevor er ganz tot war. Das Dunkelste dieser Stunden aber spielte sich im Herzen unsers Herrn ab: Er musste die Erfahrung machen, wie bitter es ist, von Gott im Stich gelassen zu werden. Das ist eigentlich die große Wunde, die er sich stellvertretend für uns schlagen ließ – die bitterste Auswirkung unserer Sündenkrankheit. Diese entsetzliche Seelenfinsternis schrie er dann mit einem Mal heraus, schrie mit Worten des großen prophetischen Leidenspsalms auf hebräisch: „Eli, Eli, lama asabtani?“ – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Nichts ist dunkler, nichts ist schlimmer als die Erfahrung, nicht nur von allen Menschen, sondern auch von Gott verlassen zu sein. „Warum?“, schrie Jesus. Oder eigentlich, wenn man das Wort „lama“ genau übersetzt: „Wozu, zu welchem Zweck?“
Ja, wozu hat Gott seinen eigenen Sohn im Stich gelassen? Zu welchem Zweck hat er ihm diese schwärzeste aller Finsternisse zugemutet? Da gibt es nur eine Antwort, eine ganz einfache und klare Antwort: Damit uns diese Finsternis erspart bleibt. Damit wir nie erleben müssen, was es heißt, von Gott verlassen zu sein. Damit wir nicht in Hölle kommen. Es mögen noch so dunkle Stunden der Schuld und des schlechten Gewissens über uns kommen, aber wir werden dann immer einen Vater haben, dem wir diese Not bekennen können und auf dessen Vergebung wir hoffen dürfen. Es mögen noch so dunkle Stunden der Enttäuschung über uns kommen, wir mögen von allen Menschen unverstanden und verlassen sein, aber einer bleibt bei uns, und einer versteht uns immer noch. Es mögen noch so dunkle Stunden der Angst und Schmerzen über uns kommen, ja sogar Todesangst und Todesschmerzen, aber Gott wird uns dann ganz nahe sein und uns sanft hinübergeleiten ins Paradies. Jesus hat die schwärzeste Gottverlassenheit erlitten, damit wir sie niemals erleiden müssen.
Jesus wurde missverstanden, als er schrie: „Eli, Eli, lama asabtani?“ Einige Ohrenzeugen meinten, er ruft den längst verstorbenen Propheten Elia um Hilfe an. Als ob andere Menschen in wirklich dunklen Stunden helfen könnten! Sie können es nicht, weder verstorbene Heilige noch lebende Helfer. Jesus wird auch heute wieder missverstanden. Man meint, sein ohnmächtiger Schrei sei als Zeichen der Solidarität mit sinnlos leidenden Menschen aufzufassen: „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ Aber Jesu Frage ist ja nicht unbeantwortet geblieben. Hören wir noch einmal die einfache und klare Antwort des Evangeliums, der Botschaft vom Kreuz: Jesus hat damals ein für alle Mal die schwärzeste Finsternis der Gottverlassenheit auf sich genommen, damit uns diese Finsternis erspart bleibt. Damit wir nie erleben müssen, was es heißt, von Gott verlassen zu sein. Damit wir nicht in Hölle kommen. Darum sind auch unsere dunklen Stunden nicht wirklich dunkel, sondern erhellt von Gottes tröstlicher Gegenwart. Ja, allen, die Jesus vertrauen, bleibt die Hölle erspart – sowohl die Hölle der Hoffnungslosigkeit in dieser Welt als auch die ewige Hölle nach dem Tod. Gott sei ewig Lob und Dank dafür. Amen.
PREDIGTKASTEN |